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Kapitel 6

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Mit dem Auto waren es keine fünf Minuten zum Richard-Strauss-Weg am Westerberg. Die Eltern von Jessica Wagner bewohnten ein stattliches Anwesen unmittelbar am gepflegten Grüngürtel der Stadt. In der ruhigen Sackgasse gab es Bungalows aus den 60er- und 70er-Jahren und wenige Neubauten.

Birthe Schöndorf hatte in Erfahrung gebracht, dass Christian Wagner selbstständiger Bauunternehmer mit einer mittelständischen Firma in Osnabrück war. In der breiten Einfahrt stand eine Mercedes S-Klasse. Eine schwere Eingangstür, vergitterte Fenster und eine gut sichtbare Alarmanlage sollten für ein Höchstmaß an Sicherheit sorgen.

Birthe war etwas flau. Nie war es leicht, Angehörige vom Tod eines Familienmitglieds zu unterrichten. Am schlimmsten war es, Eltern mitzuteilen, dass ihr Kind gestorben war, völlig unabhängig davon, wie alt das Kind war. Für Eltern war es unbegreiflich, wenn ihr Kind vor ihnen gehen musste, es bedeutete immer einen radikalen Einschnitt in ihrem Leben. In der Regel traten Polizisten diesen schweren Gang zu zweit an. Nach Möglichkeit zogen sie einen Notfallseelsorger hinzu. Birthe hatte bei der Einsatzzentrale nachgefragt, ob ein weiterer Seelsorger zur Verfügung stand, aber leider eine negative Antwort erhalten. Vorsichtshalber hatte sie einen Rettungswagen bestellt, der hinter ihnen herfuhr und sich im Wendehammer in Bereitschaft hielt.

Elke Wagner öffnete die Tür. Sie war Mitte bis Ende 50, sehr schlank und mit einer blau-weißen Hemdbluse und schmal geschnittener Jeans sportlich-elegant gekleidet. Nachdem Birthe und Daniel sich ausgewiesen hatten, schien sie sofort zu ahnen, was auf sie zukommen würde. Erschrocken rief sie nach ihrem Mann. Christian Wagner kam sofort. Auch er war auffallend gut gekleidet, trug keinen bequemen Freizeitlook. Überraschung und Erschrecken spiegelten sich auf seinem Gesicht.

»Dürfen wir bitte hereinkommen?«, fragte Birthe. Sie hasste, was ihr bevorstand, und würde es gerne schnell hinter sich bringen. Doch nun galt es, so behutsam wie möglich vorzugehen.

»Um was geht es?«, fragte Jessicas Vater heiser. Er wirkte deutlich älter als seine Frau.

»Sind Sie die Eltern von Jessica Wagner?«, fragte Birthe. Ihr war bewusst, dass ihre ernste Miene bereits alles sagte. Daniel stand dicht neben ihr, sie konnte ihn fast körperlich spüren.

Der Bauunternehmer nickte. Seine Frau stellte sich hinter ihn, fuhr sich nervös durch den hellgesträhnten Bob und hielt sich an ihm fest.

»Können wir irgendwo in Ruhe reden?«

Christian Wagner starrte sie an, steckte sein weißes Hemd in die Jeans und blieb wie angewurzelt stehen.

Es war seine Frau, die sich ein Herz fasste und die beiden Kommissare in einen großen, elegant eingerichteten Wohnraum bat. Cremeweiße Ledersofas, helle, schimmernde Tapeten, farblich passende Bilder in Goldrahmen an den Wänden, weißes Mobiliar und mehrere Beistelltische aus Edelstahl und Glas. Der Esstisch war mit friesischem Steingutgeschirr gedeckt. In der Mitte stand eine Glasvase mit zartrosa Rosen. Es roch nach Kaffee, Rührei mit Speck und geröstetem Toastbrot. Anscheinend hatten die beiden gerade noch gemütlich zusammengesessen und gefrühstückt. Bis die Katastrophe mitten in ihren Alltag hineingeplatzt war.

»Vielleicht setzen Sie sich lieber«, schlug Daniel mit rauer Stimme vor. Nervös fuhr er sich mit der Hand über die Stirn. Doch Elke und Christian Wagner rührten sich nicht von der Stelle.

»Ihre Tochter Jessica … Es wäre wirklich besser, wenn Sie sich setzen«, startete Birthe einen neuen Versuch.

