Читать книгу Tod unterm Nierentisch - Alida Leimbach - Страница 7
4. Kapitel
ОглавлениеMittwoch, 23.06.1954
Die Ladenglocke bimmelte, als der Mann die Tür aufstieß. Im Salon befanden sich nur zwei Personen, Friseur Rolf Schmalstieg und ein männlicher Kunde.
»Augenblick, ich komme gleich!«, rief Schmalstieg, ohne von seiner Arbeit aufzusehen.
»Keine Eile«, sagte der Mann und blieb hinter dem Garderobenständer stehen.
Der Kunde rauchte. Strenger Zigarrendunst waberte durch den Salon und überdeckte die parfümierten Düfte.
»Jetzt noch Kundschaft?« Die Stimme des Rauchers war etwas heiser. Er räusperte sich. »So kurz vor dem Spiel?«
Der Mann hinter dem Garderobenständer zuckte zusammen. Er kannte diese Stimme. Er kannte sie gut.
»Einen Haarschnitt werde ich noch schaffen«, sagte Schmalstieg. »Die Spiele sind im Moment so langweilig, dass ich nicht unbedingt von Anfang an dabei sein muss. Meine Frau wird mir davon erzählen. Ich hoffe nur, dass nicht gleich in den ersten paar Minuten ein Tor fällt. Dann würde ich mich vielleicht ein klein wenig ärgern.«
Der Kunde ließ ein beifälliges Grunzen ertönen.
Der Mann konnte keinen klaren Gedanken fassen. Am Garderobenhaken hingen mehrere Jacken, Mützen und Hüte, darüber ein Hinweisschild, man möge bitte auf seine Garderobe achten. Anscheinend hatten einige Kunden das so wenig getan, dass sie ihre Sachen dort vergessen hatten. Es gab alles wieder im Überfluss. Wirtschaftswunder, sie waren mittendrin. Niemand musste mehr Löwenzahn und Brennnesseln sammeln für die Suppe am Abend, Kartoffeln vom Feld organisieren oder Beeren pflücken, um Kompott daraus zu machen.
Draußen rumpelte ein Lastwagen vorbei. Eine Frau schrie mit gellender Stimme hinter einem Kind her. Es schien noch einmal gut gegangen zu sein, denn auf ihren Schrei folgten wüstes Geschimpfe und daraufhin das durchdringende Brüllen eines Kleinkindes.
»Sie wollten mir noch etwas sagen«, stellte der Raucher fest, nachdem sich die Situation draußen beruhigt hatte.
Der Mann hinter dem Garderobenständer hielt den Atem an.
»Lieber ein anderes Mal, wir sind nicht allein.« Der Friseur räusperte sich und dämpfte seine Stimme. »Vielleicht morgen früh in meinem Büro. Um 8 Uhr, da ist noch keine Kundschaft da. Wird nicht lange dauern.«
»Bitte verschonen Sie mich mit einer weiteren Hiobsbotschaft.«
»Na ja … Stellen Sie sich darauf ein, dass es kein gemütlicher Kaffeeklatsch wird.«
Für ein, zwei Minuten war nur das Schaben des Rasiermessers zu vernehmen, dann folgten trappelnde Schritte und die helle Stimme eines Kindes. »Dauert’s noch lange? Mutti will das wissen. Oben ist alles fertig. Das Spiel fängt gleich an.«
»Sag ihr, ich brauche noch etwas Zeit. Einen Herren bediene ich noch, dann mache ich zu.«
»Gut, aber wirklich bald kommen«, sagte das Kind und ging wieder.
Der Mann hinter dem Garderobenständer ballte seine Hände zu Fäusten, die sich plötzlich eiskalt und taub anfühlten, als gehörten sie nicht zu ihm. Kalt wurde sein ganzer Körper, während sein Herz hart in seiner Brust schlug. »Mutti will das wissen … Das Spiel fängt gleich an«, dröhnte es in seinen Ohren. Es ging nicht anders. Er musste es tun. Die Zeit drängte. Es gab kein Zurück mehr.
