Читать книгу Aileen - Algernon Blackwood - Страница 32
V
ОглавлениеEs war nach zehn Uhr abends und ich saß noch in der großen Halle vor dem Kaminfeuer und sprach mit gedämpfter Stimme. Meine Cousine saß mir gegenüber in einem tiefen Sessel. Wir hatten die Sache bis in alle Einzelheiten besprochen und das tiefe Unbehagen, das wir empfanden, überschattete nicht nur unsere Gemüter, sondern auch das ganze Gebäude mit Düsternis. Die Tatsache, dass keiner von uns die mögliche Unterstützung eines Arztes in Erwägung zog, sprach deutlich von dem Gefühl, das uns aufs Äußerste besorgte; ich meine das Gefühl, das aus dem lebhaften Anschein von Realität entsprang, der Allem anhaftete.
Keine bloße Fantasiegeschichte eines Kindes hätte uns in diesem Maß gefangen nehmen können, in einem Netz, das unsere Gedanken zu einem solchen Zustand der Verwirrung und Betroffenheit zusammengezogen hatte.
Es war für mich nun absolut nachvollziehbar, weshalb meine Cousine angesichts des entsetzlich überzeugenden Eindrucks, den die verhängnisvolle Not des kleinen Mädchens machte, von Hilflosigkeit überwältigt worden war. Aileen durchlebte keine Einbildung, sondern eine Realität. Dies war die Tatsache, welche die düsteren Hallen und Gänge hinter uns heimsuchte. Das ganze Gebäude war mir bereits verhasst.
Es schien bis zum Dach angefüllt mit den Erinnerungen an Wehmut und uraltes Leid, die mein Herz wie eisiger Wind umwehten.
Mit Absicht täuschte ich dennoch ein gewisses Maß an Heiterkeit vor und erwähnte meiner Cousine gegenüber mit keinem Wort, wie sehr mich gewisse Gefühle und Vorkommnisse angegriffen hatten. Ich sagte nichts davon, dass ich statt Lady Aileen Lady Helen gesagt hatte, nichts davon, dass sie mich Philip genannt hatte, nichts von dem plötzlichen Aufblitzen einiger Pseudoerinnerungen, als das Kind mich in seine Geschichte eingeschlossen hatte, und nichts davon, auf welch seltsame Weise ich diese Rolle angenommen hatte.
Ich hielt es auch nicht für klug alles zu erwähnen, was der Anblick des neuen Dieners mit seinem unheimlichen dunklen Gesicht, und die Art, wie er sich unbemerkt genähert hatte, in meinen Gedanken aufgewühlt hatte. Nichtsdestotrotz drangen diese Dinge ständig an die Oberfläche meines Bewusstseins und verrieten sich wohl zweifellos in meiner Atmosphäre, zumindest deutlich genug, dass die Intuition einer Frau sie erahnen konnte. Ich sprach nebenbei über das Zimmer, von Aileens seltsamer Abneigung dagegen und über ihre Bemerkung über das zur Wand sprechen. Befremdliche Gedanken bahnten sich unerbittlich ihren Weg in unser beider Bewusstsein. Von den Wänden der Halle starrten die ausgestopften Köpfe von Hirschen, Füchsen und Dachsen auf uns herab, als seien sie die Masken von Dingen, die unter ihrem Pelz und der toten Haut immer noch lebendig waren.
„Aber was mich noch mehr verwirrt, als all ihre anderen Einbildungen zusammengenommen“, sagte meine Cousine und blickte mich mit Augen an, die nicht den Anschein machten, dunkle Dinge zu verbergen, „ist ihre außerordentliche Kenntnis dieses Gebäudes. Ich versichere dir, George, es war das Unheimlichste, was ich je erlebt habe, als sie mich herumführte und Fragen stellte, als ob sie tatsächlich hier gelebt habe.“ Ihre Stimme sank zu einem Flüstern und sie schaute erschreckt auf. Für einen Moment hatte ich den Eindruck, etwas würde sich nähern, um zu lauschen, etwas, das sich heimlich durch die dunklen Gänge zur Halle heranschlich.
„Ich kann verstehen, dass dir das seltsam vorkam“, begann ich rasch. Aber sofort unterbrach sie mich. Offenbar verschaffte es ihr Erleichterung, diese Dinge zu sagen, sie aus ihrem Bewusstsein zu befreien, wo sie im Verborgenen immer größere Abscheulichkeiten ausbrüteten.
