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7. Kapitel

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Sie saßen nebeneinander auf einem schmalen Bett mit einem hellgelben Überwurf. Es war eher eine Kammer als ein Zimmer, mit krummen Wänden, wenig Mobiliar und schiefem Boden. Anfangs hatte sie oft das Gefühl gehabt, seekrank zu werden. Wenn Eva am Schreibtisch saß und einen Bleistift fallen ließ, musste sie ihn vor der Zimmertür wieder einsammeln. Wenn sie ein Glas vor sich stehen hatte, sah das Wasser darin aus wie auf dem Deck eines Schiffes bei Windstärke zehn. Eva Korittke wohnte zur Untermiete bei einem Ehepaar mit Baby in Hamburg-Uhlenhorst. Kürzlich hatte sie das Glück gehabt, im Sperrmüll ein Bild mit Engeln zu finden sowie einen zerschlissenen Armlehnstuhl, den sie mit einer selbst bestickten Decke verschönert hatte. Außerdem sorgten Kerzen für ein bisschen Gemütlichkeit.

Geschirr durfte sie in der Küche der Webers ausleihen, sie musste es nur hinterher abwaschen und ordentlich zurückstellen.

Werner hatte eine Flasche Kupferberg Gold mitgebracht, eine Aluminiumdose mit belegten Broten und eine zweite mit Kuchen sowie einer Tafel Suchard-Schokolade. Er verwöhnte sie bei jedem Besuch, zeigte sich großzügig und liebevoll, und doch hätte sie es gerne anders gehabt.

»Du siehst heute wieder bezaubernd aus«, sagte er, aber sein Blick wollte nicht so recht zu seinen Worten passen. Er hob sein Glas und prostete ihr zu. Etwas schien ihm auf der Seele zu liegen. Er war ungewöhnlich still und blickte ernst und betrübt vor sich hin.

»Das sagst du nur, weil du nicht willst, dass ich weiter nachbohre.«

»Das will kein Mann«, sagte er mit unbewegtem Gesicht.

Eva stellte ihr Glas ab und schmiegte sich an ihn wie eine Katze. »Es ist doch nur, weil ich dich liebe, du abscheulicher Brummbär. Ich möchte einfach, dass du mir vertraust und mir alles erzählst.« Sie sprach rasch und ein wenig zerstreut. Zwar war sie nicht mehr so ängstlich und nervös wie zu Beginn ihrer Beziehung, aber jede Begegnung mit Werner löste dennoch starkes Herzflattern in ihr aus. Auch wenn er ihr oft Komplimente machte, konnte sie nie sicher sein, was er für sie empfand. Sie selbst war sich anfangs ihrer Gefühle nicht so sicher gewesen. Zu sehr belasteten sie lang zurückliegende Ereignisse, die ihre Jugend abrupt ausgelöscht hatten. Es war nicht allein der Krieg, der alles Zarte und Empfindsame in ihr zerstört hatte. Es war danach passiert. Fast acht Jahre war das jetzt her. Sie hatte geglaubt, sie könnte sich nie in einen Mann verlieben.

»Was soll ich dir denn erzählen? Was möchtest du hören?« Er streichelte und küsste ihr kastanienbraunes Haar, das sie kurz und gelockt trug.

Sie sah ihn mit großen, rehbraunen Augen an. »Manchmal frage ich mich, warum ich dein Zuhause noch nicht kenne, warum du mich nie zu dir einlädst. Du scheinst nicht gerade arm zu sein. Als Professor verdienst du doch sicher gut. Ich möchte so gerne einmal deine Wohnung sehen!«

»Das wirst du auch, Prinzessin. Ich möchte nichts übers Knie brechen. Das Gerede der Leute, du weißt schon.«

»Was kümmert mich das Getratsche, ich liebe dich, Werner!«

»Ich dich auch, aber im Gegensatz zu dir habe ich einen Ruf zu verlieren. Das muss nicht unbedingt sein. Wir haben doch Zeit, oder nicht?« Er fuhr mit seiner Hand ihre Taille auf und ab.

Sie starrte vor sich hin. »Ich möchte wissen, ob du eine andere hast.«

»Wie kommst du denn darauf, hm?« Er zog sie näher an sich heran und begann, ihren Halsansatz zu küssen und ihre Bluse aufzuknöpfen.

Sachte schlug sie ihm auf die Finger. »Lass das. Ich will das jetzt nicht.«

»Was willst du denn?«

»Ich will reden, nicht schmusen.«

Er spielte mit ihren Locken. »Nur reden willst du? Dein Blick sagt mir aber etwas anderes.«

Sie errötete, vermied es, ihn anzusehen. »Dann täuscht dich dein Blick.« Es war tatsächlich so. Erinnerungsfetzen aus einer dunklen Vergangenheit waren aufgetaucht. In der letzten Zeit passierte das öfter, und wenn es so war, dann hatte sie keinen Sinn für Zärtlichkeit, für Nähe.

