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6. Kapitel

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In der Halbzeit klingelte das Telefon. Starnke zog eine Grimasse und stellte das Radio leiser. Albert Drescher und die Kollegen hatten sich wenige Minuten zuvor in den Feierabend verabschiedet, um das Fußballspiel am heimischen Radio weiterzuverfolgen. Auf dem Sofa war es gemütlicher, und Bier floss sicher auch in rauen Mengen.

Conradi war ebenfalls im Begriff, das Büro zu verlassen. Mit einer Kopfbewegung in Richtung Tür gab er seinem jungen Kollegen zu verstehen, dass er nicht mehr zu sprechen sei, und schnappte sich Aktentasche, Hut und Trenchcoat. Während er sich anzog, verdüsterte sich Starnkes Miene, was nichts Gutes bedeuten konnte, erst recht nicht, als er ihm mit energischem Gesichtsausdruck und der freien Hand zu verstehen gab, dass er ihn brauchte. Schließlich schob Starnke ihm das Telefon quer über den Schreibtisch zu und reichte ihm den Hörer. »Ein Toter in einem Friseursalon«, zischte der Kollege hinter vorgehaltener Hand. »Johannisstraße. Kopfschuss.«

Conradi hielt sich sein freies Ohr zu, um besser zuhören zu können. Eine junge Frau berichtete in knappen, abgehackten Sätzen, was vorgefallen war, immer wieder von heftigem Schniefen unterbrochen. Er reichte Starnke den Mithörer, eine Hörmuschel aus grauem Bakelit.

»Ich war allein«, sagte die junge Frau. »Ich wollte ihn holen, weil er nicht kam. Dann habe ich bemerkt, dass etwas nicht stimmte. Rolfs Beine schauten unter dem Tresen hervor. Ich habe mich erst gar nicht hingewagt, dann aber doch. Er blutete stark aus dem Kopf. Ich glaube, jemand hat ihn erschossen. Ich konnte kaum hinsehen.« Sie brach ab. Sekundenlang war nur ein unterdrücktes Schluchzen zu hören. Es klang wie eine Störung in der Leitung.

»Wann war das?«

»Vor einer halben Stunde etwa. Ich konnte erst nicht … Ich war wie gelähmt. Meine Großmutter meinte, ich soll den Arzt rufen.«

»Und? Was sagt der Arzt?« Johann Conradi musste die Frage wiederholen, bis sie sich so weit beruhigt hatte, dass sie wieder sprechen konnte.

»Er ist gerade weg«, antwortete sie schließlich mit erstickter Stimme. »Kam schnell, wohnt ja um die Ecke. Rolf ist tot. Er ist tot! Dr. Cordes hat einen Totenschein ausgestellt.«

»Sie hätten erst uns rufen sollen, hat Ihnen das der Doktor nicht gesagt?«

Sie verneinte.

»Ist jemand bei Ihnen?«

»Ja, meine Oma.«

»Gut. Ich bin auf dem Weg. Wo finde ich Sie?«

Bettine Korittke nannte ihm die Adresse.

»Fassen Sie bitte in der Zwischenzeit nichts an, verändern Sie nichts, und sagen Sie das auch Ihren Angehörigen. Wir machen uns auf den Weg!«

»Wir haben aber schon …«

Conradi warf den schweren Hörer auf die Gabel.

»Das Feierabendbier muss warten«, raunte Conradi seinem jungen Kollegen zu. »Kommen Sie!«

Fritz Starnke tippte sich an die Brust. »Ich auch?« Mit verstimmter Miene hängte er den Mithörer zurück.

»Aber selbstverständlich! Den Ausgang des Fußballspiels können Sie morgen der Tagespost entnehmen«, schmetterte Conradi ihm ungerührt entgegen. Insgeheim musste er schmunzeln. Es war gemein. Es war unerhört! Ein Mordfall mitten im Fußballspiel! Er wusste, dass Starnke ihm am liebsten an die Gurgel gegangen wäre. Das Radio auszuschalten war im Moment die schlimmste Strafe, die man ihm antun konnte. Der junge Mann schwieg enttäuscht. Er hatte gelernt, dass er seine persönliche Meinung und seine Gefühle zu unterdrücken hatte. Seine Ausbildung war wesentlich härter als die von Conradi vor vielen Jahren gewesen. Die Reform der Polizeiausbildung hing mit der politischen Vergangenheit zusammen. Fritz Starnke war unter dem Eindruck des Nationalsozialismus stark militärisch erzogen worden. Nach seinem Grundausbildungsjahr bei der Polizeiakademie in Osnabrück folgte die dreijährige Kasernierung bei der Bereitschaftspolizei. Dort wurden Drill und unbedingter Gehorsam gefordert. Starnke, ein sensibler Bursche, hatte sehr unter dem rauen Ton gelitten, der dort herrschte, sodass er am liebsten abgebrochen und das Fuhrunternehmen seines Vaters übernommen hätte. Sein Vater galt als vermisst, und sein Onkel, dessen Bruder, hatte sich das Unternehmen unter den Nagel gerissen.

