Читать книгу Aileen - Algernon Blackwood - Страница 26

III

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Er hatte anscheinend geschlafen, lang und tief. Er setzte sich auf, streckte sich, gähnte und rieb sich die Augen. Die Sonne hatte den Himmel überquert, denn die Schatten, die er sah, zeigten nun nach Osten, und es waren lange Schatten. Offenbar hatte er mehrere Stunden geschlafen und der Abend dämmerte herauf. Er fühlte sich hungrig. In seinen beutelartigen Jackentaschen hatte er Trockenfleisch, Zucker, Streichhölzer und Tee und das kleine Kochgeschirr, das er immer bei sich trug. Er würde ein Feuer machen, Tee kochen und essen.

Aber er machte keine Anstalten, seine Absicht auszuführen. Er spürte eine Abneigung dagegen, aufzustehen, saß nur da und grübelte, grübelte … Worüber grübelte er? Er konnte es nicht genau sagen; es waren nur flüchtige Bilder, die durch sein Bewusstsein glitten. Wer war er, und wo? Dies war das Tal des Wildes, das wusste er; aber sonst war er sich über nichts sicher. Wie lange war er schon hier, und woher war er gekommen, und warum? Die Fragen verweilten nicht, bis er Antworten fand, fast so, als habe er lediglich ein automatisches Interesse an ihnen. Er fühlte sich glücklich, friedvoll, ohne Angst.

Er schaute empor und der Bann des jungfräulichen Waldes kam über ihn wie ein Zauber; nur das Rauschen des fallenden Wassers, das Murmeln und Seufzen des Windes zwischen unzähligen Zweigen durchbrach die allumfassende Stille. Am Himmel über den Wipfeln der ragenden Bäume spannte sich ein wolkenloser Abendhimmel in durchscheinendem Orange, Opal und Perlmutt. Er sah Bussarde, die träge empor stiegen. Eine scharlachfarbene Tangare huschte vorbei. Bald würden die Eulen beginnen zu rufen und die Nacht sich wie ein süßer schwarzer Schleier herabsenken und alle Dinge verbergen, unter dem Funkeln tausender und abertausender Sterne…

Sein Blick fiel auf etwas, das auf dem Boden schimmerte – ein glatter, polierter Streifen gerundeten Metalls: sein Gewehr. Er schickte sich an aufzustehen, ohne noch zu wissen, was er zu tun beabsichtigte. Beim Anblick der Waffe war etwas in ihm plötzlich lebendig geworden, dann verblasst, erloschen und wieder verschwunden.

„Ich – ich bin – „, stammelte er zu sich selbst, konnte aber nicht vollenden, was er sagen wollte. Sein Name war verschwunden. „Ich bin im Tal des Wildes“, wiederholte er anstelle dessen, was er suchte aber nicht finden konnte.

Die Tatsache, dass er sich im Tal des Wildes befand, schien das einzig sichere Wissen zu sein, das er besaß. An dem Namen haftete etwas Bekanntes und Vertrautes, aber was es war konnte er nicht festhalten. Nichtsdestotrotz stand er auf, ging ein paar Schritte vorwärts, bückte sich und hob das schimmernde Metallding auf, sein Gewehr. Er untersuchte es kurz, mit aufsteigender Furcht und Abscheu, fast einem Entsetzen, das ihn zittern ließ, dann – mit einer ruckartigen Bewegung, deren Intensität er sich nicht erklären konnte – schleuderte er das Ding weit von sich in den schäumenden Wildbach. Er sah das Aufspritzen und erblickte im selben Moment den großen Grizzlybären, der schwerfällig am Ufer entlang trottete, keine zehn Meter von ihm entfernt. Dieser hatte das Platschen auch wahrgenommen, denn er stutzte, verhielt eine Sekunde, wechselte dann die Richtung und kam auf ihn zu. Er kam ganz nahe. Sein Pelz streifte Grimwoods Körper. Er untersuchte ihn gemächlich, wie der Elch es getan hatte, schnüffelte, halb auf die schrecklichen Hinterbeine aufgerichtet und öffnete das Maul, so dass die rote Zunge und die schimmernden Zähne deutlich zu sehen waren. Dann ließ er sich wieder auf alle Viere plumpsen und stieß ein tiefes Grollen aus, indem jedoch kein Zorn schwang. Er wandte sich ab und trottete rasch zum Ufer zurück. Grimwood hatte den heißen Atem auf seinem Gesicht gespürt, aber er hatte keine Furcht empfunden. Das Ungeheuer war verwirrt, aber nicht feindselig, und es entfernte sich.