Im Hause hörte man jetzt verschiedene Geräusche. Seltsamerweise beruhigte sie das. Die Welt draußen war laut und anstrengend, aber sie war nicht allein. Sie kam aus einer großen Familie und hasste das Gefühl von Einsamkeit. Werner war bei ihr, und das war gut. Nur heute war sie nicht in Stimmung.

In väterlichem Ton sagte er: »Man kann nicht alles haben, was man möchte. Das wirst du auch noch lernen müssen, meine Kleine.«

»Dann sag mir endlich: Gibt es nur mich?«

»Wenn ich sage, ich liebe nur dich, ist es auch so. Ich lüge dich nicht an. Eva, meine freche, kleine, reizende, anmutige Eva! Du bringst mich um den Verstand, weißt du das?«

Er näherte sich ihrem Gesicht und küsste sie hauchzart auf die Nasenspitze.

Sie seufzte, schlang die Arme um seinen Hals, küsste ihn auf die Wange, dann sanft auf den Mund, schließlich brachte sie ihn mit ihren kleinen, spitzen, schnellen Küssen dazu, den Mund zu öffnen. Seine Hände waren überall, auf ihren Hüften, ihren festen Brüsten, ihrem Hals, ihrem Gesicht. Sie biss ihn zärtlich ins Ohr, leckte ihn am Ohrläppchen und am Hals. Immer heftiger wurde sein Atem, immer schneller. Eva ließ es zu, dass er ihre Bluse aufknöpfte, die Spitzen ihres Büstenhalters küsste, ihr den Rock auszog und die Unterhose, dass er ihre Beine spreizte und seine Hose öffnete. Sie ließ sich lieben, bis sie alles um sich herum vergaß, die dunklen Wolken aus der Vergangenheit, die Probleme in Osnabrück mit Bettine, Karl und Rolf, die ständigen Auseinandersetzungen, Streitereien, Ängste und Sorgen. All das vergaß sie nun in Werners Armen. Es war gut, dass sie das konnte.

*

Conradi ließ sich den Terminkalender zeigen. Tatsächlich war für den heutigen Tag kein einziger Termin eingetragen worden. Er nahm seine Leica aus der ledernen Fototasche, legte einen frischen Agfa-Film ein und fotografierte den Körper des Toten von allen Seiten, aus allen Perspektiven. Die Einschussstelle knipste er aus nächster Nähe. Dunkles Blut war an der Stelle herausgequollen. Das Einschusszeichen war klar abzugrenzen. Vorsichtig bewegte er den Kopf des Toten. Auf der linken Seite fand sich der Ausschuss mit Ausstülpung. Die Wunde war größer auf der Austrittsseite. Die Haare waren verklebt von Blut. »Glatter Durchschuss«, murmelte er. Fritz Starnke stand unschlüssig daneben. »Sie können das gleich mit der Daktyloskopie übernehmen«, schlug Conradi vor.

Als er mit den Fotos fertig war, streute sein jüngerer Kollege mithilfe eines Einstaubpinsels großzügig Rußpulver auf und neben den Körper des Toten. Auch der Tresen und die Registrierkasse wurden damit bedacht. Überschüssiges Pulver nahm er vorsichtig mit dem Abstaubpinsel wieder ab. Neben ihm befand sich der aufgeklappte Spurensicherungskoffer mit den benötigten Utensilien.

»Was macht er da?«, wollte Bettine wissen.

»Es handelt sich um eine Fingerspurensicherung«, klärte Conradi sie auf. »Mit dem pulverisierten Kohlenstoff können wir Fingerspuren sichern und sie mit den archivierten Spuren unserer Täterkartei vergleichen.«

»Täterkartei? Glauben Sie, der Täter ist polizeibekannt?«

»Das wissen wir nicht, aber mit etwas Glück finden wir ihn schnell. Mit weniger Glück finden wir ihn langsam. Aber seien Sie versichert, wir finden ihn.« Er lächelte ihr aufmunternd zu. »Wo ist eigentlich Ihre Großmutter?«

Bettine zuckte mit den Achseln. »Wahrscheinlich bei meiner Mutter. Oder oben in ihrem Zimmer. Sie hat ihr eigenes kleines Reich unterm Dach.«