Mit hochroten Ohren schaltete Fritz Starnke das Radio aus, löschte das Licht und trottete hinter Conradi aus dem Büro.

Draußen hatte es aufgefrischt. Die letzten Tage waren ohnehin ungewöhnlich kühl für die Jahreszeit gewesen, immer wieder hatte es geregnet und gerade fing es an zu nieseln. Schon lange hofften sie auf sommerliche Temperaturen, denn besonders abends wurde es recht ungemütlich. Aber Innentemperaturen von 15 bis 17 Grad galten als gesund und dienten der Abhärtung. So hatte es erst letzte Woche in der Zeitung gestanden. Die Bürger sollten Kohle und Briketts sparen. Die Bewohner der modernen Wohnungen mit Zentralheizung wurden aufgefordert, diese auf die unterste Stufe herunterzudrehen, um mit Erdöl nicht verschwenderisch umzugehen.

Der Fuhrpark der Polizei war übersichtlich. Hauptsächlich bestand er aus Fahrrädern und Mopeds. Ein paar Autos verloren sich im hinteren Teil, da sie nicht oft gebraucht wurden, darunter vier schwarze Volkswagen und mehrere BMW aus der Vorkriegszeit. Ein grauer Mannschaftswagen diente zum Gefangenentransport, und die beiden Opel Olympia in Mausgrau wurden lediglich von den Chefs gefahren. Überhaupt gab es nur wenige Kollegen, die einen Führerschein besaßen. Johann Conradi und Fritz Starnke waren nicht darunter.

Sie nahmen eines der Mopeds, eine NSU Max. Fritz Starnke war ein geübter Motorradfahrer, der in seiner Freizeit gerne über die Landstraßen bretterte und es sogar schon einmal bis nach Italien geschafft hatte. So wurde nicht lange diskutiert, wer fuhr und wer auf dem Sozius Platz nahm. Das Moped, schon etwas in die Jahre gekommen, knatterte gewaltig, schnaufte, ruckelte und stotterte, sobald sie zum Stehen kamen und wieder anfahren mussten.

Conradi und sein Assistent Fritz Starnke fanden die Adresse in der Johannisstraße auf Anhieb. Es dauerte eine Weile, bis die Ladentür entriegelt wurde. Eine Frau mit silberweißen Locken öffnete. Conradi wunderte sich über den ungetrübten Ausdruck in ihrem Gesicht. Fast lächelte sie zur Begrüßung. Auch trug sie kein Schwarz, sondern einen bunt geblümten Kittel, aus dem die kurzen Ärmel eines gelben Strickpullovers herausschauten.

»Haben wir miteinander telefoniert?«, fragte er und zeigte seine Polizeimarke.

»Das muss meine Enkelin gewesen sein, Bettine.«

»Und wer sind Sie?«

Ihre blassblauen Augen blitzten auf. »Wilma Müller. Warten Sie, Herr Wachtmeister, ich hole meine Enkeltochter.« Mit ihren leicht krummen Beinen durchquerte sie den Laden, verschwand hinter einem grünen Samtvorhang und rief einen Namen. Zusätzlich läutete sie mit einer Glocke.

Conradi nutzte die Gelegenheit, um sich umzusehen. Ein schicker Salon, elegant eingerichtet. Den Körper des Toten entdeckte er erst, als er sich über den Tresen beugte. Er war mit einem weißen Laken zugedeckt, das an einigen Stellen durchgeblutet war. Als Conradi hinter den Tresen ging, stach ihm der typisch süßlich-metallische Geruch nach Blut in die Nase. Ein wenig roch es auch nach Urin. »Was sagt der Arzt?«, fragte er die ältere Frau, die plötzlich wieder vor ihm stand.