„George!“, schrie sie heraus. „Es gibt Grenzen für die Vorstellungskraft. Aileen weiß das. Das ist das Schreckliche ...“
Etwas stieg in meine Kehle. Meine Augen wurden feucht.
„Der Schrecken des Gürtels“, flüsterte sie, als verabscheue sie ihre eigenen Worte.
„Denk nicht daran“, sagte ich entschieden. Diese Einzelheit peinigte mich unsäglich bis an die Grenze des Erträglichen.
„Ich wollte, ich könnte das“, antwortete sie. „Aber wenn du den Ausdruck in ihrem Gesicht gesehen hättest, als sie sich dagegen wehrte, die Raserei, in die sie wegen der Lebensmittel und des Verhungerns geriet - ich meine, als Dr. Hale davon sprach - oh, wenn du das alles gesehen hättest, würdest du verstehen, dass ich ...“
Sie brach mit erneutem Erschrecken ab. Jemand hatte hinter uns die Halle betreten und stand im Eingang am entfernteren Ende. Der Lauscher war aus dem Dunkel zu uns herein gekommen. Theresa hatte, obwohl sie mit dem Rücken zu ihm saß, seine Gegenwart gespürt und sprang sofort auf.
„Sie müssen nicht länger aufbleiben, Porter“, sagte sie in einem Ton, der die fiebrige Besorgnis dahinter nur schwach verschleierte. Wir machen die Lichter selbst aus.“ Und der Mann zog sich wie ein Schatten zurück.
Sie wechselte einen raschen Blick mit mir. Die Atmosphäre der Düsternis, die mit dem Mann hereingekommen zu sein schien, war verflogen. Ich kann beim besten Willen nicht erklären, warum weder meine Cousine noch ich in den nächsten Minuten etwas zu sagen wussten. Aber ich glaube, es war ein noch größeres Rätsel, warum die Muskeln meiner Hände sich unwillkürlich mit solcher Kraft zusammenzogen, dass sich die Fingernägel in die Handflächen bohrten - und warum plötzlich der wilde Impuls durch mein Blut zuckte, mich auf den Mann zu werfen und ihm das Leben aus der Gurgel zu pressen, noch bevor er den nächsten Atemzug tun konnte. Ich habe noch nie zuvor, und auch nie wieder nachher, diesen offensichtlich grundlosen Wunsch verspürt, jemanden zu erwürgen. Ich hoffe, ich werde es auch nie wieder.
„Er hat wohl nur herumgelungert“, war alles, was meine Cousine rasch dazu sagte. „Er beobachtet uns immer ...“
Aber meine Gedanken arbeiteten fieberhaft und ich wunderte mich, wie eine solch hässliche und unheimliche Kreatur Eingang in die Geschichte gefunden hatte, in der Aileen lebte. Die Geschichte, an die ich allmählich immer mehr glaubte.
Ich fühlte mich erleichtert, als Theresa gegen Mitternacht aufstand, um schlafen zu gehen. Wir hatten uns immer im Kreis um das Rätsel der Besessenheit des Kindes und ihres Schreckens bewegt, ohne ihm dabei je ins Angesicht zu blicken. Als wir nun flüsternd dastanden und die Kerzen anzündeten, unser Bewusstsein erfüllt von der Last der Gedanken, die keiner von uns gewagt hatte auszusprechen, wich meine Cousine plötzlich gegen die Wand zurück und starrte in die Dunkelheit über uns, wo die Stufen sich im Treppenhaus verloren. Sie stieß einen Schrei aus. Für einen Moment dachte ich, sie würde zusammenbrechen und es gelang mir gerade noch rechtzeitig, die Kerze aufzufangen, die ihr aus der Hand zu fallen drohte.
Alle Gefühle der Furcht, die sie während unseres langen Gesprächs unterdrückt hatte, brachen in diesem kurzen Schrei hervor. Als ich hinaufschaute, um den Grund dafür zu entdecken, sah ich, wie eine kleine weiße Gestalt die breiten Treppenstufen herunterkam und gerade dabei war, die Halle zu betreten. Es war Aileen, barfuß; ihr langes schwarzes Haar hing zerzaust über ihrem Nachthemd. Ihre Augen waren weit geöffnet, mit einem Ausdruck qualvoller Erwartung, die sie in ihrem jungen Leben niemals hätte empfinden dürfen. Sie ging sicher, aber irgendwie nicht so, wie ein Kind gehen sollte.
