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1. Kapitel

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Donnerstag, 17.06.1954

Otto Korittke stellte seinen kleinen Koffer neben dem Garderobenständer ab. Er schnupperte die wohlbekannten, aber längst vergessenen Düfte nach Haarspray, Shampoo, Bartwachs und Rasierwasser. Noch ein weiterer Geruch mischte sich hinein, den er aus besseren Zeiten kannte und der ihn an seinen Großvater erinnerte: Es roch würzig-herb und sehr aromatisch nach Zigarre.

Fein war der Salon, eine andere, fremd gewordene Welt. Wie lange mochte es her sein? Jahre? Jahrzehnte? Ihm war der Bezug zu einem normalen Leben völlig abhandengekommen.

»Augenblick, ich bin gleich bei Ihnen«, rief der Friseur aus dem hinteren Teil des Salons.

»Keine Eile«, winkte Korittke ab.

Im Radio lief ein Schlager. »Es liegt was in der Luft«, sangen eine Frau und ein Mann im Duett. Leise summte er mit.

Vor der Kassentheke wies ein Reklame-Aufsteller in verschnörkelter Schrift auf das Angebot des Salons hin:

Schmalstiegs Haarpflege, erstes Spezialgeschäft für moderne Frisuren und Schönheitspflege

Haarschnitt für Damen, Herren und Kinder, elektrische Gesichtsmassage, Kopfmassage gegen Haarausfall und Schuppen, Shampooing, Haartinkturen, elektrische Trockenhaube, Ondulation. Eigene Anfertigung aller vorkommenden Haararbeiten wie Perücken, Toupets, Zöpfe, Locken. Reiche Auswahl in echt und imitiert an Schildpatt-Haarschmuck, Haarbürsten, Zahnbürsten, Parfüm, Seifen, Schminken, Puder und sonstigen Toilettenartikeln.

Hinter der Kasse hing eine gerahmte Fotografie eines schönen, aber kühl wirkenden Mannequins. Eine Weile stand er davor und versuchte, seine Lieselotte in dem Bild wiederzuerkennen.

Er fragte sich, wie Schmalstieg so schnell zu Geld gekommen war, dass er sich einen eigenen Salon leisten konnte. Lange war das mit der Währungsreform noch nicht her. Überhaupt war es erstaunlich, wie viele neue Geschäfte es plötzlich in Osnabrück gab. Sie alle waren prallgefüllt mit Waren. In den Schaufenstern präsentierte sich eine wahre Luxuswunderwelt, als hätte es den Krieg und die mageren Jahre danach nie gegeben.

»Momentchen noch«, rief wieder der Friseur. »Legen Sie schon mal ab und machen Sie es sich bequem!«

Leise pfeifend, um seine Nervosität zu überspielen, sah sich der Kunde nun genauer um. Auf einem nierenförmigen Tisch waren in fächerförmiger Anordnung Illustrierte ausgebreitet. Otto Korittke kannte die Zeitschriften alle nicht. Er kam sich vor wie ein Kind, das die Welt entdeckte.

»Quick« entzifferte er, »Bunte«, »Gong« und »Er – die Zeitschrift für den Herrn«. Das Männermagazin zeigte auf dem Titelblatt eine hübsche Dame, nur mit einem Handtuch bekleidet, die sich in den Dünen eines weißen Sandstrands sonnte. Wie schön müsste es sein, einmal das Meer zu sehen, einen Sonnenuntergang auf der Promenade zu erleben, mit Lieselotte an seiner Seite.

Der Friseur kam auf ihn zu – ein großgewachsener, breitschultriger Mann in einem weißen Kittel. Er sah erstaunlich gut aus, viel besser, als Korittke erwartet hatte.

»Sie wünschen?«, fragte er mit einem professionellen Lächeln, das jedoch sogleich einfror, als er das schmuddelige Erscheinungsbild seines Kunden bemerkte.