»Dr. Cordes war nicht lange da. Eine kurze Untersuchung, dann war alles klar. Er hat den Totenschein ausgefüllt. Mehr war nicht zu tun. Mein Schwieger- …, also der Bekannte meiner Tochter, ist umgebracht worden. Oder hat sich selbst gerichtet, wie auch immer.«

Conradi horchte auf. »Wie kommen Sie auf Suizid? Gab es dafür Anzeichen? War er depressiv oder hat damit gedroht, sich umzubringen?«

»Zu keiner Zeit. Er war stolz auf seinen Laden, hat es in kurzer Zeit zu viel gebracht. Meiner Tochter ging es gut. Uns allen ging es hervorragend. Wir hatten keine Sorgen, mussten nicht mehr hungern und konnten uns wieder etwas leisten.«

»Nun, warum dann Suizid? Haben Sie die Tatwaffe und einen Abschiedsbrief gefunden?«

»Das nicht, aber wer schießt denn einem anderen in den Kopf? Das macht doch kein normaler Mensch.«

Conradi ging zu der Leiche und schlug die Decke zurück. Mit geübtem Auge verschaffte er sich einen ersten Überblick. »Wenn er sich das Leben genommen hätte, müsste ihm die Schusswaffe aus der Hand geglitten sein. Ich sehe hier aber keine Waffe.«

»Ich auch nicht.«

»Könnte es sein, dass Ihre Enkelin sie an sich genommen hat oder jemand anders?«

Wilma Müller schüttelte entschieden den Kopf.

Der Friseur war durch einen gezielten Kopfschuss in die rechte Schläfe zu Tode gekommen. Das Projektil war wieder ausgetreten. Es lag drei Meter entfernt links vom Toten, von Conradi aus gesehen rechts. Er hob es auf und betrachtete es lange. Dann holte er eine kleine Tüte aus der Aktentasche und steckte es ein. Der Inspektor suchte nach weiteren Einschüssen, es waren aber keine zu erkennen, auch keine Fehlversuche. Offenbar war Rolf Schmalstieg vom Täter überrascht worden, hatte sich nicht gewehrt. Wie es aussah, hatte ein einziger Schuss ausgereicht, um ihn zu töten. Ein heimtückischer Mord, auf den die Höchststrafe stand. Zudem ein Präzisionsschuss, der Täter musste Ahnung vom Schießen haben. Die Art der Tötung erinnerte an eine Hinrichtung. Wer hat den Friseur hingerichtet und warum?

»Wo haben Sie Ihren Schwiegersohn gefunden? Hier, an Ort und Stelle?«

»Er ist nicht mein Schwiegersohn. Lieselotte und er waren nicht verheiratet. Sie hätten es aber getan, wenn es möglich gewesen wäre.«

»Warum war es nicht möglich?«

»Lieselotte ist bereits verheiratet. Ihr Mann war lange … nun ja, er war lange in Gefangenschaft.«

»Und heute? Ist er wieder da?«

»Ich weiß nichts davon, da müssen Sie mit meiner Tochter sprechen.«

»Nun gut, zurück zu meiner Frage. Wurde der Tote bewegt?«

»Wir haben ihn nur ein bisschen zurückgezogen und zugedeckt. Er war an der Kasse, wollte wohl gerade die Abrechnung machen. Die Lade stand offen. Ich habe sie geschlossen.«

»Fehlt etwas?«

»Darüber könnte Ihnen vielleicht meine Enkelin Auskunft geben, die arbeitet als Friseuse mit im Geschäft.«

»Wer noch? Ich sehe hier sieben Frisierplätze. Da muss es doch weitere Mitarbeiter geben.«

»Ja, Frau Nolte. Aber die hat heute frei wegen Fußball. Rolf hat den Laden extra so groß geplant, weil er gehofft hat, irgendwann mehr Mitarbeiter einstellen zu können. Das war bisher nicht möglich. So gut hat er auch wieder nicht verdient.«

»Wo ist Ihre Tochter? Ich würde sie gerne sprechen.«

»Meine Tochter hat einen Nervenzusammenbruch erlitten. Sie liegt oben und weint. Mit Mühe habe ich sie die Treppe hochgeschafft. Der Arzt wollte nach ihr sehen, aber sie ließ ihn nicht zu sich. Sie will allein sein. Es geht ihr sehr schlecht.«

Der Kriminalkommissar nahm das Laken ab und schlug den grauen blutbeschmierten Kittel zurück, riss Schmalstiegs Hemd auseinander und bemerkte wenige zartviolette Flecken auf dem Oberkörper, die auf Druck verschiebbar waren. Die Körpertemperatur war noch mäßig warm, hatte sich aber bereits abgekühlt. Die Augen des Toten waren geschlossen, der Mund stand halb offen. Die Gesichtsfarbe war gelblich-grau, wie wächsern. Der Tote hatte sein menschliches Antlitz verloren.