»Nein!«, rief Elke Wagner aus und steuerte trotzdem mit unsicheren Bewegungen eine Couchgruppe im hinteren Teil des Raumes an. Daniel folgte ihr.

»Was ist passiert? Hatte sie einen Unfall?«, wagte sich Christian Wagner vor. Er war kreidebleich.

»Kommen Sie«, sagte Birthe und berührte ihn zaghaft am Oberarm. »Gehen wir zu Ihrer Frau.«

Sie verteilten sich auf die verschiedenen Sofas. Birthe bemühte sich, den Eheleuten fest in die Augen zu schauen, während sie den Satz sagte, der jedem, der ihn hörte, das Blut in den Adern gefrieren ließ. »Wir müssen Ihnen leider mitteilen, dass Ihre Tochter tot ist. Sie ist einem Gewaltverbrechen zum Opfer gefallen.«

Daniel murmelte mit verkniffenem Mund sein Beileid und verschränkte angestrengt seine Hände, bis die Gelenke knackten.

»Nein, oder?«, entfuhr es Elke. »Das kann nicht wahr sein!« Sie schlug sich beide Hände vor den Mund.

»Wer war das?«, fragte ihr Mann mit versteinerter Miene. Sein Adamsapfel bewegte sich auffällig beim Schlucken.

»Wir wissen es noch nicht, aber wir tun unser Bestmögliches, um die Tat rasch aufzuklären.« Birthe bekam vor Aufregung rote Wangen.

Elke und Christian Wagner starrten sie an.

»Soll ich Ihnen ein Glas Wasser holen?« Birthe wusste, die Frage war unnötig angesichts des reich gedeckten Tisches, aber sie wollte irgendetwas tun.

»Das ist nicht wahr!«, wiederholte Frau Wagner tonlos. »Sagen Sie mir, dass das nicht wahr ist!«

»Wann?«, fragte ihr Mann.

»Es muss in der Nacht passiert sein«, sagte Birthe. »Zwischen Mitternacht und 1 Uhr nachts.«

»Wer? Wer hat das getan?«, fragte Christian Wagner erneut mit eisiger Stimme. »Wer hat meine Tochter umgebracht?«

Daniel räusperte sich. »Wir werden es herausfinden, Herr Wagner. Dafür sind wir da! Es wird bereits eine Soko gebildet, die sich ausschließlich damit befasst, rund um die Uhr.«

»Was wissen Sie? Was haben Sie bereits herausgefunden? Sie müssen doch schon erste Spuren gesichert haben!« Er klopfte auf seine goldene Armbanduhr. »Das Ganze ist fast zwölf Stunden her! Mir geht das zu langsam. Wenn Sie sich mehr angestrengt hätten, könnten Sie den Täter vielleicht bereits haben! Ist es ein Asylant?«

»Lassen Sie uns unseren Job machen, Herr Wagner«, bat Birthe ruhig, ohne auf seine voreilige Schlussfolgerung einzugehen, die sie ärgerte. »Wir stehen erst am Anfang unserer Ermittlungen.«

»Nichts deutet bisher darauf hin, dass es ein Asylbewerber ist«, kam Daniel ihr zu Hilfe.

Birthe atmete tief durch. »Kollegen von uns sind noch vor Ort. Sie machen ihre Arbeit gründlich und präzise und gehen erst, wenn sie alle verwertbaren Spuren gesichert haben.«

Christian Wagner streckte ihr seinen Zeigefinger entgegen. »Finden Sie das heraus! Beeilen Sie sich! Ich zahle eine große Summe für die Ergreifung des Täters. Er muss dafür büßen, was er getan hat, er muss seiner gerechten Strafe zugeführt werden. Ich will ihn leiden sehen. Er soll begreifen, was er gemacht hat. Wenn Sie nicht schnell genug sind, werde ich Sie verklagen! Ich werde noch heute meinen Anwalt informieren.«

»Seien Sie unbesorgt, Herr Wagner«, sagte Daniel. »Die Aufklärungsquote bei Tötungsdelikten liegt bei fast 100 Prozent.«

»Zahlen interessieren mich nicht. Es geht um meine einzige Tochter. Ich lasse Sie fortan nicht in Ruhe. Ich will wissen, was mit meiner Tochter passiert ist!«

»Wann haben Sie Jessica das letzte Mal gesehen?«, richtete sich Birthe an Frau Wagner.