*
Lieselotte Korittke blickte betrübt aus dem Fenster. Vom Sommer keine Spur. Es war kühl, regnerisch und windig. Jagende Wolken bedeckten den Himmel, der dunkel und schwer über der Stadt lag. Nachdenklich zog sie die Gardine zu und staubte den niedrigen Nussbaumschrank ab. Äußerlich wirkte er wie eine hübsche, etwas größere Kommode, aber sein Innenleben war eine Überraschung, mit der niemand rechnete: ein nagelneuer Telefunken befand sich darin, außerdem Radio und Schallplattenspieler! Es war eine Sünde, die sie sich eigentlich nicht leisten konnten. Sie und Rolf lebten über ihre Verhältnisse. Was hatten sie sich allein in den letzten zwei Jahren alles gegönnt! Allem voran den Salon, sie hatten ihn eigenhändig modernisiert und viel Arbeit hineingesteckt. Rolf hatte den Führerschein gemacht und sich den Traum von einem fabrikneuen Volkswagen erfüllt. Die Miete für den Salon und die dazugehörige Wohnung war teuer, denn die Wohnung verfügte sogar über eine Zentralheizung und ein Badezimmer mit Badewanne und Fliesen.
Lieselottes größter Wunsch war eine moderne Einbauküche mit Kühlschrank und Elektroherd gewesen. Auch hier hatte Rolf sich großzügig gezeigt. Die neue Küche war wunderbar, denn nun hatte sie alles Wichtige auf engstem Raum zusammen und musste nicht mehr ständig hin und her laufen, um zu kochen und zu spülen. Für jeden Handgriff brauchte sie sich nur umzudrehen, eine großartige Zeitersparnis! Leichtsinnigerweise hatte sie überdies bei Neckermann eine vollautomatische Waschmaschine bestellt, die drei Wochen später, kurz vor Weihnachten, geliefert wurde. Sie hätte sich ein wenig länger gedulden sollen, weil der Schuldenberg immer größer wurde, aber ihre Nachbarin hatte schon eine gehabt und in den höchsten Tönen geschwärmt! Bei jedem Zusammentreffen mit ihr hatte sie damit angegeben. Außerdem bot Neckermann einen Ratenkauf mit niedrigen Zinsen. Wenn Lieselotte ehrlich war, war dies ihre größte Errungenschaft, noch wertvoller als die Einbauküche! Hätte sie vorher gewusst, wie viel Zeit sie damit einsparte, hätte sie alle anderen Dinge aufgeschoben, nur nicht die Waschmaschine. Keine schwieligen, roten, runzligen Hände mehr, keine Rückenschmerzen vom vielen Bücken, keine hässlichen Haare vom Dunst in der Waschküche. Lieselotte wusch nun die Kleidung der Familie öfter und regelmäßiger und schimpfte nicht mehr so viel mit den Kleinen, wenn sie ihre Sachen dreckig machten.
Auf den Fernseher hatten sie eigentlich noch zwei oder drei Jahre warten wollen, bis sie einen Großteil der Schulden abbezahlt hätten. Aber Rolf hielt sich nicht daran. Die Fußballweltmeisterschaft war sein Antrieb. Er wollte unbedingt das Endspiel sehen, nicht nur hören. Vor zwei Tagen war er zu Radio Wischott gegangen und hatte den teuersten Fernsehschrank für sage und schreibe 748 Mark gekauft. Lieselotte war außer sich, dass er sich über ihre Bedenken hinweggesetzt und sogar ihre Mutter angepumpt hatte. Die schenkte ihm trotz ihrer mageren Rente 100 Mark dafür. Das war ihr erster großer Streit gewesen. Rolf sagte, dass er ein Leben lang der Dumme gewesen sei, der nichts besessen hatte, außer einer winzigen ungeheizten Wohnung ohne Badezimmer. Die Kunden würden nun sehen, dass er es weit gebracht hatte und sich viel mehr leisten konnte als die Konkurrenz, einfach, weil er erfolgreicher war. Er freute sich auf das triumphale Gefühl, von Fernsehsendungen zu erzählen, die seine Kunden nur vom Hörensagen kannten, wenn überhaupt. Es war schön, endlich etwas zu haben, mit dem er angeben konnte.
Dieses Argument leuchtete ihr schließlich ein. Lieselotte musste zugeben, dass der Fernsehschrank auch in geschlossenem Zustand überaus apart war und sich hübsch dekorieren ließ. Nach der Politur stellte sie eine Blumenvase mit drei weißen Nelken darauf und goss den Gummibaum, dessen große Blätter ein wenig Staub angesetzt hatten. Morgen würde sie sie mit Schmierseife bearbeiten.