„Sie wissen nicht, was ein …“, er suchte nach dem Wort für „Mensch“, fand es aber nicht. „Es hat sie nie jemand gejagt.“

Die Worte huschten durch seinen Geist, auch wenn er sich nicht ganz sicher war, was sie bedeuteten. Sie tauchten sozusagen von selber auf; irgendwo in ihnen lag ein vertrauter Klang. Zugleich stiegen Gefühle in ihm auf, die er ähnlich empfand, obwohl auf andere Weise vertraut und natürlich; Gefühle die er einst sehr gut gekannt, aber vor langer Zeit verloren hatte.

Was waren sie? Woher kamen sie? Sie schienen so weit weg wie die Sterne und waren doch in seinem Körper, in seinem Blut und den Nerven, ein fester Bestandteil seines Fleisches. …Oh, wie lang, wie lang?

Es fiel ihm schwer zu denken; aber es fiel ihm leicht zu empfinden. Wenn er versuchte zu denken, gelang ihm das nur für kurze Zeit, dann kamen die Empfindungen und erstickten den Versuch.

Dieser riesige, scheußliche Bär – nicht ein Nerv, nicht ein Muskel hatte gezittert, als der scharfe Geruch in seine Nase gedrungen war und sein Fell sich an seinen Beinen gerieben hatte. Dennoch war er sich bewusst, dass irgendwo Gefahren lauerten, wenn auch nicht hier. Irgendwo gab es Angriffslust, Feindseligkeit und ausgeklügelte Pläne gegen ihn – wie gegen das herrliche umherschweifende Tier, das ihn beschnüffelt und geprüft hatte und dann zufrieden seiner Wege gegangen war. Aber – nicht hier. Hier war er sicher, geborgen und in Frieden; hier war er glücklich; hier konnte er frei umherschweifen, ohne ängstliche Blicke in die Tiefen des Waldes, ohne ständig die Ohren nach verdächtigen Lauten zu spitzen, ohne nach verdächtigen Gerüchen zu schnüffeln. Er fühlte es, ohne es zu denken. Er fühlte sich auch hungrig und durstig.

Etwas in ihm drängte ihn schließlich zum Handeln. Das Kochgeschirr lag neben seinen Füßen und er hob es auf. Die Streichhölzer – sie steckten in einer Büchse, deren Schraubdeckel sie vor Feuchtigkeit schützte – waren schon in seiner Hand. Er sammelte einige trockene Zweige und bückte sich, um sie anzuzünden. Plötzlich zuckte er zurück – zum ersten Mal empfand er Furcht.

Feuer! Was war Feuer? Der Gedanke erschien ihm abstoßend, es war unmöglich, er fürchtete sich vor Feuer. Er schleuderte die Metalldose dem Gewehr hinterher, sah sie in den letzten Strahlen des Sonnenuntergangs aufblinken und mit leisem Platschen im Wasser versinken. Als er auf sein Kochgeschirr blickte, begriff er, dass er keinen Gebrauch davon machen konnte, ebenso wenig wie von dem trockenen braunen Zeug, das er in Wasser hatte kochen wollen. Er fühlte keinen Widerwillen, schon gar keine Furcht bei dem Gedanken an diese Dinge. Er konnte sie nur nicht benutzen, er brauchte sie nicht und hatte vergessen, ja vergessen, was sie eigentlich bedeuteten. Diese eigenartige Vergesslichkeit ergriff immer schneller von ihm Besitz, wurde umfassender mit jeder Minute. Doch der Durst musste gelöscht werden.