„Halt“, flüsterte ich meiner Cousine befehlend zu, legte rasch meine Hand über ihren Mund und hielt sie davor zurück, ihrer Tochter zu Hilfe zu eilen. „Weck sie nicht auf. Sie schlafwandelt.“
Aileen ging wie ein weißer Schatten und kaum hörbar an uns vorbei und dann quer durch die Halle. Sie hatte keinerlei Ahnung von unserer Gegenwart. Indem sie zielstrebig und entschlossen allen Hindernissen, wie Tischen und Stühlen, auswich, tauchte die kleine Gestalt in den Schatten am anderen Ende und entzog sich unseren Blicken - hinein in die Öffnung des Ganges, der einst, vor dreihundert Jahren in den Flügel geführt hatte, wo nun auf freiem Rasen die Blutbuchen wuchsen. Offenbar kannte sie den Weg sehr gut. In dem Moment, als ich mich von meiner Überraschung erholt hatte und ihr nacheilen wollte, um irgendetwas zu tun, fand Theresa ihre Stimme wieder und schrie laut auf - ein Schrei, der die Stille der Mitternacht mit schrillem Missklang durchbrach.
„George, oh, George! Sie geht zu diesem entsetzlichen Raum ...!“
„Nimm die Kerze und komm mir nach“, erwiderte ich auf halbem Weg durch die Halle.
„Aber misch dich nicht ein, bis ich nach dir rufe.“ Dann folgte ich dem Kind mit einer Geschwindigkeit, zu der mich nur das seltsamste Wirrwarr von Gefühlen antreiben konnte, das ich je empfunden habe.
Ein Vorgefühl eines tragischen Unheils krallte sich in meine Eingeweide. Alles was ich tat, schien einer unbewussten Region meines Geistes zu entspringen, wo die quälenden Leidenschaften einer längst vergessenen Vergangenheit sich im Schlaf rührten und erwachten.
„Helen!“, schrie ich. „Lady Helen!“ Ich war jetzt dicht hinter der dahingleitenden Gestalt. Aileen wandte sich um und erblickte mich zum ersten Mal mit Augen, die zwischen Schlafen und Wachen hin und her zu schwanken schienen. Sie starrten mich über die flackernde Kerzenflamme geradewegs an und zögerten dann. Auf dieselbe Weise wurde die Bewegung ihrer kleinen Hände, die sie in meine Richtung machen wollte, abgebrochen, bevor sie sie vollenden konnte.
Sie sah mich, war sich meiner Gegenwart bewusst und wusste doch nicht, wer ich war.
Es war mir klar, dass das Kind in seinem Schlaf die Ereignisse jener Geschichte träumte, die sie in den schrecklichen Momenten ihres Wachseins durchlebte. Aber mir blieb nicht viel Zeit. Ich hatte gerade noch Zeit, Theresa anzudeuten, sie solle die Kerze auf ein Regal stellen und zu warten, als Aileen auf mich zukam. Sie streckte die Hände in Vollendung der Geste aus, die sie zuvor hatte machen wollen und fiel mit einem Schrei voll Qual und Liebe in meine Arme. Einem Schrei, der, von ihren kindlichen Lippen sicher der ergreifendste menschliche Laut war, den ich je gehört habe. Sie sah mich und erkannte mich, aber nicht als den Onkel George ihres heutigen Lebens.
„Oh, Philip!“, weinte sie. „Jetzt bist du doch noch gekommen.“
„Natürlich, mein Liebling“, flüsterte ich. „Natürlich bin ich gekommen. Hatte ich dir das nicht versprochen?“
Ihr Blick suchte mein Gesicht und fiel dann auf meine Hände, die ihre kleinen kalten Handgelenke fest umfasst hielten.
„Aber - aber“, stammelte sie, „sie sind ja nicht abgehauen. Sie haben dich wieder heil gemacht. Du wirst mich retten und befreien und wir ... wir...“
Die Empfindungen auf ihrem Gesicht verschmolzen zu einem Ausdruck schierer Verwirrung und Verblüffung und sie schien auf ihren Füßen zu schwanken. Im nächsten Moment würde sie wahrscheinlich erwachen. Sie fühlte wieder Unsicherheit und Zweifel darüber, wer ich war. Ihre Hände wehrten sich gegen den Druck meiner eigenen und sie wich einen halben Schritt zurück; in ihren Augen dämmerte das Bewusstsein der Gegenwart.
Einmal erwacht würde es die zutiefst seltsamen Leidenschaften und Geheimnisse hervor treiben, die die Korridore ihrer Gedanken und Erinnerungen heimsuchten und so düster die innersten Winkel ihres Wesens überschatteten.