*

»Versprichst du mir das?« Karl saß am Fußende des schmalen Bettes seiner Großmutter und blickte sie flehentlich an. Wilma Müller lag im Bett, mit der glänzenden Tagessteppdecke zugedeckt, und hielt ihre kleinen abgearbeiteten Hände über der Brust gekreuzt. Das Mansardenzimmer roch nach Kölnisch Wasser und etwas streng nach Essigessenz. Damit hatte Wilma wohl gerade erst geputzt. Viel eigenes Mobiliar besaß die alte Dame nicht mehr. Über dem Sessel hing ein Bild mit einer Heidelandschaft, ein paar Schafen und einem langbärtigen Schäfer. Am anderen Ende des Zimmers gab es eine Frisierkommode mit Waschschüssel, darüber einen Spiegel mit einem Brett, auf dem sie ihre Pflegeutensilien deponiert hatte, ihre Tiegel und Cremetöpfe, ihre Flacons und ihr Zahnputzzubehör. Daneben hingen ihre rosafarbenen Handtücher mit Rosenmuster am Saum und ihr rosaroter Morgenmantel. Eine Fotogalerie schmückte die Wand über dem Bett. Wilma und ihr Mann Rudolf als Hochzeitspaar, sie im schwarzen Kleid mit weißem Schleier, er im schwarzen Anzug mit steifem Vatermörderkragen. Dann die vielen Kinderbilder, Lieselotte in verschiedenen Altersstufen, als nackter Säugling auf einem Eisbärenfell, dann mit Matrosenkleid und großer Schleife im Haar und als Konfirmandin mit schwarzem Kleid und Gesangbuch, immer fein gemacht. An der anderen Wand gab es Bilder der Enkel. Auf Gerd, den Erstgeborenen, war sie besonders stolz gewesen, denn von ihm gab es die meisten Fotos, als Baby, als fröhliches Kleinkind, als stolzes Schulkind mit glänzender Zuckertüte, als Soldat in Uniform mit ernstem Gesicht. Die gerahmten Erinnerungen wurden von Kind zu Kind weniger. Von den beiden Kleinen existierte nur ein einziges gemeinsames Bild, das sie mit einem Schaukelpferd zeigte.

»Ich war früher hier, als die anderen denken. Sie wissen es nicht, aber für alle Fälle brauche ich deine Bestätigung.«

»Ich vertraue dir, hoffe nur, dass ich nicht vor Gericht schwören muss, denn ein Meineid wird schwer bestraft.«

Er spielte mit ihrem weinroten Samtkissen, drückte und knuffte es, boxte schließlich hinein. »Eine alte Frau werden sie schon nicht ins Gefängnis stecken.«

Sie lachte. »Du bist gut, natürlich werden sie das. Da nehmen die keine Rücksicht drauf, glaub mir. Bald beginnen die Prozesse gegen die Nazis, da wird auch keiner geschont.«

»Du bist aber keine Nazi-Oma.«

»Himmel, nein, das schon gar nicht. Auch wenn ich nicht immer ein reines Gewissen habe, aber das interessiert die Polizei wahrscheinlich nicht.«

»Also, Oma, du erzählst, dass ich am Abend um kurz nach sieben todmüde von der Arbeit gekommen bin und mich sofort schlafen gelegt habe. Zu dem Zeitpunkt wusste ich nicht, dass Rolf tot ist. Ich habe nichts von dem Durcheinander mitbekommen.«

Wilma Müller schlug sich plötzlich die Hand vor den Mund. »Du warst nicht da, Karl! Du warst nicht im Bett. Du liebe Güte, wo bist du gewesen?«

»Mit den Jungs aus dem Haus noch eine rauchen.«

»Mit welchen Jungs?«

»Omi, ist doch egal. Die halten dicht, die wollen keinen Ärger.«

»Hat dich jemand außer den Jungs gesehen?«

»Nein, niemand. Wir waren im Hof hinter den Mülltonnen. Ich bin hinter dem Arzt reingekommen. Bettine hat es nicht einmal gemerkt. Die waren alle beschäftigt. Oma, du weißt, dass der Verdacht sofort auf mich fällt. Mein Verhältnis zu Rolf war sehr angespannt. Er hat mich gehasst und ich ihn. Mich würde es nicht wundern, wenn das jeder weiß, auch die Kunden.«

Wilma Müller seufzte. »Die Kleinen könnten reden, Peter und Karin, sie könnten sagen, wie es gewesen ist, dass du nicht im Bett warst, sondern später dazugekommen bist. Die beiden könnten auch sagen, dass ihr zwei wie Hund und Katz gewesen seid. So doof sind sie nicht, dass sie nichts mitbekommen haben.«

»Das werden sie nicht tun, glaube ich. Außerdem befragt die Polizei nicht so kleine Kinder. Peter kann noch nicht richtig sprechen, er plappert alles nach, was er so hört. Er ist fast noch ein Baby.«