Im nächsten Moment fand er sich am Bachufer wieder. Er bückte sich, um sein Kochgeschirr zu füllen, hielt inne, zögerte, musterte das strömende Wasser und ging unvermittelt einige Schritte bachaufwärts. Das Kochgeschirr ließ er zurück. Er war ungeschickt damit umgegangen, mit linkischen, ja unnatürlichen Handbewegungen. Jetzt warf er sich auf mühelose, einfache Art zu Boden, senkte den Kopf zu einer ruhigen Stelle im Wasser und trank von der kühlen, erfrischenden Flüssigkeit. Aber, auch wenn er das nicht bemerkte, er trank nicht – er leckte.

Er blieb hocken wo er war und aß das Fleisch und den Zucker aus seinen Taschen, leckte noch etwas Wasser und bewegte sich ohne sich aufzurichten ein Stück zurück, auf den trockenen Boden unter den Bäumen. Dort rollte er sich zu einer bequemen Position und schloss die Augen um zu schlafen. Nicht eine einzige Frage erhob sich jetzt noch in ihm. Er fühlte nur Behagen und Zufriedenheit.

*

Er regte sich, schüttelte sich, öffnete ein Auge halb und sah – was er bereits im Schlaf gefühlt hatte – dass er nicht allein war. Auf den parkartigen Flächen vor ihm, wie auch in den Schatten des Waldrandes hinter ihm waren Bewegung und Geräusche, Geräusche von schleichenden Füßen und die Bewegung zahlloser dunkler Körper. Das Schreiten und Stampfen von Tieren, das Dahinziehen dunkler Rücken, geschmeidiger Wesen in endlosem Strom. Auf diese Masse fiel das Licht des Halbmondes der hoch am wolkenlosen Himmel stand. Das Schimmern der Sterne, die in der klaren Nachtluft wie Diamanten funkelten, spiegelte sich in hunderten von Augen, die meisten von ihnen nur ein paar Fuß über dem Boden. Das ganze Tal war lebendig.

Er setzte sich auf und starrte, starrte – doch er starrte in Verwunderung, nicht in Furcht, obwohl einige aus der großen Masse ihm so nahe kamen, dass er nur den Arm hätte ausstrecken müssen, um sie zu berühren. Er blickte gebannt auf ein rastloses Gewimmel im fahlen Licht des Mondes und der Sterne, das nun in der aufkommenden Morgendämmerung verblasste. Und der Geruch des Waldes selbst erschien ihm keineswegs lieblicher als der vermischte Duft, roh, scharf und stechend, dieser pelzigen Masse von herrlichen wilden Tieren, die sich wie ein Meer bewegten. Myriaden von Füßen und Körpern, die in stetigem Auf und Ab vorbeizogen. Auch war das Leuchten der phosphoreszierenden Augen nicht weniger angenehm als jene freundlichen Lampen, die verirrte Wanderer zu gemütlichen Stuben und Geborgenheit leiteten. Aus der wilden Armee strömte die tiefe Behaglichkeit des ganzen Tales auf ihn über, eine Behaglichkeit, die die Freundlichkeit einer Einladung und das Willkommen einer magischen Heimkehr in sich trug.

Es waren keine Gedanken in ihm, aber seine Empfindungen schwollen zu einer Flut von Verwunderung und Zustimmung. Sein Wesen hatte nach Hause gefunden. Er fühlte eine vage, trübe Ahnung in sich, dass er nach einer langen, nutzlosen Irrfahrt in einer anderen Welt, in der widrige Bedingungen ihn gezwungen hatten, sich unnatürlich und damit schrecklich zu benehmen, dahin zurückgekehrt war, wo er hingehörte. Hier, im Tal des Wildes, hatte er Frieden, Geborgenheit und Glück gefunden. Er würde endlich er selbst sein.