»Haben Sie die Augen geschlossen?«, wollte Conradi von Wilma Müller wissen.

»Nein, das war der Arzt.«

Johann Conradi fuhr sich mit der Hand über die kurzgeschnittenen dünnen Haare. Der Haaransatz ging immer weiter zurück, was ihn ärgerte. Noch versuchte er, die kahlen Stellen mit Haarsträhnen zu verdecken, aber bald würde ihm das nicht mehr gelingen. Sein Vater hatte in seinem Alter eine Glatze gehabt. Er vermisste ihn.

Die wichtigsten Menschen in seinem Leben hatten sich innerhalb weniger Jahre verabschiedet.

»Wir müssen von einem Gewaltverbrechen ausgehen. Haben Sie einen Verdacht?«

Die zierliche alte Dame zupfte die silbernen Löckchen zurecht. Dabei baumelten ihre goldenen Ohrringe mit grünen Schmucksteinen hin und her. »So etwas macht nur ein Irrer.« Sie machte eine abwehrende Handbewegung.

Kurz darauf erschien eine junge Frau mit geröteten Augen.

»Sie sind Bettine?«, brachte sich Fritz Starnke ins Spiel.

Sie nickte.

»Bettine … und wie weiter?«

»Eigentlich Korittke. Aber ich soll Schmalstieg sagen. Die Kunden kennen mich nur so. Manche sagen aber auch Fräulein Bettine zu mir.«

»Sie wohnen hier?«

Wieder ein Nicken. Gesicht und Hals waren vom Weinen rotgefleckt, die Haare zerzaust.

»Können wir irgendwo in Ruhe reden?« Mit einem Fingerzeig machte Starnke klar, dass er damit nur sich, seinen Kollegen Conradi und Bettine meinte.

Sie ging voran, führte die Polizisten über eine steile Treppe nach oben in die Privatwohnung und dirigierte sie ins Wohnzimmer. Das Radio lief noch. Ein völlig aufgelöster Sprecher schrie mit sich überschlagender Stimme etwas von sieben Toren und einem glücklichen Tag für die deutsche Mannschaft, von einer großartigen Leistung und Erfolg auf der ganzen Linie, von der Hoffnung auf den Endsieg der Fußballweltmeisterschaft 1954. Bettine schaltete es aus. Bei einem Seitenblick auf seinen jungen Kollegen bemerkte Conradi die Enttäuschung in dessen Gesicht. Wohl zu gerne hätte er es sich vor dem Radiogerät bequem gemacht, bei den Schnittchen zugegriffen und die letzten Minuten sowie die nachfolgende Berichterstattung in allen Zügen genossen.

Bettine schloss die Zimmertür, setzte sich aufs Sofa und bot den beiden Polizisten an, auf den bonbonfarbenen Sessel Platz zu nehmen. Conradi staunte über die moderne Einrichtung. Ähnliche Sessel mit abstehenden Beinen hatte er erst kürzlich im Reklameteil der Osnabrücker Tagespost gesehen, leider nur gezeichnet und in Schwarz-Weiß. Auch das dunkelrote Sofa, die niedrige Schrankwand, der Nierentisch und die Beistelltische wirkten wie frisch aus einem Möbelgeschäft.

»Sehe ich das richtig, unten wurde ein Mensch erschossen und Sie hören hier oben in aller Ruhe Radio?«

»Nein«, sagte Bettine ruhig. »Wir haben einfach nicht wahrgenommen, dass der Apparat noch lief. Sonst hätten wir ihn ausgeschaltet.«

Conradi gab sich mit der Antwort zufrieden. »Sie sagten am Telefon, Sie seien allein gewesen, als Sie ihn fanden. In welcher Beziehung standen Sie zueinander?« Er ordnete seine feinen Haare, als er den prüfenden Blick der jungen Friseurin bemerkte. Sicher würde sie ihm für den dünner werdenden Ansatz ein Toupet empfehlen.