Otto Korittke musste wegen des Größenunterschiedes zu ihm aufblicken. »Tja«, begann er zaghaft lächelnd und gab sich Mühe, seine Unsicherheit zu überspielen. »Da bin ich nun also.«

Der Friseur musterte ihn von oben bis unten. »Was kann ich für Sie tun?«, fragte er mit frostiger Stimme. Offensichtlich hielt er ihn für einen Bettler oder Hausierer.

»Ich möchte … ich würde gern …«, stammelte Korittke und drehte seine Kappe in den Händen.

»Nur damit Sie es wissen: Schmalstieg ist mein Name. Ich bin hier der Chef, kann Ihnen aber keinen Rabatt einräumen, sosehr ich es auch bedaure. Hundert Meter weiter, am Ende der Johannisstraße, bekommen Sie einen Haarschnitt zu einem günstigeren Preis. Ich hoffe, Ihnen damit gedient zu haben. Schönen Tag noch, der Herr!«

»Ondulation«, sagte Korittke schnell, »ich hätte gerne eine Ondulation. Wird doch bei Ihnen gemacht?« Er deutete mit dem Kopf zum Reklameaufsteller. »Zumindest steht es da!«

Schmalstiegs Augen verengten sich. »Eine Ondulation ist die chemische Einbringung von Locken ins Haar, auch Dauerwelle genannt, und leider nur für das Frauenhaar vorgesehen.«

Korittke lächelte spröde, nahm auf dem mittleren Stuhl im Männerbereich Platz und angelte sich den Zeitungshalter mit der aktuellen Tagespost. »Bedienen Sie ruhig Ihren Kunden weiter, ich habe Zeit«, sagte er, ohne den Blick vom Blatt zu nehmen. »Viel zu viel Zeit, um genau zu sein, aber das interessiert Sie sicher nicht.«

Der Friseur seufzte übertrieben. »Es kommt gleich je­mand.« Im Stechschritt durchquerte er den Damensalon und verschwand hinter einem dicken grünen Vorhang. Dort läutete er mit einer Glocke und rief: »Kundschaft!«

Korittke schlug die Zeitung auf. Das Bild der deutschen Fußballmannschaft, die am Abend spielen sollte, fiel ihm ins Auge. Er hatte die Jungs vorhin schon in einem Schaufenster gesehen. Ein Radiogeschäft warb mit Fernsehgeräten. Sie kosteten ein Vermögen, aber vielleicht wäre es ihm ja möglich, darauf zu sparen. Erst einmal musste er Arbeit finden. Lange hatte er davorgestanden, bis sein Mund trocken wurde und er beschloss, in ein Wirtshaus zu gehen. Dort hatte er sich mit Bier und Korn etwas Mut angetrunken und von seinem Begrüßungsgeld ein kleines Schnitzel bestellt. Nach wenigen Bissen war er satt gewesen, sein Magen war so klein geworden.

Als er einen Schatten vor sich bemerkte, blickte er auf.

»Hoffentlich mussten Sie nicht so lange warten!«, sagte eine nette Frauenstimme.

Vor ihm stand eine Angestellte, etwa 20 Jahre alt. Ihr Gesicht kam ihm bekannt vor, auch ihre Stimme hatte einen seltsam vertrauten Klang. Ob das etwa Bettine …? Er traute sich nicht, sie darauf anzusprechen, so heruntergekommen, wie er war.

»Wieso dauerte das so lange?«, herrschte Rolf Schmalstieg die junge Frau an. »Wo bleibst du denn, Tine?«

»Entschuldige, ich musste oben helfen, Salate vorbereiten, Schnittchen schmieren und Eier dekorieren. Bald beginnt das Spiel gegen die Türkei. Wir sind aber fast fertig.« Zu dem Kunden im Wartebereich, der gerade die Zeitung am Holzstiel weghängte, sagte sie: »Sie dürfen dann, mein Herr.« Auch sie musterte ihn kritisch. Otto Korittke wusste, dass ihr sein Aussehen missfiel. Seine Kleidung war abgetragen und schlotterte um seinen mageren Körper, die Schuhe dreckig, der Koffer abgestoßen. Er kam direkt vom Bahnhof, hätte sich gerne vorher frisch gemacht, wusste aber nicht, wo. Nach jahrelanger russischer Gefangenschaft hatte er kein Zuhause mehr.