Es war eine wunderbare, fast magische Szene, die er beobachtete, die Nerven aufs Höchste angespannt und doch völlig ruhig, die Sinne zu äußerster Wachsamkeit gereizt, doch es war nichts beunruhigendes in den Botschaften, die sie ihm zutrugen. Unaufhaltsam wie eine mächtige Flut und doch undeutlich wie aus unermesslich fernen Zeiten und Räumen erhob sich über ihm der Bann einer längst vergessenen Erinnerung an einen Zustand, in dem er zufrieden und glücklich war, in dem er natürlich war. Die Schemen mächtiger, archaischer Bilder tauchten vor ihm auf und verblassten wieder, bevor ihre Einzelheiten erkennbar wurden.

Er beobachtete die große Armee der Tiere, sie waren nun überall um ihn herum. Er kauerte auf den Knien im Mittelpunkt eines ruhelosen Stroms wilden Waldlebens. Große Timberwölfe liefen hin und her, kamen in langen Sätzen auf ihn zu und drehten anmutig wieder ab. Mit heraushängenden roten Zungen schwärmten sie zu hunderten umher. Zwischen ihnen trotteten die riesigen Grizzlies, nicht plump, wie ihre ungeschlachten Körper es hätten vermuten lassen, sondern leichtfüßig, geschmeidig und flink. Sie tollten herum und richteten sich manchmal halb auf, wohlgestaltet in ihrer Kraft und Masse. Und der schwarze und der braune Bär waren mit ihnen, Bären ohne Zahl, Ungeheuer und kleine Bärchen, eine prächtige Schar.

Ein Stück hinter ihnen, wo die parkartigen Flächen mehr Bewegungsspielraum ließen, erhob sich ein Meer von Hörnern und Geweihen wie ein Miniaturwald im silbernen Mondlicht.

Der gewaltige Stamm des Hirschwildes sammelte sich in riesigen Herden unter dem sternenbeschienen Himmel. Elch und Karibu, der mächtige Wapiti und der kleinere Rothirsch in dichtgedrängten Tausenden. Er hörte den Klang aneinanderschlagender Geweihe, den Tritt zahlloser Hufe, das gelegentliche Scharren am Boden, wenn die größeren Geschöpfe sich mehr Raum verschafften. Er sah einen Wolf, der behutsam die verletzte Schulter eines gr0ßen Elchbullen leckte. Und die Flut zog sich zurück, schwoll wieder an, stieg und fiel wie eine lebendige See mit Wellen in Tierform, den Bewohnern des Tals des Wildes.

Unter dem schweigenden Mondlicht wogten sie vor ihm hin und her. Sie beobachten ihn, erkannten ihn und hießen ihn willkommen.

Er bemerkte auch eine Welt kleineren Lebens, das eine Art Unterströmung bildete und zwischen den Beinen der größeren Geschöpfe hin und her wimmelte. Auch wenn er sie nicht direkt sehen konnte, ahnte er, dass sie in ungeheuren Massen die Erde bedeckten. Sie huschten hierhin und dorthin, tauchten auf und verschwanden wieder; zu emsig mit ihren eigenen Dingen beschäftigt, um ihm die gleiche Aufmerksamkeit zu schenken wie ihre größeren Genossen. Sie prallten gegen seinen Rücken, schossen an ihm vorbei, flitzten sogar über seine Beine und huschten mit dem trippelnden Geräusch rastloser kleiner Füße davon, zurück in die Masse der anderen Tiere. Auch in dieser kleinen Welt fühlte er sich zu Hause.

Er konnte nicht sagen, wie lange er so saß und schaute, glücklich mit sich selbst, geborgen, zufrieden und natürlich. Aber es war lange genug, um in ihm den Wunsch zu erwecken, sich mit dem zu vermischen, was er sah, engen Kontakt zu spüren, eins zu werden mit ihnen allen, lange genug für jenes tiefe, blinde Begehren sich anzuschließen. So begann er sich nach einiger Zeit von seinem moosigen Sitz auf sie zuzubewegen, so wie sie es taten, und nicht aufgerichtet auf zwei Beinen.