»Er war mein Chef. Und mein Stiefvater. Der Lebensgefährte meiner Mutter.«

»Verheiratet waren die beiden nicht?«, fragte er, obwohl er die Antwort bereits wusste. Aber er wollte ihre Reaktion zu dem Thema sehen.

»Nein, das nicht.«

»Kennen Sie Ihren leiblichen Vater?«

»Natürlich. Ich erinnere mich an einen Mann, der mich oft im Hof herumgeschleudert hat, wie in einem Karussell, das war schön. Es kann aber auch sein, dass mir das nur erzählt worden ist. Mein Vater war lange in russischer Gefangenschaft.«

»War? Ist er wieder da? Es sollen viele Männer in letzter Zeit zurückgekehrt sein.«

»Nein, er war nicht darunter. Vielleicht kommt er ja noch.«

Conradi stockte für einen Moment, ehe er fortfuhr, Fragen zu stellen. Er war sich nicht sicher, ob er die junge Frau damit überforderte. »Wie war das Familienleben mit Ihrem Stiefvater? Gab es öfter Streit?«

Die junge Friseurin überlegte. »Nun ja, das kommt in jeder Familie vor.«

»Verstehe«, sagte Conradi und wartete erst mal ab, weil er aus Erfahrung wusste, dass es oft gar nicht nötig war, direkte Fragen zu stellen.

»Es ging oft recht turbulent zu. Ich habe mich immer rausgehalten.« Erneut sah sie an Conradi vorbei auf den Tisch, als interessiere sie sich für die weißen Nelken, die in einer trichterförmigen Blumenvase steckten. Daneben stand eine Anordnung von kleinen Tellern und Schälchen mit Süßem und Salzigem.

»Sie haben sich aus jedem Streit rausgehalten?«, bohrte sein Assistent nach. »Geht das denn?«

»Meistens ja«, sagte Bettine mit rauer Stimme.

»Erinnern Sie sich an die letzte Begebenheit?«

»Ich glaube, da ging es um Karl, meinen Bruder. Meinem Stiefvater passte es nicht, dass er oft Regeln ignoriert und abends lange wegbleibt, um sich mit Freunden zu treffen. Herumtreiben und Gammeln nannte er das.«

Conradi schaltete sich wieder ein. »Wie hat Ihr Vater, also Ihr Stiefvater, dann reagiert? Hat er Karl bestraft?«

Die Wanduhr schlug mit einer kleinen Melodie zur halben Stunde. Draußen bellten Hunde.

Conradi wartete, bis wieder Ruhe eingekehrt war. »Ich sehe an Ihrer Reaktion, dass ich mit meiner Frage gar nicht so falschliege. Kann das sein? Wurde er schnell wütend, vielleicht sogar jähzornig?«

Sie senkte den Blick, ordnete mit ihren Händen ihren knielangen dunkelblauen Tellerrock, zupfte einen Fussel ab. »Nein, nicht so«, sagte sie ausweichend.

»Wie denn?«

»Ich bin hundemüde und möchte im Moment nicht reden. Es ist schlimm genug, was mit Rolf passiert ist! Da kann ich nichts Schlechtes über ihn sagen.«

Conradi tastete nach seiner Brusttasche, in der er eine Zigarettenpackung fühlte. Er hätte gerne geraucht, beherrschte sich aber. Er nickte Starnke zu, der das Ruder übernehmen sollte. Der hatte sich aber gerade einen Salzcracker in den Mund gesteckt. »Ging Ihr Vater oft außer Haus, ohne zu sagen, wohin?«, fragte der junge Kommissar kauend.

»Eigentlich nicht. Er arbeitete viel, war sehr ehrgeizig, wollte der beste Friseur in Osnabrück werden. Er hatte Träume. Sein Traum war zum Beispiel, weitere Läden zu eröffnen in den nächsten Jahren, auch in anderen Stadtteilen.« Bettines Gesichtszüge wirkten entspannter, ihre Augen klarer. Die roten Flecken verschwanden.