»Liebes Fräulein, ich würde gerne Frau Korittke sprechen«, sagte er, »Frau Lieselotte Korittke.«

Rolf Schmalstieg unterbrach sein Gespräch mit dem Kunden. »Um was handelt es sich?«

»Diese Adresse wurde mir genannt. Hier soll ich sie finden. Stimmt das nicht?«

Der Friseur hob sein Kinn und starrte ihn düster an. »Was wollen Sie von ihr? Sie schneidet keine Haare!«

»Ich muss sie sprechen. Es ist wichtig.« Mit beiden Händen hielt Korittke seine Kappe fest. Den Koffer hatte er zwischen seine Beine geklemmt.

»Meine Tochter Bettine wird Sie bedienen.« Der Friseur verteilte Rasierwasser in seinen Händen und klopfte es energisch gegen die glatt rasierten Wangen des Kunden. Klatschende Geräusche waren zu hören, als würde er Backpfeifen verteilen. Der Kunde gab einen missfallenden Brummton von sich. »Genießen Sie es, Herr Schulte! Leichte Schläge fördern die Durchblutung!«

»Ihre Tochter?«, fragte Otto Korittke und wurde blass.

*

»Das Rührei bitte mit Kräutern und etwas Speck, kross gebraten, dazu zwei Scheiben Toast, nur mäßig braun«, wies Möbelfabrikant Walter Kettler das Hausmädchen Katharina an. Er war gerade aus der Fabrik gekommen und nahm nur eine leichte Mahlzeit ein, weil er Magendrücken hatte. Schon vor dem Krieg hatten sie eine Gründerzeitvilla am Westerberg bezogen, die sie vornehm eingerichtet hatten, mit schweren orientalischen Teppichen, Seidentapeten und Ölgemälden in Jugendstil- und Barockrahmen. Sie saßen im Salon, einem großen Zimmer mit einer Flügeltür zum Garten hin und einer weißen Blumenbank, auf der Giselas Kakteensammlung aufgereiht war. Der Salon, der Wintergarten und das angrenzende Speisezimmer waren noch mit schweren Vorkriegsmöbeln ausgestattet. Gisela drängte längst auf moderne leichte Möbel, aber für sein gemütliches Heim wollte er nicht auf die gewohnte Eichenvollholzqualität verzichten. Nur bei der Sitzgruppe hatte er sich auf einen Kompromiss eingelassen und beschwingt wirkende Sofas und Sessel in Bonbonfarben fertigen lassen. Das Kaminfeuer knisterte – es war ein kühler und regnerischer Tag – und im Radio lief Swingmusik.

»Ach, und, Katharina, bitte denken Sie daran, dass wir nachher eine kleine Gesellschaft erwarten. Das Spiel beginnt um 18 Uhr. Spätestens zur Halbzeit sollte für acht Personen alles gerichtet sein.«

»Sehr wohl«, gab Katharina mit einem Knicks zurück. Ihr Blick verriet, dass sie für den Abend eigentlich etwas anderes vorgehabt hatte. Mit verschlossener Miene verließ das Mädchen den Raum.