Und ich begriff, dass ich sie dann verlieren würde, die Chance verlieren würde, die ganze Geschichte herauszufinden. Die Gelegenheit war einmalig. Ich hörte die Schritte meiner Cousine, die sich hinter uns auf Zehenspitzen näherte, und entschied mich, ohne zu zögern.
Der tiefe Schlaf ist dem Zustand der Trance sehr nahe und viele Experimente hatten mir bewiesen, dass der menschliche Geist im Schlaf dem Einfluss der Hypnose viel schneller unterworfen werden kann als während des Wachens.
Denn wenn Hypnose hauptsächlich bedeutet, wie es damals meine Auffassung war, einen kleinen, inaktiven Teil des Oberflächenbewusstseins, mit dem tiefen Ozean des darunterliegenden, größeren Unterbewusstseins zu verknüpfen, dann hat dieser Prozess im normalen Schlaf teilweise schon begonnen und es ist keine schwierige oder langwierige Aufgabe, ihn vollständig in Gang zu bringen. Es war Aileens hyperaktives Unterbewusstsein, da die düstere Geschichte, die ihr Leben heimsuchte, erfunden oder erinnert hatte, ihr Unterbewusstsein, auf das ich nun leicht zugreifen konnte. Indem ich ihren Schlaf noch vertiefte, konnte ich die ganze Geschichte erfahren.
Ich gab ihrer Mutter mit einer Geste zu bedeuten, dass sie nicht näherkommen sollte, und sie verstand mich. Dann unternahm ich augenblicklich die notwendigen Schritte, um den Geist dieses kleinen, schlafwandelnden Kindes wieder in jene Regionen des Unterbewusstseins zu versenken, welche sie bis hierher getrieben hatten und in denen das Potenzial für all ihre Kräfte, Erinnerungen, ihr Wissen und ihren Glauben ruhte.
Es bedurfte nur einiger simpler Prozeduren, denn sie gab rasch und bereitwillig nach. Dieser erste Blick kehrte in ihre Augen zurück, nicht länger zögernd oder unschlüssig. Mit dem Namen Philip auf den Lippen drängte sie sich enger an mich und zusammen gingen wir den langen Gang hinunter, bis wir die Tür erreichten, hinter welcher der Raum ihres grausamen Schreckens lag.
Und dort - lag es an Theresa, die uns mit der Kerze folgte und das Kind störte - denn die unterbewusste Bindung an die Mutter hat durchaus einen derartig machtvollen Einfluss, oder lag es daran, dass die eigene Furcht meine Gewalt über ihren unsteten geistigen Zustand schwächte - bemerkte ich, dass sie wieder zögerte und schwankte und mich mit Augen ansah, die zum Teil Onkel George und zum Teil den Philip sahen, an den sie sich erinnerte.
„Wir gehen hinein!“, sagte ich fest. „Und du wirst sehen, dass da nichts ist, wovor du dich fürchten müsstest.“
Ich öffnete die Tür und die Kerze hinter uns warf ein Dreieck aus Licht in die Dunkelheit. Es fiel auf den nackten Boden, die kahlen Wände und erreichte gerade so die hohe weiße Decke über uns. Ich stieß die Tür noch weiter auf und wir gingen Hand in Hand hinein. Aileen zitterte wie ein Blatt im Wind.
Selbst heute, wo ich dies niederschreibe, steht die Szene noch lebendig vor meinem geistigen Auge: Das kleine Mädchen in ihrem Nachthemd, das mir in diesem leeren Raum des alten Gebäudes gegenüberstand, mit all den leidenschaftlichen Gefühlen einer tragischen Geschichte in ihren Augen; ihre Mutter, die wie ein Geist im Gang draußen stand und nicht wagte hereinzukommen, die tanzenden Schatten, die die Kerze warf und die leisen Seufzer des Windes an den Außenmauern.
Ich machte einige weitere Gesten über ihrem kleinen, erröteten Gesicht und drückte meine Daumen an ihre Schläfen.
„Schlaf“, befahl ich. „Schlaf und erinnere dich!“
Mein Wille legte sich über ihren, um sie zu führen und zu beschützen. Sie versank noch tiefer in ihren Trancezustand, in dem sich die schlafwandlerische Klarsichtigkeit manifestiert und das tiefste Selbst aus seinem todesähnlichen Schlaf erwacht. Ihre Augen wurden größer und runder, erfüllt von Erinnerungen, als sie sich auf mich selbst richteten. Die Gegenwart, die vor einigen Augenblicken gedroht hatte, sie zu wecken und ihr Bewusstsein zu übernehmen, verschwamm. Sie sah mich nicht mehr als Onkel George, sondern als den treuen Freund und Liebhaber in ihrer großen Geschichte: Philip, der Mann der gekommen war, um sie zu retten.
