Читать книгу Die Tote von der Maiwoche - Alida Leimbach - Страница 10
Kapitel 5
ОглавлениеAls Tobecke abgezogen war, wollte Daniel natürlich gleich wissen, wie das Gespräch mit ihm gelaufen war. Sie fasste es für ihn zusammen.
Er runzelte die Stirn und sah sie intensiv an. »Traust du dir das überhaupt schon zu? Es ist der erste Mordfall, seit …«
»Seit ich bei meinem letzten fast draufgegangen wäre, meinst du.« Mit einem verletzlichen Ausdruck im Gesicht erwiderte sie seinen Blick.
Verlegen fuhr er sich mit der Handkante durch die kurzgeschorenen Seitenpartien. Seit Neuestem trug er einen gestutzten Vollbart. »Wenn du dich nicht in der Lage fühlst, den Fall zu bearbeiten, kann ich das verstehen. Dann übernehmen Carlo und ich. Carlo meint übrigens auch, es würde im Moment völlig reichen, wenn du im Büro bleibst und …«
»… Schreibkram erledigst und Akten von links nach rechts schiebst, nicht wahr?« Sie lachte. »Oh nein, mein Lieber, das hättest du wohl gern. Dafür ist Zeit, wenn ich kurz vor der Rente stehe.«
»Ich bin mir nicht sicher, ob du das Erlebnis genügend verarbeitest hast. Du wolltest keine Therapie, obwohl wir dir alle dazu geraten haben.«
»In der Reha hatte ich so was in der Art. Gesprächskreise und auch Einzelsitzungen. ›Ich bin der Bruno und komme nicht darüber weg, dass mein Vater gestorben ist.‹ Nein. Brauche ich nicht. Immer um mich selbst kreisen ist nicht mein Ding. Ich konnte das nicht wirklich ernst nehmen und war offen gestanden froh, als ich nach Hause durfte. Ich bin eher der aktive Typ, das weißt du ja. Sport hilft mir am besten, wenn es mir nicht gutgeht. Einmal mit dem Fahrrad rund um den Rubbenbruchsee, und der Kopf ist wieder klar.«
»Das musst du wissen. Wie gesagt, wir übernehmen gerne – ein Wort genügt.«
»Das weiß ich, danke. Uns steht nun leider ein unangenehmer Gang bevor. Wir müssen Jessicas Eltern über ihren Tod informieren.«
»Wir beide schaffen das schon.«
Ihr wurde warm ums Herz. Seit Jahren arbeitete sie mit Daniel zusammen. Anfangs hatte sie ihn nicht gemocht. Sie hatte lange gebraucht, um ihn als Kollegen zu respektieren. Für ihren Geschmack war er zu eitel, zu sehr von sich überzeugt. Doch je länger sie ihn kannte, desto besser verstand sie ihn. Mittlerweile schätzte sie ihn genauso wie ihren älteren Kollegen Carlo Oltmann, einen väterlichen Typ. In manchen Momenten genoss sie das Zusammensein mit Daniel richtig. Auch als mittlerweile Enddreißiger wirkte er manchmal noch jungenhaft unbeholfen, er hatte eine positive Ausstrahlung, war aufgeschlossen, begeisterungsfähig, humorvoll und ein guter Gesprächspartner obendrein.
»Dann komm«, sagte sie.
*
»Warum wolltest du dich mit mir ausgerechnet hier treffen?« Katharina Jütting war es manchmal leid, von Max wie eine bildungsferne Analphabetin behandelt zu werden, dabei hatte sie studiert, wenn sie die Uni auch ohne Abschluss verlassen hatte.
Sie standen an der Ecke Lotter Straße/Heger-Tor-Wall vor einem Haus im römischen Baustil. »Kennst du das Akzisehaus?«, fragte er. »Warst du mal drin?«
»Ja, aber ist lange her. Da gab es in den 70er-Jahren ein Spiegelkabinett. Fand ich total interessant. Ich war damals dünn wie eine Bohnenstange, und im Spiegel hatte ich dann richtig schöne Kurven. Heute hätte ich gerne einen Spiegel, der mich schlank macht.«
Er lachte. »Bist du doch. Aber du weißt nicht, was das früher war? Noch früher, meine ich.«
Sie zuckte mit den Schultern. Jetzt würde Max wieder anfangen zu dozieren und den Lehrersohn herauskehren, das kannte sie schon.
»Bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts war es ein Zollhaus. Verbrauchsgüter wie Bier, Wein, Korn oder Mehl wurden mit Zöllen belegt, die der Stadt als wichtige Einnahmequelle dienten. Später wurde es Teil des kulturgeschichtlichen Museums, das war wohl zu der Zeit, als du im Spiegelkabinett warst, dann Museumsladen mit Kassenhaus für das benachbarte Museum. Inzwischen dient es als Werkstatt des Museums.«
»Aha, wieder ein paar Synapsen mehr im Gehirn. Und was tun wir hier?«
»Du hast neulich gesagt, dass du noch nie im Felix-Nussbaum-Haus warst, und da gehen wir jetzt hin.«
»Weil du es nicht erträgst, dass ich Kulturbanausin es tatsächlich in den 20 Jahren seit der Eröffnung kein einziges Mal geschafft habe?«
»Du hast halt andere Qualitäten.« Max Grewe legte den Arm um ihre Taille und zog sie leicht an sich.
»Nicht in der Öffentlichkeit, Max. Lass uns reingehen.« Nervös blickte sie sich um. Es war niemand da, den sie kannte, aber man wusste nie. Sie spielten ein gefährliches Spiel, das jederzeit auffliegen konnte. Ein Spiel mit dem Feuer. Irgendwann würde es vorbei sein, doch bis dahin wollte sie die gemeinsame Zeit mit Max genießen.
Seit über einem halben Jahr waren sie nun ein Paar – Max, der Psychologiestudent, der sich mit seinen bunttätowierten Armen von seinem gutbürgerlichem Elternhaus absetzen wollte, und sie, die nicht mehr ganz junge Arzthelferin, verheiratet und Mutter einer heranwachsenden Tochter. Sie sah immer noch gut aus, das wusste sie. Sie war relativ klein und es fiel nicht auf, dass ihre einst naturblonden Haare inzwischen dunkel gefärbt waren. Niemand hätte sie auf 53 geschätzt. Max hingegen wirkte mit seiner dunklen Hornbrille und dem rötlichen Vollbart mindestens zehn Jahre älter als er war. Sie hatte sich große Mühe gegeben, ihr Geheimnis für sich zu behalten, und war sich lange sicher gewesen, dass niemand aus der Band bemerkt hatte, was sie für Max empfand. Diese Sicherheit hatte sie nun nicht mehr, oder warum hatte Carsten sie durch eine Jüngere ersetzt? Er sagte, es sei nur ein Versuch mit Jessi, aber sie glaubte ihm nicht. Sie wusste, dass zwischen den beiden etwas lief. Auch sie hatte mal was mit Carsten gehabt, doch das war lange her. Inzwischen verachtete sie ihn, und sie hasste Jessi. Wenn Carsten nicht einen Schlussstrich gezogen hätte, dann hätte sie es getan.
»Sagen dir die Werke von Felix Nussbaum eigentlich was?«, fragte Max, als sie den Kassenbereich passiert hatten. Wie üblich hatte Katharina die Eintrittskarten bezahlt. Es machte ihr nichts aus, denn sie wusste, dass Max als Student Mühe hatte, seinen Lebensunterhalt zu bestreiten. Sein Vater unterstützte ihn nicht mehr, seit er sich mit ihm überworfen hatte.
»Ich kenne nur das Plakat, das ihn mit Judenpass zeigt«, gab sie zu.
»Er war ein Osnabrücker Jude aus großbürgerlicher, wohlhabender Kaufmannsfamilie. Sie besaßen eine herrschaftliche Villa in Osnabrück und führten ein gutes Leben. Sein Vater war Hobbymaler, der das Talent seines Sohnes erkannt und gefördert hat. Felix Nussbaum hat Anfang der 30er-Jahre noch große Erfolge gefeiert, in Osnabrück und in Berlin. Leider musste er mit Beginn der Machtergreifung der Nationalsozialisten 1933 emigrieren, zunächst nach Italien und Frankreich, später nach Belgien, zusammen mit seiner Frau Felka Platek, seiner großen Liebe. Seitdem lebte er in Brüssel in ständiger Angst vor Verfolgung. Im Versteck malte er weiter, und seine Werke veränderten sich. Die dunklen Farben und schroffen Konturen sind Sinnbild seiner zerrissenen, ängstlichen Seele. Er hatte wohl eine düstere Vorhersehung, die sich in seinen Werken zeigt. Das Exil hat aus ihm einen kaputten Mann gemacht.«
Sie erreichten über einen gläsernen Gang das Innere des Nussbaum-Hauses. Im holzverkleideten Haupttrakt fanden sich frühe Werke des Künstlers, die seine Liebe zur Natur und seine positive Lebenseinstellung ausdrückten.