»Musste das sein, Walter?« Gisela verzog das Gesicht. »Wir haben sie in dieser Woche schon zweimal abends beansprucht. Wenn sie kündigt, müssen wir wieder mühsam jemanden einarbeiten. Dazu habe ich keine Lust.«

»Natürlich musste das sein.« Walter straffte seine Zeitung und verschaffte sich einen Überblick über die Artikel. Die Osnabrücker Rundschau war an diesem Tag voll mit Berichten über die Fußballweltmeisterschaft. »Sie wird nicht kündigen, Liebes, sie weiß genau, was sie hier hat. Ein hübsches Zimmer mit einem eigenen Bad en Suite findet sie so schnell nicht wieder. Dazu gute Speisen und ein Gehalt, von dem sie sogar zu Hause etwas abgeben kann.«

»Das ist heutzutage nichts Besonderes mehr. Sogar unsere Arbeiter und Fabrikangestellten verdienen besser. Ihr bleiben nach Abzug von Kost und Logis nur 100 Mark.«

»100 Mark sind mehr als genug.« Er vertiefte sich in einen Sportartikel.

Gisela nestelte am silbernen Zigarettenetui, nahm eine Eckstein heraus und ließ sich von ihrem Mann Feuer geben. »Du bist mir noch eine Antwort schuldig, Walter. Wie war es gestern beim Friseur? Was sagt er zu der Sache? Mich würde interessieren, wie er die schockierende Nachricht aufgefasst hat.«

Der Fabrikant ließ die Zeitung sinken. »Er wirkte nicht sonderlich überrascht, eher so, als störe ihn der Umstand überhaupt nicht, dass sein minderjähriges Töchterchen ein Kind von einem Mann erwartet, mit dem sie nicht verheiratet ist und der in keiner Weise ihrem Stand entspricht.«

»Jetzt spann mich nicht auf die Folter. Was hat er gesagt?« Sie nahm einen tiefen Zug.

»Natürlich erwartet er, dass Edmund sie heiratet. Das war abzusehen.«

»Vernünftig von ihm, oder? Ich denke, das Kind gehört in eine richtige Familie. Edmund ist alt genug, und Bettine … Nun ja, sie wird es lernen, Mutter zu sein und einen Haushalt zu führen.« Sie stockte. »Was ist? Warum schaust du so? Deinem Stirnrunzeln entnehme ich, dass du nicht damit einverstanden bist. Aber warum nicht, Walter?«

»Edmund wird es nicht tun, er wird sie nicht ehelichen, er darf es nicht. Das ist er seinem guten Namen schuldig. Wir müssen ihn auf jeden Fall davon überzeugen, dass er einen Fehler macht, wenn er nicht auf uns hört. Edmund ist jung, erst 21 Jahre alt. Da bleibt genug Zeit, die Richtige zu finden. Ich habe auch das Gefühl, er liebt diese Bettine nicht wirklich. Unser Sohn hat eine bessere Partie verdient.«

»Das können wir nicht beurteilen, Walter.«

Der Fabrikant wiegte den Kopf. »Die Richtige wird kommen. Edmund braucht eine Frau aus gutem Hause, die etwas mitbringt, die Möbel Kettler voranbringt und nicht umgekehrt schröpft.«

Gisela fröstelte beim Anblick der Kondenstropfen, die sich am Glas bildeten. »Legst du bitte Holz nach, Darling? Es ist nur noch wenig Glut im Kamin. Und es regnet ununterbrochen.«

Verständnislos zuckte er mit den Schultern. »Wir haben Sommer, kalendarisch seit zwei Tagen schon. Ich finde, es ist warm genug im Raum, aber wenn du meinst …« Seufzend begab er sich zum Holzlagerfach, nahm einige Scheite heraus und warf sie ins Feuer. Mit dem Schürhaken stocherte er nach.