Der Mond stand jetzt tiefer und versank gerade hinter einer ragenden Zeder, deren struppige Krone sein Licht zu silbrigem Schein zerstreute. Auch die Sterne waren blasser geworden. Über den Höhen am östlichen Ende des Tals begann es rötlich zu schimmern.

Er hielt inne und schaute sich um, als er bemerkte, dass die Masse bereits ihre Reihen geöffnet hatte, und dass ein Bär sogar mit der Nase auf dem Boden scharrte, als wolle er ihm den Weg zeigen, dem er folgen solle. Plötzlich sprang ein Lux an ihm vorbei in die unteren Äste einer Hemlock-Tanne und er hob den Kopf, um dessen perfektes Gleichgewicht zu bewundern. Im selben Augenblick erblickte er die Ankunft der Vögel; die Armee der Adler, Falken und Bussarde, Raubvögel – der Weckflug, der der Morgendämmerung vorausging. Er sah die Schwärme und Formationen, die die verblassenden Sterne mit einem unglaublichen Geschwirr von Schwingen verdeckten, als sie vorüberzogen. Der Ruf einer Eule erklang gerade über ihm, wo der Luchs ohne Bösartigkeit auf seinem Ast kauerte.

Er stutzte und erhob sich in eine halb aufrechte Stellung. Er wusste nicht, warum er das tat, konnte nicht genau sagen, warum er gestutzt hatte. Aber in dem Versuch, sein neues und, wie es nun schien, ungewohntes Gleichgewicht zu finden, sank eine Hand an seiner Seite herab und berührte ein hartes gerades Ding, das sperrig aus seinen Kleidern hervor ragte. Er zog es heraus und betastete es mit den Fingern. Es war ein kleiner Stock. Er hob ihn vor seine Augen und musterte ihn im Licht der Dämmerung, das nun rasch zunahm. Er erinnerte sich, erinnerte sich undeutlich, was es war und verharrte regungslos.

„Der Totemstab“, murmelte er zu sich selbst, aber doch hörbar, und fand so die Sprache wieder. Und etwas anderes – ein schwaches Aufflackern der Erinnerung – zum ersten Mal, seit er das Tal betreten hatte.

Ein flammender Schrecken durchfuhr ihn; er richtete sich gerade auf, als ihm bewusst wurde, dass er einen Augenblick zuvor auf Händen und Knien gekrochen war. Es schien, als sei etwas in seinem Hirn zerbrochen und habe einen Schleier zerrissen, eine Sperre weggesprengt. Und die Erinnerung drängte mit schrecklicher Kraft durch die Bresche..

„Ich bin … bin Grimwood“, flüsterte sein Stimme, leiser als sein Atem. „Tooshalli hat mich verlassen. Ich bin allein …“

Er bemerkte eine Änderung im Verhalten der Tiere, die ihn umdrängten. Ein großer grauer Wolf saß einen Meter entfernt und starrte ihm ins Gesicht; neben ihm ein riesiger Grizzly, der sich von einem Fuß auf den anderen wiegte; dahinter, als ob er den beiden über die Schulter schaute, ragte ein gigantischer Wapiti auf, dessen Geweih in die Schatten der herabhängenden Zweige einer Zeder tauchte. Aber die nördliche Dämmerung war nun nah, die Sonne stand dicht unter dem Horizont. Mit scharfer Deutlichkeit konnte er nun Einzelheiten erkennen.

Der große Bär erhob sich, balancierte einen Moment auf seinem mächtigen Hinterteil und tat dann einen Schritt auf ihn zu, die Vorderpranken wie Arme ausgebreitet. Sein furchterregendes Haupt war nach vorn gestreckt, als ein mächtiger Elchbulle, das Geweih wie zum Angriff gesenkt, mit langen Schritten herbeikam und sich zu ihm gesellte. Eine plötzliche Erregung strich wie ein Schaudern durch die gesamte Menge; die weiter entfernten Reihen bewegten sich auf eine andere, unerfreuliche Art. Tausend Köpfe reckten sich, Ohren wurden gespitzt und ein Wald drohender Mäuler hob sich in den Wind.