Fritz Starnke verschluckte sich an dem Keks und hustete einen Krümel auf den Tisch. Er murmelte eine Entschuldigung und sammelte sich kurz, bevor er zur nächsten Frage kam. »Ihre Großmutter sagte vorhin, die Ladenkasse habe offen gestanden. Fehlt etwas? Haben Sie nachgesehen?«

»Erst dachte ich ja, aber es scheint alles in Ordnung zu sein. Die Kasse stimmt, soweit ich das auf die Schnelle beurteilen konnte. Aber wenn der Typ es auf Geld abgesehen hätte, hätte er wohl alles mitgenommen.«

»Wie kam es überhaupt dazu, dass Sie Ihren Stiefvater gefunden haben?«, setzte Starnke die Befragung fort. »Was wollten Sie unten?« Er freute sich über Conradis anerkennendes Nicken.

»Meine Mutter hat mich runtergeschickt, weil mein Vater nicht kam. Erst haben wir es gar nicht bemerkt, weil wir alle so aufgeregt waren wegen des Spiels. Das war von Anfang an spannend. Meiner Mutter fiel plötzlich auf, dass Rolf noch nicht da war. Sie meinte, er wäre wohl immer noch wütend, weil die Deutschen es am letzten Sonntag so vermasselt haben. Trotzdem wunderte sie sich und machte sich plötzlich Sorgen. Erst schickte sie meine kleine Schwester runter und dann mich.« Sie räusperte sich kräftig, kurz davor, wieder zu weinen.

»Was sagte Ihre kleine Schwester?«

»Sie meinte, dass Rolf bald käme. Er hätte noch einen Kunden.«

»Erinnern Sie sich an die Uhrzeit?«, fragte Conradi und sah sie mitfühlend an.

Bettine konnte sich nicht länger beherrschen. Tränen rannen ihr über die Wange. Vor lauter Weinen konnte sie nicht sprechen, nickte nur und schluckte mehrmals hintereinander. »Ich habe so etwas noch nie erlebt, ich habe noch nie einen Toten aus direkter Nähe gesehen. Nach Bombenangriffen lagen sie manchmal auf der Straße, aber da habe ich weggeschaut, bin einfach weitergelaufen. Das mit Rolf war etwas völlig anderes! Es kam so plötzlich, so unerwartet!«

Conradi ließ ein paar Sekunden verstreichen, bevor er weitersprach. »Wie spät war es, als Sie ihn gefunden haben?«, fragte er noch einmal.

Erneut schluckte sie, hustete. »Warten Sie. Es waren schon Tore gefallen, also war es so ungefähr … Ich kann es Ihnen nicht sagen. Schauen Sie mal auf den Totenschein, da steht es doch.«

»Hier ist 18.20 Uhr vermerkt.«

»Ja, dann war es so. Dr. Cordes war etwas später da.«

»Wann genau?«

»Vielleicht um 20 vor sieben.«

»Wann war Ihre Schwester unten?«

»Die genaue Uhrzeit weiß ich nicht. Das war während der Vorberichte im Radio.«

Conradi warf ihr einen langen Blick zu und einen kurzen in Richtung seines Kollegen. Der starrte trübsinnig auf das tote Radio. »Herr Starnke«, mahnte er leicht kopfschüttelnd, da zuckte der junge Kollege zusammen und war wieder präsent.

»Sie haben den Schuss aus der Waffe nicht gehört, Fräulein Korittke?«, fuhr Conradi fort.

»Nein. Alle waren laut, weil Deutschland kurz hintereinander so viele Tore geschossen hat. Es kann sein, dass der Schuss mit dem letzten Tor zusammenfiel und im Jubel unterging. Wir hören sowieso nie Geräusche aus dem Laden. Der Lärm, der von der Straße kommt, übertönt alles. Wenn ein Laster über das Kopfsteinpflaster rumpelt, klingt das, als ob eine Granate einschlägt. Auch die Straßenbahn ist nicht gerade leise, weil der Lokführer oft direkt vor unserem Haus hupen muss.«

»Na, ich gehe mal davon aus, dass diese Geräusche, die Sie mir schildern, nicht gleichzeitig aufgetreten sind. Ist Ihnen sonst etwas aufgefallen? War er allein, als Sie nach ihm sahen?«

»Als ich Feierabend gemacht habe, ein paar Minuten nach 17 Uhr, war noch ein Kunde da.«

Conradi merkte auf. »»Kennen Sie den Kunden? Wissen Sie seinen Namen?«

Achselzucken.