»Die Konkurrenz ist groß und nimmt beständig zu«, fuhr er fort, während er ächzend Platz nahm. Er hatte seit der Währungsreform fast 20 Kilo zugenommen. Die Schneiderin hatte unentwegt zu tun, die zu eng gewordene Kleidung zu ändern. Seine Frau versuchte es bereits mit Diäten, aber er hielt nichts davon, war froh, dass es wieder genug zu essen gab, und genoss die reiche Auswahl auf dem Tisch. »Wir brauchen Mittel, um zu investieren. Die Maschinen sind nicht die modernsten und genügen den heutigen Ansprüchen in keiner Weise. Die Kunden verlangen Kunststoffmöbel, kein Echtholz mehr. Sie wollen Farben, die aussehen wie Bonbons oder Eissorten. Das schaffen wir mit unseren Maschinen nicht. Kurz gesagt, wenn schon eine Schwiegertochter, dann eine aus gutem Hause.«

Walter Kettler lehnte sich zurück und verschränkte die Arme vor dem Wohlstandsbauch. Es war noch gar nicht lange her, nicht einmal zwölf Jahre, da hatte er mit leeren Händen vor seinem zerstörten Betrieb gestanden. Eine Bombe hatte das Zentrallager in Bramsche getroffen. Nichts war ihm geblieben. Und heute besaß er eine florierende Firma, die munter auf der Wirtschaftswunderwelle mitschwamm. All das hatte er selbst fertiggebracht, mit Weitsicht, Fleiß, Klugheit und einer gewissen Portion Egoismus. Sicher, die Zeit war ihm zu Hilfe gekommen, die große Nachfrage der Kunden, die Tatsache, dass er auf das richtige Pferd gesetzt und in Möbel investiert hatte. Aber vor allem hatte er es seiner Tüchtigkeit zu verdanken, dass es seiner Familie heute so gut ging. Walter Kettler hatte das richtige Gespür für die Zeichen der Zeit. Die Leute waren wie wild auf neue Möbel, Teppiche und Stoffe, um ihre Wohnungen geschmackvoll und modern einzurichten. Sie hatten auch keine Scheu mehr wie früher, auf Pump zu leben. Im Gegenteil, Ratenkauf war sehr beliebt. Deshalb würde es sich lohnen, in Werbung zu investieren. Sein Eintrag im Branchenbuch der Stadt Osnabrück war 16 Jahre alt und wirkte mittlerweile bieder und antiquiert:

Kettler, Walter, Möbelfabrik. Vornehme, geschmackvolle Wohnungseinrichtungen von einfachster bis reichster Art in gleicher, erstklassiger Ausführung unter Verwendung nur besten Materials. Die Herstellung geschieht in eigener Fabrik, wodurch jeder persönliche Wunsch berücksichtigt werden kann. Einrichtung ganzer Häuser sowie einzelner Zimmer mit Vertäfelungen, Holzdecken und so weiter. Eigenes künstlerisches Atelier. Ständige Ausstellung von zahlreichen fertig eingerichteten Musterzimmern, in Holz und in Kunststoff, Gemälden, Radierungen, großes Stoff- und Teppichlager, Maschstraße.

Zufrieden war er damit nicht. Er wusste, dass die Nachfrage nach Holzvertäfelungen, Holzdecken und Vollholzmöbeln stetig zurückging. Zigarettenrauch waberte durch den Salon und überdeckte Giselas Tosca-Parfüm.

Er war auf dem Weg, ein reicher Osnabrücker Bürger zu werden. Seit bald 20 Jahren besaßen sie diese prächtige Villa am Westerberg aus der Gründerzeit. Inzwischen würde Gisela lieber einen schicken komfortablen Neubau mit Zentralheizung beziehen. Aber Walter Kettler war ein Mann mit konservativen Ansichten, der Wert auf Gediegenheit und Qualität legte. Er fuhr einen großen Wagen, seine Frau ein Cabriolet, der Junge hatte zu Weihnachten einen Volkswagen bekommen, bevorzugte allerdings immer noch das Moped, mit dem er sich verwegener fühlte, wie er stets betonte. Undankbar war die Jugend.