Bettine, die 19-jährige Tochter, und Großmutter Wilma brachten Teller und Platten mit belegten Schnittchen, russischen Eiern und Frikadellen herein und stellten Bowle- und Biergläser bereit. Aus dem Kinderzimmer am Ende des Flurs, nur durch einen dicken Vorhang vom Schlafzimmer abgetrennt, drangen helles Lachen, Quietschen und Juchzen, weil die Kleinen sich gerade ihre Schlafanzüge anzogen und vor lauter Freude darüber, dass sie ausnahmsweise einmal länger aufbleiben durften, auf den Betten herumsprangen.
Im Vogelkäfig, der an einer Stange vor dem Wohnzimmerschrank hing, zwitscherte Coco, der blaue Wellensittich. An Weihnachten war er eingezogen und forderte seitdem sein abendliches Beschäftigungsprogramm ein. Bettine gab ihm ein Salatblatt von der Garnitur ab und kraulte durch die Gitterstäbe hindurch sein Köpfchen. »Coco brav, Coco brav?«, gurrte sie und pfiff ihm etwas vor. Der Vogel antwortete mit lautem Zwitschern. Ein bisschen klang es, als wolle er die menschliche Stimme nachahmen.
»Händewaschen nicht vergessen«, mahnte Lieselotte, während sie rasch noch etwas Ordnung im Wohnzimmer machte, die »Hörzu« weglegte und die Kissen auf der Couch mit einem ordentlichen Knick in der Mitte versah.
Plötzlich hielt sie inne und fragte nach Rolf. Die sechsjährige Karin, die gerade das Zimmer betrat, zog rasch ihr Schlafanzug-Oberteil auf die richtige Seite, bevor ihre Mutter sie dafür tadelte und möglicherweise sogar ins Bett schickte. Man konnte nie wissen.
»Papa hat noch einen Kunden«, sagte die Kleine. »Ich war eben unten und wollte ihn holen. Ich soll euch sagen, es dauert noch ein bisschen.«
Lieselotte warf seufzend einen Blick auf die Wanduhr. Es war kurz vor sechs, eigentlich wollten sie längst alle zusammen auf der Couch sitzen und es sich gemütlich machen. »Einen Kunden? Er hat versprochen, pünktlich Feierabend zu machen. Und nun will er lieber arbeiten, ach, du liebe Zeit!«, sagte sie zu ihrer Mutter. »Ich verstehe ihn nicht. Willst du nicht mal nachsehen, Bettine, wie weit er ist? Karin hat schon ihren Schlafanzug an und kann sich unten so nicht zeigen.«
»Warum nicht?«, fragte die Sechsjährige, bekam aber keine Antwort.
»Gleich«, sagte Bettine, rollte die Augen und ging in die Küche, um Knabbergebäck in Schälchen zu füllen.
Lieselotte klappte den Fernsehschrank auf und drehte den oberen Knopf nach rechts, bis das erwartete Knacken ertönte. Gespannt blieb sie vor dem Apparat stehen, ob sie auch alles richtig gemacht hatte. Das schwarz-weiße Testbild wackelte und war grobkörnig. Sie zog den Apparat ein paar Zentimeter hervor und richtete die Antenne aus, stellte sie immer wieder um. Das Bild wurde klarer. Dabei blieb es aber. »Gleich sehen wir Fußball in echt«, sagte sie.
Bettine hatte an der Schwelle mitgehört. »Das glaubst auch nur du. Ich habe gehört, dass wir nicht alle Spiele sehen können, wahrscheinlich sogar nur das Endspiel. Die deutschen Spiele werden nicht gezeigt. Man kann sie nur am Radio verfolgen und später in der Wochenschau.«
Lieselotte fuhr herum. »Das kann doch nicht sein! Dann hätte Vati nicht so viel Geld ausgegeben!«
Bettine zuckte mit den Schultern und drehte sich auf dem Absatz um. »Nur am Radio, du wirst schon sehen. Und beim Endspiel sind wir sowieso nicht mehr mit dabei! Wir werden viel früher ausscheiden. Das Geld hätte er sich sparen können.«
»Freches Gör«, schimpfte Lieselotte und richtete erneut die Antenne aus.
Als Bettine mit zwei weiteren Schalen aus der Küche kam, schaltete Lieselotte gerade das Radio ein. Es kamen die 18-Uhr-Nachrichten.