Sie stand da, umwoben vom Dunst vergangener Tage, genau in dem Raum, in dem sie so großes Leid erfahren hatte - dem Raum, von dem aus drei Jahrhunderte zuvor ein Gang in jenen Flügel des Hauses geführt hatte, wo heute die Blutbuchen auf dem Rasen wuchsen.
Sie kam ganz dicht zu mir heran, schlang die dünnen, nackten Arme um meinen Hals und starrte mit forschenden, suchenden Augen in die meinen.
„Erinnere dich an das, was hier geschehen ist“, sagte ich energisch. „Erinnere dich und erzähle es mir.“
Ihre Brauen zogen sich leicht, wie vor Anstrengung zusammen. Sie blickte über ihre Schulter zu dem Ende des Raums, wo einst der Gang begonnen hatte und flüsterte:
„Es schmerzt etwas, aber ich - ich bin in deinen Armen, lieber Philip, und ich weiß, du wirst mich hier herausbringen ...“
„Ich halte dich fest, du bist in keiner Gefahr, meine Kleine“, antwortete ich. „Du kannst dich ohne Schmerz und Angst erinnern und darüber sprechen. Erzähl es mir.“
Die Suggestion wirkte sofort, denn ihr Gesicht klärte sich und sie entließ einen tiefen Seufzer der Erleichterung. Ich wiederholte die Handbewegungen, die ihren Trancezustand aufrechterhielten.
Dann begann sie mit einem gedämpften, silbrigen Ton zu sprechen, der mich durchbohrte wie eine Schwertklinge und mein innerstes verwundete. Ich glaubte, innerlich zu bluten. Ich hätte schwören können, dass sie von Dingen sprach, die ich so gut kannte, als hätte ich sie selbst durchlebt.
„Das war, als ich dich zum letzten Mal gesehen habe“, sagte sie. „Dies war der Raum, in den du gekommen warst, um mich zu holen, mich wegzubringen in Sicherheit und Glück, weg von - ihm.“ Es waren nicht mehr die Worte und die Stimme eines Kindes, die wir hörten. „Und hierher bist du gekommen in jener Nacht des Schnees und des Sturms. Durch dieses Fenster bist du hereingekommen.“ Sie deutete auf das schmale, zurückgesetzte Fenster hinter uns. „Kannst du den Sturm hören? Wie er heult und kreischt? Und das Donnern der Brandung unten am Strand? ... Du hattest die Pferde draußen stehen, die schnellen Pferde, die uns ans Meer bringen sollten, weg von all den Grausamkeiten. Und dann ...“ Sie zögerte und suchte nach Worten oder Erinnerungen. Ihr Gesicht verdüsterte sich vor Qual und Abscheu.
„Erzähl mir auch den Rest“, befahl ich. „Aber vergiss all deine eigene Qual.“ Und sie lächelte mit einem Ausdruck unglaublicher Sanftheit und Vertrauens zu mir auf, während ich ihre zerbrechliche Gestalt dichter an mich zog.
„Du erinnerst dich, Philip“, fuhr sie fort. „Du weißt genau, was geschah. Wie er und seine Männer dich in dem Augenblick ergriffen, als du hereinkamst. Wie du dich währtest und nach mir riefst und hörtest, wie ich antwortete ...“
„Von weit, weit draußen“, unterbrach ich sie rasch und half ihr mit einer Erinnerung, die in meinem tiefsten Herzen aufflammte und tiefe Wunden hineinzubrennen schien. „Du antwortetest vom Rasen aus!“
„Du glaubtest, es wäre der Rasen, aber weißt du, in Wirklichkeit war es dort, dort drin.“ sie zeigte auf die Seite des Raums rechts von mir. Sie zitterte entsetzlich und ihre Stimme wurde auf seltsame Art leiser, beinahe gedämpft, so als käme sie aus weiter Entfernung.
„Da drin?“, fragte ich mit einem Schaudern, das Eis und Feuer in meinem Blut vermengte.
„In der Mauer“, flüsterte sie. „Siehst du, jemand hatte uns verraten, und er wusste, dass du kommen würdest. Er mauerte mich lebendig dort drin ein und ließ nur zwei kleine Löcher für die Augen, sodass ich hinaussehen konnte. Du hast meine Stimme durch die Löcher gehört, aber nicht gewusst, wo ich war. Und dann ...“
Ihre Knie gaben nach und ich musste sie festhalten. Plötzlich blickte sie mit Qual in ihrem Blick zur entfernten Seite des Raums, in Richtung des alten Gebäudeflügels.