»Du unterstellst Bettine etwas, ohne sie richtig zu kennen. Hast du dich mal längere Zeit mit ihr unterhalten als in den 20 Minuten, in denen sie dir die Haare schneidet?«

»Die 20 Minuten reichen mir bereits, um mir ein Bild zu machen.«

»Und? Welches Bild hast du dir gemacht?«

Kurz ging er in sich. »Sie ist ein Fräulein aus einfachem Hause, hübsch, aber liederlich und flatterhaft und zudem völlig unvermögend. Der Vater ein vermisster Koch, die Mutter eine ehemalige Friseuse, nun Hausfrau. Mit einem Haufen Kindern und der Großmutter hausen sie in beengten Verhältnissen. Ich möchte nicht wissen, wie die hygienischen Bedingungen bei denen aussehen. Es heißt, wo mehr als sechs Köpfe unter einem Dach leben, sind Läuse und Krätze nicht weit. Und jetzt kommt’s: Einige Geschwister sind älter als Bettine, andere jünger. Viel jünger, um nicht zu sagen: richtig klein. Ein Windelmatz ist auch darunter. Und nun sag mir bitte, von wem sind die wohl? Vom verschwundenen Ehemann der Mutter gewiss nicht, der soll noch irgendwo in Russland sein!«

Gisela Kettler griff nach ihrer geblümten Kaffeetasse mit Goldrand, streckte ihren kleinen Finger aus, was Walter nicht leiden konnte. »Und wenn es so wäre, Walter? Dinge dieser Art passieren nun einmal, sie geschehen öfter in unruhigen Zeiten. Wer wartet denn schon zehn Jahre auf seinen Ehemann? Das kann man nicht von einer Frau verlangen. Niemand hält das aus. Allein ist es schwer, besonders mit Kindern. Irgendjemand muss doch das Brot verdienen. Es sei ihr gegönnt, dass sie wieder einen Mann an ihrer Seite hat.«

»Es sind uneheliche Kinder, Gisela. Mann und Frau leben in wilder Ehe zusammen, in ungeordneten Verhältnissen. Was sind das für Zustände? Das geht doch nicht! Die Kirche hat eine Onkelehe nicht gewollt und heißt sie nicht gut. Auch die Gesellschaft duldet so etwas nicht. Welcher Ruf geht diesen Leuten voraus! Es wird ein schlechtes Licht auf uns werfen, wenn Edmund sich weiter mit diesem Mädchen abgibt.« Je länger er darüber nachsann, was ihm und seiner Familie bevorstand, desto nervöser wurde er. Mit dem Fuß stupste er die Siamkatze weg, die sich gerade auf seinem Schoß niederlassen wollte. Stattdessen suchte sie nun mit beleidigtem Blick Giselas Nähe, sprang zu ihr aufs Sofa und ließ sich das weiche Fell kraulen.

Ärgerlich betrachtete er das innige Bild, das sich ihm bot. Gisela lag mit angezogenen Beinen auf der Couch. Sie trug ein grünes, tiefdekolletiertes Abendkleid, dazu eine Perlenkette und auffälligen Ohrschmuck, der bei ihrer kurzen Lockenfrisur gut zur Geltung kam. Eine vornehme und äußerst gepflegte Frau war sie, zu der ihre Siamkatze Miranda gut passte. Seine Frau war vollauf mit sich selbst beschäftigt, vor allem damit, immer jung zu wirken. Ihr Tag spielte sich hauptsächlich in Kosmetik- und Frisiersalons ab, in teuren Modeateliers, bei Modenschauen und bei Cocktailpartys. Gisela war eine attraktive, elegante Frau, aber sie berührte ihn nicht mehr. Er fühlte keine Liebe mehr für sie. An manchen Tagen konnte er sie nicht einmal ertragen. Mittlerweile verstand er sogar Männer, die ein heimliches Techtelmechtel mit ihrer Sekretärin hatten. Schon lange träumte auch er von einer Geliebten, hatte es in der Firma zwei-, dreimal bei den Schreibfräuleins versucht, leider ohne Erfolg. Die Damen trugen ihre Nasen heutzutage höher als ihre Brüste.