Dann war es so weit. Der Sprecher Herbert Zimmermann stellte die deutsche Mannschaft vor, mit den besonderen Stärken und Schwächen der einzelnen Spieler. Auch die gegnerische Mannschaft wurde genau unter die Lupe genommen. Wortreich legte er Chancen, Risiken und Fallstricke dar. Lieselotte setzte sich kerzengerade auf einen der beiden neuen Cocktailsessel und vergaß fast zu atmen. Noch immer hoffte sie darauf, dass Herbert Zimmermann auch auf dem Bildschirm erscheinen würde, aber das war nicht der Fall. Außer dem Testbild war nichts zu sehen. Enttäuscht drehte sie den Apparat schließlich aus.
»Und?«, fragte Bettine provozierend. »Wer von uns beiden hatte nun recht?«
Lieselotte winkte ab. Herbert Zimmermann war viel interessanter, wenn auch im Radio. Leider sah es nicht gut aus: Die Deutschen würden es gegen die Türken nicht leicht haben. Sie mussten sich gewaltig ins Zeug legen, um das desaströse Spiel gegen Ungarn vom Sonntag wieder wettzumachen.
Großmutter Wilma kam zur Tür herein, nachdem sie mehrmals zwischen Küche und Wohnstube hin- und hergelaufen war. »Was sagt er? Wie sieht’s aus heute?«
»Zimmermann meint, dass eine Chance besteht, weil Sepp Herberger die wichtigsten Spieler noch geschont hätte.«
»Denn man tau«, murmelte Wilma Müller, während sie ihrer Tochter ein Glas Bowle mit frischen Erdbeeren reichte.
Dann verteilten sich alle auf die Sofas und Sessel. Die beiden Kleinen quetschten sich dazwischen und wurden regelmäßig ermahnt, still zu sein.
»Peter, noch einmal, und es geht in die Klappe!«, sagte Großmutter Wilma streng.
*
Schwungvoll stieß der Mann die Ladentür auf. Ihn konnte nichts mehr aufhalten. Mit wenigen Schritten war er bei der Verkaufstheke, hinter der Rolf Schmalstieg gerade Geld zählte. Die Scheine knisterten in seinen Händen. Es musste ein guter Tag gewesen sein. Die Blicke der beiden Männer begegneten sich.
»Geschlossen!«, sagte Schmalstieg mit frostiger Miene. »Wir haben geschlossen. Ich bin nur noch nicht dazu gekommen, abzusperren.«
»Das macht nichts«, sagte der Besucher. Seine Stimme klang selbst in seinen Ohren fremd. Er war vorhin schon mal da gewesen, nur wenige Minuten war das her. Er musste sich zwischendurch ein wenig frische Luft verschaffen. Nun war er sich sicher. Nicht mehr denken, nur noch handeln. Keine Gefühle mehr. Er war eine Maschine. Und die hatte zu funktionieren. Schnell und reibungslos.
Mit einer langsamen Bewegung tauchte er seine Hand in die Jackentasche und fühlte den geriffelten Griff der Pistole. Sein Herz klopfte. Es hatte nicht zu klopfen.
»Ich bitte Sie, zu gehen!«, sagte Rolf Schmalstieg eisig. »Und kommen Sie nicht wieder! Ich will Sie hier nicht noch einmal sehen.«
Jetzt. Na los. Es wird nicht lange dauern. Nur wenige Sekunden, dann wäre alles vorbei.
Zwei Schritte nach vorne, die Finger am Abzug.
Der Friseur öffnete seinen Mund, schwieg aber.
Die Finger fest am Metall. Die Hand, die die Pistole aus der Tasche zog. Schwer war sie. Und gefühllos, wie der ganze Mensch in diesem Augenblick. Nur das Herz klopfte. Es klopfte, als hätte es etwas zu sagen. Kurzer Wechsel in die andere Hand.
Ein Auge zu, das rechte fixierte das Ziel.
Dann fiel ein Schuss. Es gab einen dumpfen Schlag, als der leblose Körper gegen die nierenförmige Theke sackte. Sonst kein Geräusch, kein Schrei, kein Klagelaut, nichts.
Ein blutiges Rinnsal. Er konnte nicht hinsehen.
*
Lieselotte Korittke nahm eine Zigarette aus dem fächerförmigen Spender und zündete sie an. Sie trug noch immer ihre schwarzen spitzen Pumps mit den Bleistiftabsätzen und den Satinschleifen, obwohl ihre Füße schmerzten. Aber Hausschuhe tolerierte sie nur, solange sie noch im Morgenmantel war. Rolf mochte es nicht, wenn sie sich gehen ließ. Ihm gefiel es, wenn Frauen mit ihren Reizen spielten, wenn sie sich Mühe gaben mit ihrem Erscheinungsbild, wenn sie zeigten, wie wichtig ihnen der Mann war. Heute trug sie ein flaschengrünes, weit ausgeschnittenes Kleid mit auffälliger Brosche am Revers. Der Ansatz ihrer Brüste war sichtbar. Rolf gefiel das.