»Oje, das weiß ich gar nicht genau«, sagte Elke Wagner tonlos. »Wir hatten immer engen Kontakt über das Handy. Gestern Abend haben wir noch miteinander geschrieben, kurz vor dem Konzert. Jessica wollte hinterher gleich berichten, wie es gelaufen ist, doch das hat sie nicht getan. Ich habe lange gewartet, aber es ist nichts gekommen. Ich habe sie in Ruhe gelassen, weil ich dachte, sie sei müde oder vielleicht noch mit ihren Kollegen ausgegangen. Das war unser letzter Kontakt. Ich hatte vor, gleich zu ihr zu fahren und ihr ein paar Brötchen vorbeizubringen.« Mit hilflosem Blick sah sie ihren Mann an.

Christian Wagner schüttelte den Kopf, als sei das alles für ihn unbegreiflich, als könne er es nicht fassen. »Vor einer Woche waren wir das letzte Mal bei ihr. Am Sonnabendvormittag. Wir haben ihr was zum Frühstücken vorbeigebracht.«

»Wie wirkte sie da auf Sie?«

Christian Wagner verschränkte seine Arme vor dem Körper. »Völlig normal. Wie immer. Sie hatte es eilig, sie wollte zu einer Probe.«

»Ganz so stimmt das nicht«, fiel ihm seine Frau ins Wort. »Sie hatte schon länger Probleme. Davon habe ich dir doch erzählt.«

»Zeigen Sie mir bitte mal den Chatverlauf von gestern Abend«, wandte sich Birthe an Jessicas Mutter. Die stand auf, um ihr Handy zu holen. Birthe wartete gespannt und las sich dann den Verlauf durch, um das Telefon anschließend an Daniel weiterzureichen. »Sie fühlte sich gemobbt«, sprach sie laut aus. »Von wem? Wissen Sie das?«

»Von allen Bandmitgliedern außer Carsten Tobecke. Fragen Sie mich bitte nicht, warum«, sagte Elke Wagner. »Ich weiß es nicht. Unsere Tochter fühlte sich leicht auf den Schlips getreten. Nicht immer haben wir den Grund erfahren, und wir wollten ihn auch nicht immer so genau wissen. Wir wollten nicht, dass sie sich in etwas hineinsteigert.«

»Sie sprachen eben von Problemen. Was für Probleme waren das?«

Elke Wagner öffnete ratlos ihre Hände. »Meine Tochter war sehr emotional. Sie hat sich alles zu Herzen genommen, jede Kritik, jede Zurückweisung. In der letzten Zeit ging es ihr nicht sonderlich gut. Aber oft hatte ich auch den Eindruck, dass sie übertreibt. Sie dachte immer gleich an Mobbing, wenn jemand nicht superfreundlich zu ihr war. Ich habe ihr gesagt, dass die Leute vielleicht ihre eigenen Probleme haben, aber sie hat alles immer nur auf sich bezogen.«

»Wissen Sie, was Ihre Tochter gestern nach ihrem Auftritt vorhatte? Wollte sie irgendwohin? War sie mit jemandem verabredet?«

Die Eheleute schwiegen. Birthe und Daniel ließen ihnen Zeit zu antworten.

»Wir ermitteln vorrangig in Jessicas persönlichem Umfeld. Vielleicht können Sie uns bei den folgenden Fragen weiterhelfen«, sagte Birthe. »Mit wem hatte Ihre Tochter in der letzten Zeit Kontakt? Ist sie mit jemandem in Streit geraten?«

Elke Wagner zuckte stumm mit den Schultern. »Gestern Abend hatte sie sich über die anderen Musiker geärgert, weil sie sich nicht beachtet gefühlt hat. Das hat Jessica besonders gehasst: wenn man sie ignoriert hat.« Sie faltete ihre Hände und legte sie in den Schoß.