Und der Engländer, plötzlich außer sich vor äußerstem Grauen, der keine Möglichkeit zur Flucht mehr fand, erstarrte und blieb stocksteif stehen. Die Schrecklichkeit seiner Lage hatte ihn versteinert.

Still und bewegungslos blickte er der furchtbaren Armee seiner Feinde entgegen, während das weiße Licht des anbrechenden Tages gespenstisch die Umgebung beschien, die der Schauplatz seines grausamen Todes im Tal der Tiere werden sollte.

Über ihm kauerte der abscheuliche Luchs, bereit anzugreifen, sobald er versuchte, im Baum Schutz zu suchen. Und weiter darüber bemerkte er tausend stählerne Krallen, scharf gekrümmte eiserne Schnäbel und das zornige Schlagen ungeheurer Schwingen.

Er fuhr herum, als der Grizzly ihn mit ausgestreckter Pranke berührte, der Wolf duckte sich zum tödlichen Sprung; in der nächsten Sekunde wäre er in Stücke gerissen worden, zerfetzt und verschlungen, als der Schrecken – wie immer der Natur folgend – die Muskeln seiner Kehle löste. Er schrie mit seinem, wie er glaubte, letzten Atem auf dieser Welt, rief laut in seinem Wahnsinn. Es war ein Gebet zu allen Göttern, die es geben mochte, ein gepeinigter Hilfeschrei zum Himmel.

„Ishtot! Großer Ishtot, hilf mir!“ rief seine Stimme, während seine Hand immer noch den vergessenen Totemstab umklammerte.

Und der Rote Himmel hörte ihn.

Grimwood spürte plötzlich die Gegenwart von etwas, das ihn trotz des Schreckens, in den ihn die Tiere versetzt hatten, vor Angst hätte ohnmächtig werden lassen. Ein riesiger Indianer stand vor ihm. Obwohl die Gestalt dicht vor ihm aufragte, die Vögel dazu veranlasste sich niederzulassen und die wilden Tiere sich still hinzukauern wo sie gerade standen, erhob sie sich auch wie in weiter Entfernung, denn sie schien das ganze Tal mit ihrer Ausstrahlung, ihrer Macht und unbegreiflichen Majestät auszufüllen. Auf eine Weise, die er nicht verstand, umfasste die ungeheure Erscheinung zudem das Tal selber mit all seinen Bäumen, den strömenden Wassern, den weiten Flächen und den Felsklippen. Diese bildeten gewissermaßen die Umrisse einer übermenschlichen Gestalt. Da war ein mächtiger Bogen, ein Köcher mit gewaltigen Pfeilen und die Gestalt der Rothaut, zu der sie gehörten.

Die ganze Erscheinung, das Gesicht, die Gestalt – sie waren das Tal, und als sie ihre Stimme erhob, war es das Tal selbst, das die entsetzlichen Worte sprach. Es war die Stimme der Bäume und des Windes und des fallenden Wassers welche das Echo im Tal der Tiere erweckten, während im gleichen Moment die Sonne über die Höhenrücken stieg und die Szene und die Umrisse der majestätischen Gestalt mit einer Flut blendenden Lichts übergoss:

„Du hast in meinem Tal Blut vergossen … Ich werde nicht helfen …!“ Die Gestalt verschmolz mit dem sonnenbeschienenen Wald, vermischte sich mit dem neugeborenen Tag. Aber Grimwood sah dicht vor seinem Gesicht schimmernde Zähne, stinkender Atem strich über seine Wangen und eine Kraft umschloss seinen Körper, als sei ein Berg auf ihn gestürzt. Er schloss die Augen. Er fiel nieder. Ein scharfes knackendes Geräusch fuhr durch sein Hirn, aber bereits ohnmächtig hörte er es nicht.