„Du wirst ihn nicht hereinlassen“, bat sie flehend, und in ihrer Stimme schwang die Qual des Todes. „Ich dachte, ich hätte ihn gehört. Sind das seine Schritte auf dem Gang?“ Sie lauschte ängstlich, ihre Augen versuchten die Mauern zu durchdringen und auf den Rasen zu blicken.
„Es kommt niemand, mein Herz“, sagte ich mit Überzeugung und Entschiedenheit. „Erzähle weiter. Sag mir alles.“
„Ich musste alles mit ansehen, denn ich konnte die Augen nicht schließen“, fuhr sie fort. „Um meine Taille war ein eisernes Band, das mich dort drin festhielt, ein eiserner Gürtel, aus dem ich mich niemals würde befreien können. Der Staub drang in meinen Mund und ich biss auf Stein. Meine Zunge war zerkratzt und blutete, aber bevor sie die letzten Steine setzten, um mich einzuschließen, sah ich - wie sie dir beide Hände abhackten, sodass du mich nie würdest befreien, mich nie herausholen können.“
Sie lief ohne Vorwarnung von mir weg, stürzte auf die Mauer zu, schlug mit beiden Händen dagegen und schrie laut:
„Oh, du armes, armes Ding. Ich weiß, wie schrecklich es war. Ich erinnere mich, wie ich in dir war und du mich trugst und beherbergtest - armer armer Leib! Dieses Knirschen des letzten Steins, als sie ihn gegen meinen Mund stießen, und die eiserne Klammer, die in meine Taille schnitt ... das Ersticken, der Hunger und der Durst!“
„Zu was sprichst du da drin?“, fragte ich ernst und unterdrückte meine Tränen.
„Zu dem Körper, in dem ich war, den, den er eingemauert hat - meinem Körper, meinem eigenen Körper!“
Sie flog zurück an meine Seite. Doch noch, bevor meine Cousine jenen Mutterschrei ausgestoßen hatte, der in das Unterbewusstsein des Kindes brach und ihre Erinnerung verwirrte, hatte ich mit aller Kraft meines Ichs den Befehl gegeben, die Qual zu vergessen. Nur die Wenigen, die mit den unvermittelten Gefühlsänderungen vertraut sind, die durch Suggestion während der Hypnose bewirkt werden können, werden verstehen, dass Aileen von diesem Augenblick des In-die-Wand-Sprechens mit einem Lachen in ihren Augen und auf ihren Lippen zu mir zurückkehrte. Die kleine weiße Gestalt, deren dunkles Haar wie eine Kaskade über das Nachthemd floss, rannte herbei und fiel mir in die Arme.
„Aber ich habe dich gerettet“, weinte ich. „Du warst nie richtig eingemauert. Ich habe dich herausgeholt und von ihm weggebracht, weit über das Meer, und wir waren glücklich bis an unser Ende - wie die Leute in den Märchen.“ Ich sprach diese Worte mit größter Eindringlichkeit zu ihr und sie akzeptierte sie zwangsläufig als die Wahrheit, denn sie umarmte mich und Liebe und Lachen erfüllten ihr geheimnisvolles Kindergesicht, der Schrecken verblasste und die Qual wurde fortgeschwemmt. Die Wandlung hatte sich mit kaleidoskopischer Plötzlichkeit vollzogen.
„Als haben sie dir in Wirklichkeit auch niemals deine armen, toten Hände abgehauen“, sagte sie zögernd.
„Schau doch! Wie hätten sie das tun können? Da sind sie ja!“
Und ich zeigte sie ihr zuerst und presste sie dann an ihre schmalen Wangen und zog ihren Mund zum Kuss heran. „Sie sind immer noch groß und stark genug, um dich ins Bett zu bringen und dich in einen so tiefen Schlaf zu streicheln, dass du, wenn du morgen früh aufwachst, alles über deine dunkle Geschichte mit Philip, Lady Helen, dem eisernen Gürtel, dem Verhungern, deinen grausamen alten Ehemann und alles andere vergessen haben wirst. Du wirst so glücklich und fröhlich aufwachen wie jedes andere Kind ...“
„Wenn du es sagst, dann werde ich es gewiss“, sagte sie und lächelte mich an.
