Читать книгу Aileen - Algernon Blackwood - Страница 29

II

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Im Kinderzimmer war Aileen wie gewöhnlich allein. Ich fand sie am offenen Fenster sitzend, ihr gegenüber einen leeren Stuhl. Sie starrte ihn an, starrte hinein, doch es ist nicht leicht zu beschreiben, welche Überzeugung von ihr ausging, dass da jemand auf diesem Stuhl saß und zu ihr sprach. Es war ihr Verhalten, das dies bewirkte. Sie erhob sich rasch und ein wenig erschreckt, als ich eintrat und machte eine angedeutete Geste in Richtung des Stuhls, als wolle sie jemandem die Hand geben, besann sich dann schnell und reagierte mit einem freundlichen kurzen Nicken, als würde sie jemanden verabschieden - oder entlassen. Dann wandte sie sich zu mir um. Es mag unglaublich klingen, aber der Stuhl wirkte mit einem Mal leicht verändert. Er war leer.

„Aileen, was um alles in der Welt machst du da?“

„Onkel, du weißt das doch“, erwiderte sie ohne Zögern.

„Oh, sicher! Ich weiß“, sagte ich, indem ich versuchte, mich in ihre Stimmung hineinzuversetzen, um sie später daraus befreien zu können.

„Ich mache ja genau dasselbe mit den Leuten in meinen eigenen Geschichten. Ich spreche auch mit ihnen ...“

Sie eilte an meine Seite, als ginge es um Leben und Tod.

„Aber antworten sie auch?“

Ich erkannte, wie überwältigend ernst und wichtig diese Frage für sie war. Der Schatten, den meine Cousine unten hervorgerufen hatte, war mir hier herauf gefolgt. Er berührte mich an der Schulter.

„Wenn sie nicht antworten“, sagte ich zu ihr, „sind sie nicht wirklich lebendig und die Geschichte stockt, wenn die Leute sie lesen.“

Sie schaute mich für einen Augenblick sehr genau an, als wir uns gemeinsam aus dem offenen Fenster lehnten und der schwere Duft des portugiesischen Lorbeers vom Rasen unten zu uns aufstieg. Die Nähe des Kindes erzeugte eine merklich eigenartige Stimmung, eine Stimmung, aufgeladen mit Andeutungen, mit undeutlichen Bildern, wie von Dingen, die ich einst gekannt hatte. Ich hatte dergleichen schon oft empfunden und es war mir nicht wirklich angenehm, denn die Bilder schienen in einen emotionalen Rahmen eingebunden zu sein, der sich stets meiner Analyse entzog. Auf unbestimmte Weise begriff ich, was es mit diesem Kind, das seine Mutter so ängstigte, auf sich hatte. Blitzartig überkam mich ein flüchtiges Empfinden, überaus schwierig zu fassen und doch schmerzhaft real, dass sie Momente des Leidens kannte, von denen sie eigentlich noch nichts hätte wissen dürfen. So bizarr und unvernünftig diese Vorstellung schien, war sie doch überzeugend. Und sie rief eine tiefe Zuneigung in mir hervor.

Zweifellos spürte Aileen diese Zuneigung.

„Es ist Philip, der die meiste Zeit mit mir spricht“, sagte sie schließlich aus eigenem Antrieb.

„Und immer, immer erklärt er, aber er kommt nie zum Schluss.“

„Er erklärt was, mein liebes kleines Mondkind?“, drängte ich sanft, indem ich sie bei einem Namen nannte, den sie, als sie noch kleiner war, sehr gern gehabt hatte.

„Warum er nicht rechtzeitig kommen konnte, um mich zu retten, natürlich“, sagte sie. „Weißt du, sie haben ihm beide Hände abgehauen.“

Ich werde nie das Gefühl vergessen, das diese Worte aus dem erdachten Abenteuer eines Kindes in mir hervorriefen, und auch nicht die schmerzliche Gewissheit, die sich mir aufdrängte - die Gewissheit, dass sie wahr seien und nicht bloß Teil einer erfundenen Rettung der „Prinzessin im Turm“. Eine wilde Gedankenflut schien meine Aufmerksamkeit auf meine eigenen beiden Handgelenke zu zwingen, als ob ich die Schmerzen der erwähnten Tat fühlen könne. Bevor ich es verhindern konnte, hatte ich instinktiv beide Hände in meine Jackentaschen gesteckt und so ihrem Blick entzogen.

„Und was erzählt dir Philip sonst noch?“, fragte ich sanft.

Sie errötete. Tränen stiegen ihr in die Augen und zogen sich wieder zurück, um nicht aus ihren sanftfarbenen Nestern zu fließen.

„Dass er mich so schrecklich liebt“, antwortete sie. Und dass er mich bis ganz zum Schluss geliebt hat, und dass er sein ganzes Leben, seit ich fort war und sie ihm die Hände abgehauen haben, nichts Anderes getan hat, als für mich zu beten ... am Ende der Welt, wo er sich versteckt hat ...“

Ich befreite mich mit einiger Anstrengung von der beklemmenden tragischen Stimmung und erkannte, dass ihre Einbildungskraft auf lichtere Pfade gelenkt werden musste, und dass meine Pflicht absoluten Vorrang vor meinem Interesse hatte.