*

Seine Augen öffneten sich wieder und das Erste, was sie wahrnahmen war Feuer. Instinktiv zuckte er zurück.

„Schon gut, alter Junge. Wir bringen dich durch. Kein Grund zur Beunruhigung.“ Er sah Iredales Gesicht auf sich herab blicken. Hinter Iredale stand Tooshalli. Sein Gesicht war geschwollen. Grimwood erinnerte sich an den Fausthieb.

Der große Mann begann zu weinen.

„Tut noch ganz schön weh – was?“ sagte Iredale mitfühlend. „Hier, nimm noch einen Schluck davon. Das bringt dich ruck zuck wieder auf die Beine.“

Grimwood schluckte den Branntwein hinunter. Er versuchte mit aller Kraft, sich unter Kontrolle zu bringen, aber er konnte die Tränen nicht zurück halten. Er fühlte keine Schmerzen. Es war sein Herz, das schmerzte, obwohl er keine Ahnung hatte warum oder wofür.

Ich fühle mich wie zerschlagen“, murmelte er, beschämt und irgendwie doch nicht beschämt. „Bin völlig runter mit den Nerven. Was ist passiert?“ Er konnte sich an nichts erinnern.

„Ein Bär hat dich umarmt, alter Junge. Aber es ist nichts gebrochen. Tooshalli hat dich gerettet. Er hat gerade noch rechtzeitig geschossen. Ein wirklich glücklicher Schuss, denn er hätte genauso gut dich anstelle des Viehs treffen können.

„Des anderen Viehs“, flüsterte Grimwood, während der Whisky zu wirken begann und seine Erinnerung langsam zurückkehrte.

„Wo sind wir?“, fragte er schließlich und schaute sich um. Er erblickte einen See, Kanus, die am Ufer lagen, zwei Zelte und Gestalten, die sich bewegten. Iredale klärte ihn mit kurzen Worten auf und ließ ihn dann wieder schlafen.

Es stellte sich heraus, dass Tooshalli vierundzwanzig Stunden ohne Rast marschiert war, nachdem er seinen Dienstherrn verlassen und schließlich Iredales Lager erreicht hatte. Es war verlassen, da Iredale und sein Indianer sich auf der Jagd befanden. Als sie bei Einbruch der Dunkelheit zurückkehrten, hatte er auf seine wortkarge indianische Art erklärt, warum er hier war:“ Er schlug mich und ich ging fort. Er jagen jetzt allein in Ishtots Tal der Tiere. Er ist tot, glaube ich. Ich komme, um es euch zu erzählen.“

Iredale und sein Begleiter brachen, mit Tooshalli als Führer, augenblicklich auf, doch Grimwood hatte eine erstaunliche Strecke zurückgelegt, auch wenn er eine Spur hinterlassen hatte, die leicht zu verfolgen war. Es war die Fährte des Elchs und die Blutspuren, denen sie hauptsächlich folgten. Dann sahen sie ihn plötzlich vor sich – in den Tatzen eines riesigen Bären.

Es war Tooshalli, der geschossen hatte.

Der Indianer lebt nun in angenehmen Verhältnissen, für alle seine Bedürfnisse ist gesorgt, während Grimwood, sein Wohltäter und nicht mehr sein Dienstherr, die Jagd aufgegeben hat. Er ist ein ruhiger, umgänglicher, beinahe sanfter Bursche, und die Leute fragen sich gelegentlich, warum er nicht verheiratet ist. „Er wäre sicher ein guter Vater“, sagen sie. „So freundlich, liebevoll und anständig.“

Zwischen seinen Pfeifen, unter einem Glassturz auf dem Kaminsims, liegt ein Totemstab. Er versichert, dass dieser ihm seine Seele gerettet habe, aber was er damit meint hat er nie richtig erklärt.

Aileen

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