Inzwischen war sie beim zweiten Glas Erdbeerbowle angelangt. Die Kinder tranken auch Erdbeerbowle, allerdings ohne Alkohol.
»Langsam werde ich unruhig«, sagte sie. »Mein Gefühl sagt mir, dass etwas nicht stimmt. Wo bleibt nur Rolf? Wir haben uns solche Mühe gegeben, all die feinen Sachen hier vorbereitet.« Ihr Blick fiel auf die Teller und Schüsseln, aus denen sich vor allen Dingen die Kinder bedienten. Sie nahm einen tiefen Zug von der Zigarette und blies den Rauch langsam aus. »Ich habe dich schon vor einer halben Stunde gebeten, nach ihm zu sehen«, sagte sie und warf ihrer Tochter Bettine einen vorwurfsvollen Blick zu.
»Wenn ihn das Spiel interessieren würde, wäre er längst da, oder? Wahrscheinlich hat er Wichtigeres zu tun, Abrechnung oder so. Ich möchte nichts verpassen. Rolf ist schließlich kein kleines Kind, dem man hinterherrennen muss. Wenn er keine Lust auf das Spiel hat, ist das seine Sache.«
»Sei nicht so frech! Du bist bald wie Karl, mit dem gibt es auch nur Ärger! Und sag gefälligst Vater oder Vati und nicht Rolf, hast du verstanden? Ich bin die Einzige, die ihn beim Vornamen nennen darf!«
»Er ist nicht mein Vater.«
»Er ist es, zum Donnerwetter! Wenn du ihn ablehnst, brauchst du dich nicht zu wundern, wenn er die Kleinen bevorzugt.«
»Also gut, dann sage ich dir klipp und klar, dass es mir egal ist, ob Rolf da ist oder nicht!«
Lieselotte hob die Hand, nahm bereits Schwung zum Ausholen, senkte sie aber wieder, als sie Wilmas strengen Blick wahrnahm.
»Komm, Kind, rede dich nicht um Kopf und Kragen«, sagte die Großmutter ruhig zu Bettine, »geh doch einfach runter und sieh nach, was er macht. Ärgere deine Mutter nicht.« Wilma saß in ihrer angestammten Sofaecke und hatte wie immer Strickzeug in den Händen. So wie es aussah, sollte es ein Pullover für Peter werden, den Jüngsten. Er wuchs so schnell und wollte die kratzigen Sachen nicht anziehen, die sein großer Bruder Karl in dem Alter getragen hatte.
Bettine trollte sich beleidigt.
Der Friseursalon lag im Erdgeschoss, sie musste nur die steile Treppe hinuntergehen, die von einer winzigen Funzel ausgeleuchtet wurde. Kühl und feucht war es an dieser Stelle des Hauses, auch im Sommer, da niemals ein Sonnenstrahl ins Treppenhaus drang. Unten angekommen, schob sie den dicken grünen Samtvorhang beiseite, der den privaten von dem öffentlichen Bereich trennte.
Schon beim Betreten des Geschäftes hatte sie das Gefühl, dass etwas nicht stimmte. Der Salon war hell erleuchtet, wirkte aber wie ausgestorben. Es war vollkommen still, auch von oben drangen keine Geräusche hinunter. Selbst von der Straße, auf der es tagsüber oft dröhnte und rumorte, wenn ein Lastwagen oder ein Pferdefuhrwerk über das Kopfsteinpflaster rumpelte, hörte sie keinen Ton. Die Weltmeisterschaft fegte ganz Osnabrück leer. Jeder sah zu, die Spiele entweder im heimischen Wohnzimmer oder in einer Wirtschaft zu verfolgen.
Es roch seltsam. In die üblichen Düfte des Salons nach Seife und Haarspray mischte sich ein unangenehmer Geruch, metallisch, ekelerregend, nach Blut oder Urin oder beidem. Übelkeit stieg in ihr hoch. Als sie sich dem Kassenbereich näherte, sah sie etwas Rotes, das unter der Theke hervorquoll. Sie schlug beide Hände vor den Mund und war sekundenlang wie erstarrt.