»Ich verstehe«, antwortete Birthe. Kurz dachte sie daran, dass auch ihr Verhältnis zu ihren Eltern längst nicht mehr so innig war wie vor einigen Jahren und dass sie manchmal regelrecht vergaß, sich bei ihnen zu melden. »Eltern wissen nicht alles von ihren Kindern. Aber Sie können ja mal darüber nachdenken. Sie müssen nicht sofort antworten. Sobald Ihnen etwas einfällt, melden Sie sich einfach bei uns.«

»Dazu wird uns nichts einfallen«, sagte Herr Wagner kurz und knapp. »Jessica hat nicht viel mit uns geredet. Über ihr Privatleben wissen wir wenig. Wir vermuten, dass sie in der letzten Zeit eine Beziehung hatte, das ist auch schon alles. Vor etwa einem Vierteljahr war sie noch gut gelaunt, fast euphorisch, und in der letzten Zeit war sie wie ausgewechselt – eher deprimiert und sehr still.«

»Ich hatte schon engen Kontakt mit Jessica«, antwortete Elke Wagner. »Sie hat sich täglich bei mir gemeldet. Wir haben telefoniert oder kurz gechattet. Trotzdem hatte ich den Eindruck, sie wollte mir nicht alles sagen. Ich habe es so hingenommen, wollte nicht in sie dringen. Das mochte sie nämlich nicht. Dann hat sie dichtgemacht und mich nicht mehr an sich herangelassen.«

»Gab es jemanden, vor dem sie Angst hatte?«, fragte Birthe.

»Sie war sehr sensibel«, sagte Christian Wagner. »Ängstlich nicht, aber sensibel. Oder?« Er suchte Bestätigung bei seiner Frau.

»Sie hatte Angst vor Menschen. Vor Menschenmengen«, fügte Elke Wagner hinzu. »Sie brauchte den Applaus, war regelrecht süchtig danach, aber kurz vor einem Auftritt wäre sie jedes Mal fast gestorben vor Angst. Entschuldigen Sie mich bitte für einen Moment.« Sie ging aus dem Raum und kam wenig später mit einer Flasche Mineralwasser und zwei Gläsern zurück. Während sie die Gläser füllte, entstand eine Redepause.

*

Am Steuer des neuen weißen Mercedes saß Alwin Müller. Vorsichtig rangierte er das Fahrzeug aus der Hofeinfahrt. Angelina ärgerte sich, dass ihr wie gewöhnlich nur der Part der Beifahrerin zukam. Sie schaltete das Radio ein und wechselte den Sender, um nicht während der Fahrt Alwins Musikgeschmack ausgesetzt zu sein.

»Mach’s wenigstens nicht so laut«, brummelte Alwin. »Bin lange kein Automatik-Auto mehr gefahren, muss mich erst wieder umgewöhnen.«

»Ich habe dir angeboten, die Strecke zu übernehmen, kenne mich mit Automatik aus, aber du wolltest ja nicht.«

Er verzog keine Miene, blickte stur geradeaus. »Imposanter Straßenkreuzer, oder?«, sagte er nach einer Weile. »Man sitzt wie in einer Badewanne, nur gemütlicher. Ich fahre den echt gerne.«

»Ich mag die weichen Ledersitze. Man versinkt förmlich darin. In diesem Auto könnte ich bis nach Italien fahren und würde frisch und ausgeruht aussteigen. Hast du schon mal nach oben geschaut?«, fragte Angelina.

Er grinste nur.

»Ein Sternenhimmel im Wagendach, geil, oder? Wie ein Ami-Schlitten. Fehlt nur noch eine Getränkebar im Fond, dann könnte man Party machen.«

Erneut grinste Alwin und warf ihr einen kurzen Blick zu. »Ja, ja, in eurem Alter habt ihr nur Feiern im Kopf.«

Im Radio kam ein Lied, das Angelina mochte. Sie drehte es lauter und sang mit.

Eine Weile ließ er es über sich ergehen, dann reichte es ihm. »Eine Sängerin wird aus dir sicher nicht«, murrte Alwin. »Wenn du mich fragst, triffst du keinen Ton. Jeder Elefant ist musikalischer als du.«

Angelina verstummte und schaltete das Radio ab.

Er drehte sich zu ihr hin. »Weißt du, was mich wundert?« Er musste auf die Bremse treten, weil ein Radfahrer ausscherte. Alwin fluchte leise. Auf der Lotter Straße war wie immer reger Verkehr.