Als sie über die zinkverkleidete Nussbaum-Brücke den »Gang der ungemalten Bilder« erreichten, blieb Max stehen und zog Katharina zur Seite. Sie waren allein, und er nutzte sofort die Chance, um sie zu küssen.
»Ich finde es hier nicht sonderlich romantisch«, sagte sie.
»Warum? Weil es mal nicht rosarot zugeht? Weil es keine Kerzen gibt, keine Blumen und keine Geigen?«
»Sei nicht so zynisch. Mich bedrückt die Atmosphäre. Ich finde sie beklemmend.«
»Ach ja? Ist doch interessant, was der Architekt daraus gemacht hat. Passt gut zu Nussbaums Werken. Selten spiegeln sich die Werke eines Künstlers so deutlich in der Architektur eines Gebäudes wider.«
»Ist Felix Nussbaum umgebracht worden?«
Max nickte. Sie gingen weiter. Kamen an Fenstern vorbei, die gezackt waren wie Blitzeinschläge, an spitzen Winkeln, harten Materialien wie Beton und Zink. Ständige Richtungswechsel über schiefe Ebenen sorgten für Verwirrung und Unbehagen.
Katharina fühlte sich von der bizarren Architektur überfordert.
»Mir wird schwindlig«, stöhnte sie. »Das ist ja dunkel hier wie im Kerker. Einfach gruselig. Und alles ist schief.«
»Das ist beabsichtigt«, erklärte er. »Die dunklen Töne, schroffen Materialien und schiefen Ebenen sollen Nussbaums Gemütszustand versinnbildlichen. Der amerikanische Architekt Daniel Libeskind hat sich etwas dabei gedacht, als er den Komplex aus drei ineinander übergehenden Gebäuden konzipiert hat. Ich finde es grandios. Der Besucher nähert sich so Nussbaums Seelenzustand an, seiner Verzweiflung, seiner inneren Zerrissenheit, seinen Depressionen. Wenn wir ein Gefühl von Schwindel verspüren, können wir nachvollziehen, wie der Künstler in den letzten Jahren seines Wirkens den Halt verloren hat, die Orientierung. So geht es mir auch manchmal. Manchmal verliere ich den Halt, besonders, wenn ich daran denke, dass unsere Beziehung nicht von Dauer sein wird, weil du dich nicht offen zu mir bekennst.« Er hatte einen melancholischen Ausdruck im Gesicht.
»Bitte hör auf!« Sie ließ ihn stehen und ging einfach weiter.
Rasch hatte er sie eingeholt. »Felix Nussbaum hat sich nie sicher gefühlt im Exil; er musste jederzeit damit rechnen, denunziert und verhaftet zu werden«, rief er atemlos. »Ich verstehe seine Unsicherheit, auch wenn ich vielleicht nicht verfolgt und vom Tod bedroht bin. Aber man kann nie wissen.«
Sie riss ihre Augen auf. »Wie meinst du das? Was erzählst du für einen Käse? Du hast einfach zu viel Psychozeug gelesen.«
Max fixierte sie mit einem seltsamen Blick. »Es ist kein Käse, Katharina. Manchmal habe ich Angst. Ich bin mit dir hierhergekommen, damit du verstehst, wie ich das meine.«
Sie hatten den dunkelsten Raum erreicht. Darin hingen jene Bilder, die Nussbaum kurz vor seinem Tod im Exil gemalt hatte. Es waren finstere Prophezeiungen, die der Maler auf die Leinwand gebannt hatte.
Max blieb vor einem Gemälde stehen. Es zeigte das bekannte Selbstbildnis des Malers. »Ich muss dir was sagen«, begann er stockend. Er schluckte sichtbar. »Jessi ist tot.«
»Was sagst du da?« Katharina begann zu frösteln. Die düsteren Bilder, die dunklen Betonwände und Betonböden um sie herum nahmen ihr die Luft zum Atmen. Sie hatte das Gefühl, den Halt zu verlieren und von der Atmosphäre verschluckt zu werden.