Doch genau in diesem Augenblick erwachte jene Manifestation von Abscheulichkeit, die mein Experiment um ein Haar hätte fehlschlagen lassen, denn sie kam mit einer finsteren Gewalt, die drohte, all meine Suggestionen abzuschwächen und sie unwirksam zu machen. Mein neuer Befehl, alles zu vergessen, war offenbar noch nicht vollständig in ihr Ich eingedrungen. Der Bereich ihres tieferen Unterbewusstseins, der die Geschichte erzeugt hatte, hatte sich noch nicht vollständig hinter die hemmende Schwelle zurückgezogen. Daher war sie noch offen für jegliche Einzelheiten ihres früheren Leids, die sich stark genug hervordrängten. Und eine dieser Einzelheiten drängte sich hervor. Diese herannahende Abscheulichkeit war gelenkt von geradezu übermenschlicher Berechnung.
„Horch!“, schrie sie, und es war dieser flüsternde Schrei, den nur äußerster Schrecken hervorbringen kann. „Horch! Ich höre seine Schritte! Er kommt! Oh, ich hab dir doch gesagt, dass er kommt. Er kommt durch diesen Gang!“
Und sie deutete auf die andere Seite des Raums. Dann sprang sie zuerst von mir weg, als hätte etwas sie verbrannt, und floh fast augenblicklich wieder zurück in meinen Schutz. In diesen kurzen Augenblicken rannte sie in die Mitte des Raums, legte die Hand ans Ohr, um zu lauschen und beschattet dann ihre Augen, um zum anderen Ende des Raums zu spähen. Sie starrte genau auf die Stelle, an der in alten Zeiten der Gang in den nicht mehr vorhandenen Flügel geführt hatte. Das Fenster, das mein Großonkel in die Wand hatte setzen lassen, saß genau an der Stelle, wo der Gang einst begonnen hatte.
Theresa kam jetzt in den Raum geeilt und verspritzte Kerzenwachs auf dem Boden. Sie klammerte sich an meinen Arm. Wir drei standen da und lauschten, lauschten offenbar auf nichts als das Seufzen des Seewindes an den Mauern. Aileen hatte ihr Gesicht in meiner Jacke verborgen. Ich stand aufrecht und versuchte vergeblich, das neue Geräusch zu erlauschen. Ich erinnere mich, dass das Gesicht meiner Cousine kreidebleich war. Ihre Augen flatterten und die Kerze hing schief in ihrer Hand.
Dann hob sie plötzlich die Hand und deutete über meine Schulter. Ich dachte, ihr Unterkiefer würde ihr aus dem Gesicht fallen. Und sie und das Kind sprachen im selben Atemzug die beiden scharfen Sätze, die den Höhepunkt unseres abscheulichen Abenteuers in diesem stillen nächtlichen Raum über uns brachten.
Sie glichen zwei Pistolenschüssen.
„Mein Gott! Da ist ein Gesicht ... es beobachtet uns!“ Ihre Stimme klang erstickt und heiser.
Und in derselben Sekunde schrie Aileen: „Oh, oh, er hat uns gesehen! ... Er ist hier! Pass auf - er wird mich kriegen. ... versteck deine Hände, versteck deine armen Hände!“
Und indem ich mich der Stelle zuwandte, auf die meine Cousine starrte, erblickte ich nur zu deutlich, dass ein Gesicht - offenbar das Gesicht eines lebendigen Menschen - sich gegen die Fensterscheibe presste - eingerahmt von zwei Händen - und versuchte, im Halbdunkel des Raums nach uns zu spähen. Ich sah das kurze, rasche Rollen der beiden Augen, als das Licht der Kerze auf sie fiel, und erhaschte sogar einen kurzen Blick auf die hochgezogenen Schultern dahinter, als ihr Besitzer, der draußen auf dem Rasen stand, sich etwas herunterbeugte, um besser sehen zu können. Und obwohl sich die Erscheinung augenblicklich zurückzog, erkannte ich sie ohne jeden Zweifel als das düstere und gemeine Antlitz des Butlers. Das Fenster war noch immer von seinem Atem beschlagen.
Das Seltsame an der Sache war jedoch, dass Aileen, die verzweifelt versuchte, sich in den spärlichen Falten meiner Jacke zu verstecken, gar nicht gesehen haben konnte, was wie gesehen hatten, denn ihr Gesicht war die ganze Zeit vom Fenster abgewandt gewesen. Und durch die Art, wie ich sie hielt, hätte sie sich gar nicht in eine Position bringen können, um hinzuschauen. Es hatte sich alles hinter ihrem Rücken ereignet ...