»Du kannst nicht ernsthaft wollen«, sagte er, »dass unser Sohn in so eine Familie einheiratet. Wie stünden wir da? Reden würden die Leute, verspotten würden sie uns! Die Kunden kaufen dann bei der Konkurrenz. Willst du das? Möchtest du anderen Möbelhäusern in die Hände spielen und unser Familienglück riskieren, nur um ein kleines Enkelkind im Arm zu halten? Lass nicht immer dein Herz sprechen, Gisela, das war noch nie der richtige Weg. Romantische Gefühle sind unsinnige Gefühle, sie haben keinen Bestand. Was allein zählt, ist der Erfolg. Vergiss nie: Bei allem, was du tust, bei jedem Schritt, den du gehst, überlege, ob es im Sinne unserer Firma ist.«

Ihr Gesicht verdüsterte sich.

»Na siehst du«, interpretierte er ihre nachdenkliche Stimmung, »ich wusste, dass du nicht naiv bist. Rede mit Edmund. Überzeug ihn davon, dass sein Weg nicht der richtige ist. Auf dich wird er eher hören als auf mich. Eines Tages wird er uns dankbar sein.«

»Wie hast du es eigentlich erfahren?«, wollte Gisela Kettler wissen und rauchte nervös.

»Was denn, Liebling?«

»Na, die Nachricht von ihrer Schwangerschaft.«

Er räusperte sich. »Beim Haareschneiden war das. Sie hat wortwörtlich gesagt: ›Guten Tag, Herr Kettler, wissen Sie, dass Sie bald Großvater werden? Und sehr wahrscheinlich sogar mein Schwiegervater?‹ Da hat es mir förmlich die Sprache verschlagen. Demnächst werde ich mir Herrn Schmalstieg persönlich vorknöpfen. Ich werde ihm ein Angebot unterbreiten, das er nicht ausschlagen kann.«

Es klopfte. Katharina brachte auf einem Silbertablett die warme Zwischenmahlzeit. »Ich hoffe, es ist recht so«, sagte sie mit verkniffenem Mund und stellte das Tablett auf einer Anrichte ab. »Vielen Dank, Katharina.«

Mit gesenktem Kopf entfernte sie sich, blieb aber in der Tür stehen.

»Was ist denn noch?«, fragte der Möbelfabrikant mit einem Anflug von Ungeduld.

»Ich hätte da eine Frage, verzeihen Sie bitte.«

»Nanu?« Er zog die Augenbrauen hoch.

Das Dienstmädchen machte einen Knicks und lüftete die weiße gestärkte Spitzenschürze. »Ich hoffe, es ist nicht allzu aufdringlich, aber ich wollte fragen, ob alles recht ist.«

Walter Kettler lachte leise. »Natürlich ist es das, vielen Dank.«

»Wer spielt eigentlich heute?«

»Wir gegen die Türkei«, sagte er. »Ein wichtiges Spiel. Es wird zeigen, ob wir überhaupt eine Chance haben. Ich rechne mit nichts. Wir müssen uns gewaltig ins Zeug legen, um mit den anderen Mannschaften mitzuhalten. Wenn wir das nicht tun, sind wir schneller wieder draußen, als wir denken können.«

Katharina bedankte sich, trat aber immer noch nicht den Rückzug an.

»Noch etwas?«

Sie räusperte sich, knickste noch einmal. »Ich wollte einfach nur mal fragen, ob ich vielleicht, einmal, ein einziges Mal, bitte verzeihen Sie meine Aufdringlichkeit … Das Spiel würde mich sehr interessieren! Es wäre so schön, wenn ich dabei sein dürfte, Herr Kettler! Ich habe doch in der Kellerküche kein Radio.«

Er schmunzelte. »Das lassen wir mal schön sein. Schuster, bleib bei deinen Leisten. Aber wenn Sie uns nett bedienen, richtig nett, bekommen Sie eventuell das eine oder andere Tor mit!«

Tod unterm Nierentisch

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