»Carsten hat mich angerufen. Sie ist letzte Nacht in ihrer Wohnung gestorben. Jemand hat sie erstochen.«
Fassungslos starrte sie ihn an. »Du lügst.«
»Warum sollte ich?«
»Das erzählst du mir hier? Ausgerechnet hier? Du hast mich in diese unheimlichen Katakomben gelockt, um mir etwas derart Schreckliches mitzuteilen?«
Er nickte ernst. »Du musst mir sagen, was du weißt, Katharina.«
»Was soll ich wissen?«
»Genau das ist die Frage, die mich brennend interessiert.«
Sie lachte hysterisch. »Du glaubst nicht wirklich, dass ich was damit zu tun habe!«
Er zog die Schultern hoch. »Sag du es mir, Katharina. Du hast sie gehasst, das ist kein Geheimnis.«
»Ja und? Das macht mich nicht zur Mörderin! Ich bin doch nicht bescheuert und bringe sie deswegen um!«
»Wo warst du denn gestern? Du hörst dich nicht erkältet an, so schnell wird man nicht gesund. Also, wo warst du?«
»Zu Hause. Ich bin wirklich erkältet, das merkt man, wenn ich länger rede. Das geht voll auf meine Stimme, und manchmal muss ich husten. Unmöglich, so auf der Bühne zu stehen.«
»Kann das jemand bezeugen?«
»Dass ich krank war?«
»Dass du zu Hause warst.«
Sie trat einen Schritt zurück und sah ihn finster an. »Du redest wie ein Polizist. Verdächtigst du mich etwa? Was bildest du dir ein?«
»Entschuldigung, das war nicht so gemeint. Ich glaube, wir werden alle noch vernommen. Vielleicht ist es gut, wenn du dich darauf vorbereitest!«
Sie senkte den Kopf. »Darauf antworte ich nicht. Ich bin dir keine Antwort schuldig.«
»Ich verdächtige dich nicht. Aber ich habe das Gefühl, dass Jessis Tod irgendwie mit dir zusammenhängt. Was ist mit deinem Stalker?«
»Müller? Der ist harmlos, Max. Mit dem werde ich fertig.«
»Könnte er dahinterstecken?«
»Aus welchem Grund?«
Er kraulte seinen Bart. »Um dich zu beschützen? Dass der Mensch nicht richtig tickt, wissen wir. Für mich steckt eine tiefgreifende Persönlichkeitsstörung dahinter, möglicherweise Asperger oder Borderline. Vielleicht auch beides. Seine soziale Interaktion ist erheblich eingeschränkt und er zeigt Stereotypen und zwanghafte Verhaltensweisen. Er bräuchte dringend eine Therapie. Die Voraussetzung dafür wäre allerdings, dass er sich seiner Krankheit stellt, dass er sie akzeptiert und sich eine Veränderung wünscht. Und das ist gerade bei Asperger-Patienten schwierig. Durch die autistischen Züge fällt es den Betroffenen schwer, eine Störung bei sich zu erkennen und sich einem Therapeuten anzuvertrauen.«
»Vielleicht ist er ja schon in Therapie.«
Max zuckte mit den Schultern. »Wenn du wirklich nichts weißt, dann tippe ich auf ihn. Vielleicht ist seine kranke Denke, du würdest zurückkommen, wenn er deine Konkurrentin erst einmal ausgeschaltet hat.«
»Müller ein Mörder? Niemals! Er ist krank, okay, aber ich habe ihn nie aggressiv erlebt. Außerdem kapiert er, wenn er zu weit gegangen ist. Das hat er bisher jedes Mal eingesehen und sich getrollt. Nein, mit deiner Vermutung liegst du völlig falsch!«
»Wir werden sehen«, sagte Max und rieb sich ein Auge. »Ich werde ihn nicht anzeigen, dazu fehlen mir die Beweise. Es ist nur eine Vermutung, mehr nicht.«
»Was soll ich machen? Warum nimmst du mich so in die Mangel? Bin ich in Gefahr?«
»Versteh mich nicht falsch. Wie gesagt, es könnte sein, dass dich die Polizei ins Visier nimmt. Dann brauchst du eine bessere Ausrede als gerade eben. Ich würde dir dringend raten, morgen zum Konzert zu kommen und mitzusingen. Du musst dich dem Publikum zeigen. Es darf nicht sein, dass nur der geringste Verdacht an dir haften bleibt.«
»Du siehst Gespenster, Max, echt. Und jetzt lass uns von hier abhauen, bevor ich eine Panikattacke bekomme.«
»Wie du meinst«, sagte er und folgte ihr seufzend über die schiefen Ebenen zurück zum Ausgang.