»Sonst befand sich niemand im Salon?«

Bettine Korittke schien nicht verstanden zu haben, sodass Conradi die Frage wiederholte.

»Nein, niemand«, sagte die junge Frau schließlich.

»Sie wirken auf mich verunsichert. Zeigen Sie mir bitte mal den Terminkalender.«

»Für den heutigen Tag ist nichts eingetragen.«

»Sie arbeiten nicht auf Termin?«

»Nur wenn Kundinnen eine Dauerwelle oder eine neue Haarfarbe wünschen. Haarschnitte machen wir so. Dafür ist immer Zeit. Die Kunden warten gerne.«

»Ich möchte den Kalender trotzdem sehen.«

»Er ist unten im Laden.«

»Na gut. Beschreiben Sie mir bitte mal den letzten Kunden. Wie sah er aus?«

»Mittelgroß, etwas kräftig«, gab Bettine knapp zur Auskunft, um dann wieder für ein paar Sekunden in Schweigen zu verfallen.

»So wie ich?«

»Stehen Sie mal auf«, sagte sie.

Das tat er.

»Ja, so in etwa.«

»Haarfarbe? Besonderheiten?«

»Dunkle Haare, eigentlich grau, er lässt sie hier ab und zu tönen. Er hinkt.«

»Kriegsverletzung?«

Sie zuckte mit den Schultern. »Der Mann interessiert mich nicht.«

Conradis Nicken zeigte, dass er sich zunächst mit ihrer Antwort zufriedengab. »Gehen wir mal die Situation durch. Was war Ihr erster Gedanke, als Sie Rolf Schmalstieg fanden?«

»Ich habe nichts gedacht. Oder doch: Warum ausgerechnet jetzt, er hat sich doch so auf das Spiel gefreut? Wobei meine Mutter ja behauptet, er hätte sich wegen des Spiels vom Sonntag mehr geärgert als gefreut.«

»Verständlich. Wer aus Ihrer Familie ist noch da? Sie sagten vorhin, Sie hätten sich alle zusammen vor dem Radio versammelt, als es passierte. Wen können wir noch sprechen außer Ihrer Großmutter? Wer hat sich zur Tatzeit im Wohnzimmer aufgehalten?«

»Meine Mutter will nicht gestört werden.«

»Wer noch?«

»Die Kleinen waren kurz mit dabei.«

»Haben Sie noch mehr Geschwister?«

»Mein Zwillingsbruder Karl hat unsere beiden kleinen Geschwister zur Nachbarin gebracht, damit sie nichts mitbekommen.«

Conradi machte eine auffordernde Handbewegung. »Schauen Sie doch bitte nach.«

Bettine Korittke erhob sich. Im Flur rief sie mehrmals den Namen ihres Bruders. Danach kam sie mit einem bedauernden Gesichtsausdruck zurück. »Tut mir leid. Wahrscheinlich ist er noch bei der Nachbarin.«

Johann Conradi reichte ihr eine kartonierte Visitenkarte. »Er soll sich morgen früh bei uns auf der Wache melden. Die Anschrift steht auf der Karte. Unser Revier befindet sich am Markt, in der Nähe des Rathauses.«

»Ja, ich weiß.«

»Umso besser. Wer gehört außerdem zur Familie?«

»Meine Schwester Eva. Aber die wohnt nicht mehr hier. Sie studiert in Hamburg, hat ein Stipendium bekommen. Leider sehe ich sie nicht oft. Eva kommt nur alle paar Wochen nach Osnabrück, wenn überhaupt.«

Conradi notierte ihren Namen. »Ich möchte jetzt gerne noch ein paar Fotos machen. Wir brauchen das für die Beweisführung.«

Bettine wurde blass. »Welche Beweisführung?«

»Wir müssen doch den Fall aufklären, nicht wahr?«

»Wie werden Sie das machen?«, fragte sie leise.

»Zunächst einmal, indem ich mich frage, was für ein Mensch Rolf Schmalstieg gewesen ist. So könnte man dem Motiv auf die Spur kommen. Warum wurde Rolf Schmalstieg getötet? Wer wollte ihn aus dem Weg haben und aus welchem Grund? Vielleicht gibt es einen, den Sie mir im Moment nicht nennen wollen. Vielleicht gab es großen Ärger um irgendeine Sache.«

Bettine starrte ihn mit halb offenem Mund an.

Tod unterm Nierentisch

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