Kurz drauf, sie hatte ihr Gesicht immer noch an meine Jacke gepresst, trug ich sie in meinen Armen rasch durch die Halle und die Treppe hinauf in ihr Schlafzimmer.
Mein Problem mit ihr war natürlich, dass sie, solange sie sich in dem Raum befand, zwischen Schlafen und Wachen geschwankt hatte, denn als ich sie einmal zu Bett gebracht und in tiefe Trance versetzt hatte, war ich mühelos in der Lage, auch ihre schwächsten Gedanken und Gefühle zu kontrollieren. Binnen zehn Minuten war sie friedlich eingeschlafen und ihr Gesichtchen befreit von aller Furcht und allem Schrecken. Und in ihrem Bewusstsein hallte mein gebieterischer Befehl, dass, wenn sie am nächsten Morgen erwachte, alles vergessen sein sollte. Ja, sie würde endlich vergessen - ganz und gar.
Und später, als ich mit Zorn und Abscheu im Herzen zum Zimmer des Butlers in der Bedienstetenunterkunft ging, hatte dieser natürlich eine völlig plausible Erklärung für sein Verhalten. Er erklärte, er sei gerade dabei gewesen, sich fürs Bett fertigzumachen, als unser Lärm seinen Verdacht erregt hatte. Seiner Pflicht getreu hatte er einen Kontrollgang ums Haus gemacht, um die vermuteten Einbrecher zu überraschen.
Mit einem Monatslohn in der Tasche und wahrscheinlich einem beträchtlichen Maß an Verblüffung im Herzen - denn der Mann hatte sich ja nichts Schlimmere zuschulden kommen lassen, als unabsichtlich die Einbildung eines Kindes in Schrecken zu versetzen - reiste er am folgenden Tag nach London ab. Und ein paar Stunden später fuhr ich mit Aileen und der alten Kempster auf den blauen Wogen der Nordsee dahin und brachte sie - merkwürdig genug - genau auf die Weise zurück zu Glück und Fröhlichkeit, wie ihre Einbildung sich ihre Flucht ausgemalt hatte - in der längst vergangenen Geschichte, in der sie Lady Helen war, die von ihrem grausamen Gemahl gefangen gehalten wurde, und ich Philip, ihr ergebener Liebhaber.
Nur dass diesmal ihr Glück vollkommen und für immer war. Die hypnotische Suggestion hatte die letzten Spuren quälender Erinnerungen aus ihrem Geist getilgt und ihr Gesicht war ständig umspielt von einem heiteren Lächeln. Ihr Vergnügen an der Reise und unserer Woche in Antwerpen war vollkommen ungetrübt. Sie spielte und lachte mit all dem goldenen Glanz einer ungetrübten Kindheit und ihre Einbildungskraft war gereinigt und geheilt.
Als wir zurückkamen, war ihre Mutter mit dem Haushalt bereits wieder zum ursprünglichen Familienwohnsitz gezogen, wo sie zuvor gelebt hatten. Dorthin brachte ich das Kind, und dort war es, wo meine Cousine und ich in den alten Familienchroniken forschten und die Einzelheiten der Geschichte De Lornes nachschauten, jenes sagenhaften Vorfahren, dessen Portrait in einer dunklen Ecke des Treppenhauses hing.
Dass sein Leben angefüllt war mit Bosheit und Grausamkeit, war mir immer bekannt gewesen, doch weder ich selbst noch Theresa hatten gewusst, oder uns zumindest nicht bewusst daran erinnern können, dass er zweimal geheiratet hatte, und dass seine erste Frau, Lady Helen, auf mysteriöse Weise verschwunden war. Sir Philip Lansing, ein benachbarter Ritter, dem man nachsagte, ihr Liebhaber zu sein, war kurz darauf nach Frankreich emigriert und hatte Besitz und Ländereien dem Verfall überlassen.
Aber eine andere Entdeckung, die ich machte und die ich für mich behielt, hatte mit dem Raum des Schreckens in dem alten Norfolk-Anwesen zu tun. Mit dem Vorwand einige Renovierungen vornehmen zu wollen, hatte ich die Steine entfernt. Genau an der Stelle, an der Aileen mit den Händen gegen die Ziegel geschlagen und in die Wand gesprochen hatte, legten die Arbeiter vor meinen Augen das nackte Gerippe einer Frau frei - mit einem engen eisernen Gürtel um ihre Taille an den Granit gekettet. Das Skelett einer Unglücklichen, die man lebendig eingemauert hatte und die durch die Qualen des Erstickens, Verhungerns und Verdurstens Jahrhunderte zuvor einen schrecklichen Tod gefunden hatte.