»Aber Karin, die hat Energie für zwei. Bei ihr steht der Mund nicht still. Ich würde meine Hand nicht dafür ins Feuer legen, dass sie lügt, wenn sie von der Polizei gefragt wird.«

»Oma, mach mir keine Angst, ja? Karin ist sechs Jahre alt. Sie ist als Zeugin nicht brauchbar. Die Polizei wird sich nicht die Blöße geben, mit Knirpsen zu plaudern. Oder doch? Soll ich mal mit ihr reden, was meinst du?«

»Junge, lass das besser. Sonst wirkt sie nicht mehr glaubwürdig, sollte sie am Ende doch vernommen werden. Ein Kind verrät sich viel schneller als ein Erwachsener. So abgebrüht sind sie noch nicht.«

Er dachte nach. »Vielleicht hast du recht. Hat Mutti gesehen, dass mein Bett leer war?«

»Ich glaube nicht. Sie hatte so viel zu tun.« Sie drehte an ihren beiden Eheringen, die sie übereinander trug, seit sie ihren Mann verloren hatte. Nachdenklich blickte sie zur Zimmerdecke. »Jetzt mal im Ernst: Warum sagst du nicht einfach die Wahrheit? Lügen haben kurze Beine. Jede Unwahrheit fliegt irgendwann auf. Wenn du unschuldig bist, ist die Sache schnell erledigt.«

»Du weißt, ich hätte einen Grund gehabt, Rolf zu töten. Jeder hier weiß das.«

»Hör auf, ich will nichts mehr darüber hören.«

»Du musst nur dabei bleiben, was wir besprochen haben. Ich lag im Bett und habe gepennt wie ein Stein.«

»Kein Mensch kann auf Dauer dichthalten, irgendwann verplappert man sich. Die vom Hohenzollern wissen genau, wie du gearbeitet hast. Um 18.20 Uhr war Rolf bereits tot.«

»Eben, Oma, das sag ich ja: Ich habe kein Alibi, wenn du mir nicht hilfst.«

»Aber die werden das herausfinden, Karl! Und dann stehst du dumm da! Du machst die Sache durch die Lüge viel schlimmer! Wer weiß, in was du dich am Ende hineinreitest. Wer soll dir da noch helfen, wenn wir für dich die Unwahrheit sagen müssen?«

Karl steckte sich das Kissen hinter den Kopf und seufzte tief auf. »Im Hotel hat niemand mitbekommen, wie ich gegangen bin, glaub mir, Oma. Ich sollte eigentlich bis 19 Uhr bleiben, aber ich bin eine Stunde früher gegangen.«

»Also doch schon um sechs. Warum? Du bist in der Lehrzeit, Junge, du kannst dich nicht einfach vom Acker machen, wenn du keine Lust mehr hast.«

»Ich konnte nicht mehr, Oma, ich fühlte mich nicht so.«

»Hast du Bescheid gesagt?«

»Eben nicht. Ich habe mich einfach verdrückt.«

»Und keiner hat etwas mitbekommen?«

»In der Küche lief das Radio, und es war gerade Schichtwechsel. Da ging es drunter und drüber. Alle wollten den Anpfiff des Spiels mitbekommen. In dem Moment war ich völlig unwichtig, ehrlich.«

»Du musst dich doch irgendwo abmelden. Habt ihr keine Stechuhr?«

»Nein, das nicht. Ich habe dem Küchenchef zugerufen, dass ich gehe, und er hat nicht reagiert. Diefenthal hat mich nicht mal angesehen, die anderen auch nicht. Die waren alle aufgeregt. Die waren vollkommen irre an dem Abend.«

Verzweifelt sah sie ihn an. Am liebsten wäre sie aus dem Bett gekrabbelt, hätte sich neben ihn gesetzt und ihn in den Arm genommen wie früher, als er zu ihr gekommen war, um in ihrer Nähe Schutz zu suchen. Aber sie traute sich nicht, er fühlte sich zu groß dafür und wies sie und ihre Berührungen oft ab.

»Ist die Polizei eigentlich noch da?«

»Ich glaube schon. Bleib besser hier sitzen, bis Bettine hochkommt. Dann reden wir zu dritt in Ruhe über alles.«

»Du hilfst mir doch, Oma?« Seine Augen hatten einen kindlichen Ausdruck, besonders, wenn er sie so aufriss.

»Ich versuche es. Und ich kann nur hoffen, dass alles gut wird. Ich glaube an das Gute im Menschen, und ich glaube auch nicht, dass du irgendwas mit der Sache zu tun hast. Dafür bist du zu feinfühlig, mein Junge.«

Tod unterm Nierentisch

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