„Du musst Philip dazu bringen, dir auch seine lustigen und fröhlichen Abenteuer zu erzählen“, sagte ich. „Die, die er erlebt hat, als ... weißt du ... seine Hände wieder nachgewachsen waren.“

Der Ausdruck, der nun auf ihr Gesicht trat, ließ mir buchstäblich das Blut gefrieren.

„Das sind doch nur ausgedachte Geschichten“, sagte sie eisig.

„Sie sind nie wieder nachgewachsen. Es gab keine fröhlichen oder lustigen Geschichten.“

Ich wühlte in meinen Gedanken nach einer Eingebung, wie ich ihre Erfindungskraft in zuträglichere Bahnen lenken konnte. Deutlicher als je zuvor fühlte ich, wie tief meine Zuneigung zu diesem seltsamen, vaterlosen Kind war, und dass ich meine ganze Seele dafür gegeben hätte, ihr zu helfen, und sie wieder Fröhlichkeit zu lehren. Es war wirkliche Liebe, die mich überflutete - die tiefer wurzelte, als ich begreifen konnte.

Doch bevor ich die richtigen Worte fand, fühlte ich, wie sie sich an meine Seite schmiegte und die Worte hervorbrachte, von denen ich lange Zeit in den geheimen Tiefen meiner Seele, gefürchtet hatte, dass sie sie sagen würde. Der Satz schien mein Inneres zu erschüttern. Ich erlebte einen schnell dahin rasenden Augenblick unaussprechlichen Schmerzes, der sich jeder verstandesmäßigen Erklärung entzog.

„Weißt du“, sagte sie, „es ist, weil du Philip bist.“

Und die Art, wie sie es sagte, so leise, ihre Worte irgendwie gefärbt von sanftem, von Mitgefühl aufgezehrten Hohn, doch vergoldet durch eine brennende Liebe, die ihre kleine Person ganz erfüllte - raubte mir für einen Moment die Kraft zu sprechen. Ich konnte mich nur zu ihr herab neigen, meinen Arm um sie legen und ihr einen Kuss auf den Kopf zu drücken, der mir kaum bis ans Kinn reichte. Ich schwöre, dass ich dieses Kind liebte, wie ich noch nie ein anderes menschliches Wesen geliebt hatte.

Ich erinnere mich, wie ich in einem gutgemeinten aber ungeschickten Versuch sagte: „Dann wird Philip dir all die fröhlichen Abenteuer mit seinen neuen Händen erzählen. Er ist jetzt nicht mehr traurig, sondern überglücklich, und er liebt dich doppelt so viel wie jemals zuvor.“

Ich hob sie auf und trug sie die lange Treppe hinunter in den Garten, wo wir mit den Hunden herumtollten, bis das Gesicht von Kempster oben im Fenster auftaucht und irgendetwas Dummes über Abendessen, Ins-Bett-gehen und all das zu uns herabrief. Aileen, jetzt mit gerötetem Gesicht und leuchtenden Augen, lief ins Haus. In der Tür drehte sie sich noch einmal um und zeigte mir ihr seltsames, kleines, von Lachen und Fröhlichkeit strahlendes Gesicht.

Lange Zeit ging ich Zigarre rauchend zwischen den Buchsbaumhecken des alten Gartens auf und ab. Ich dachte über das Kind, seine verschrobene Einbildungskraft, und über die bewegenden und beunruhigenden Empfindungen, die sie in mir hervorrief, nach. Ihr Gesicht schien um mich herum, durch die Schatten zu huschen. Genau genommen war sie nicht hübsch, aber ihre Erscheinung vermittelte einen eigenartigen Zauber, der eine starke Anziehungskraft auf mich ausübte.

Sie hatte einen großen Kopf, der irgendwie altmodisch wirkte, dunkle, aber nicht große Augen, die nahe beieinander standen, und einen breiten Mund, der eindeutig nicht hübsch war. Aber der Ausdruck unglücklicher, verlangender Leidenschaft, der sich manchmal über ihre sonst wenig anziehenden Züge legte, verlieh ihrer Erscheinung eine unvermittelte Schönheit, eine Schönheit der Seele, einer Seele, die Leid erfahren und den Kummer kennengelernt hatte.

Das ist zumindest die Art, wie mein eigener Geist dieses Kind sah, und somit der einzige Weg, auf dem ich hoffen kann, Anderen ein Bild von ihr zu geben. Wäre ich ein Maler, hätte ich sie vielleicht auf die Leinwand gebannt. Ein imaginäres Portrait, dem ich vielleicht den Namen Reinkarnation gegeben hätte; denn nie habe ich im Umgang mit Kindern etwas gesehen, das mich so lebhaft auf den seltsamen Gedanken brachte, eine dahingegangene Seele zu erblicken, die zurück in die Welt gekommen war - in einem neuen, jungen Körper, in neuen Kleidern.

Aber als ich nach dem Abendessen mit meiner Cousine sprach und sie mit der Versicherung tröstete, dass Aileen über eine ungewöhnlich lebhafte Einbildungskraft verfügte, die durch die Zeit und uns selbst in vernünftigere Bahnen gelenkt werden müsse - während ich ihr all das und noch mehr sagte, klangen mir immer zwei Sätze im Kopf, die das Kind gesagt hatte. Der eine, als sie mir mit gnadenloser Auffassungsgabe sagte, dass ich mir nur Geschichten ausdachte, und der andere, als sie mir mit stiller Gewissheit mitteilte, dass Philip - ich selber sei.

Aileen

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