»Sag schon.«

»Du wirkst sehr fröhlich, dabei ist doch gerade erst deine beste Freundin gestorben.«

»Ich zeige das eben nicht so. Hab schon genug geheult. Aber zum Glück kann ich es zwischendurch ein bisschen verdrängen. Muss ja auch sein, sonst könnte ich meine Arbeit nicht machen.«

»Ich sehe das anders. Gerade habe ich mir die Frage gestellt, ob du nicht sogar ein bisschen froh bist über ihren Tod.«

Sie fuhr herum. »Wie meinst du das?«

Er hielt an einer roten Ampel. Fußgänger und Radfahrer kreuzten die Straße. Eine Mutter zog ihr bockiges Kleinkind mit sich. Es wollte aus irgendeinem Grund immer wieder zurück. Alwin trommelte auf dem mit cremefarbenen Leder bezogenen Lenkrad. Es hatte die gleiche Farbe wie die Sitze. »Na ja, seien wir mal ehrlich, du hast dich oft über sie geärgert. Tobecke wollte sie in der Band haben und dich nicht. Sie hatte wohl etwas mehr Glück als du. Vor allem Talent.«

»Ey, sie war meine Freundin, ich habe ihr das gegönnt!«

»Das hat mal anders geklungen. Du warst sauer, du warst wütend, du hast getobt vor Eifersucht. So habe ich dich erlebt, nachdem Tobecke ein ernstes Gespräch mit dir geführt hat. Schon vergessen? Wo bist du eigentlich noch hingegangen am Freitagabend? Ich habe dich am Neumarkt gesehen, nach dem Konzert.«

»Halt bloß die Klappe, Alwin, du übertreibst dermaßen! Ich wollte sowieso nächste Woche zur Polizei und eine Aussage machen.«

»Warum das? Was für eine Aussage?«

Sie schwieg und starrte aus dem Fenster.

»He, was willst du denen erzählen, jetzt sag schon!«

Angelina hob das Kinn und sah ihn an. »Wie geht es eigentlich deiner Mutter?«

Er kniff die Augen zusammen. »Worauf willst du hinaus?« Alwin Müller lief dunkelrot an.

»Zufällig kenne ich eine Mitarbeiterin aus dem Paulusheim, in dem deine Mutter zuletzt untergebracht war. Heike hat Sachen beobachtet, die dich nicht besonders toll dastehen lassen, Alwin. Einmal ist sie gerade noch rechtzeitig ins Zimmer gekommen, hat sie gesagt. Es hätte so ausgesehen, als ob du, na ja, du hättest deine Hände wohl gerade …«

»Und das willst du denen erzählen?«, schnitt er ihr barsch das Wort ab. »Was hat das mit deiner Freundin zu tun?«

»Was hat das damit zu tun, dass du mich in der Stadt beobachtet hast? Das kann ich genauso fragen. Bestimmt hast du wieder Katharina nachgestellt. Gib endlich auf, sie will nichts von dir.«

»Ich auch nichts von ihr.«

»Ja, ja, schon klar«, sagte sie spöttisch.

Er fuhr mit fast 70 Stundenkilometern über die Rheiner Landstraße und sie wies ihn darauf hin. »Das Knöllchen bezahlst du!«

Er drosselte die Geschwindigkeit. »Verdammt, bei diesen neuen Bestattungswagen merkst du nicht, wenn du zu schnell unterwegs bist.«

»Wenn wir gleich am Friedhof angekommen sind, kein Wort mehr, okay? Dirk hat seine Lauscher überall. Ich brauche nicht noch jemanden, der wirres Zeug erzählt.«

»Ich hätte sowieso nicht damit angefangen.«

»Du hast damit angefangen, Alwin«, sagte Angelina.

Den Rest der Fahrt schwiegen sie.

Alwin parkte das Fahrzeug direkt vor der Einfahrt des Krematoriums.

»Bleib sitzen, ich mach das schon«, sagte Angelina, nahm die Papiere aus dem Seitenfach und stieg aus.

Im Eingangsbereich kam ihr Dirk, der Leiter des Krematoriums, entgegen. »Hi, Angelina, wie geht’s, was habt ihr heute für mich?«

»Moin, Dirk! Eine junge Frau, sie sieht nicht mehr wirklich schön aus, wir haben uns alle Mühe gegeben, die Angehörigen wollten sie noch mal sehen, aber viel war nicht zu machen. Bereite die Ärztin auf ihren Anblick vor, wenn sie kommt, oder war sie schon da?«

»Eben weg, sie kommt erst morgen wieder. Ist es deine Freundin?«

Angelina schüttelte den Kopf. »Nee, die ist noch nicht freigegeben. Ich glaube auch nicht, dass die das über uns machen. Zumindest habe ich bisher nichts gehört. Die Leiche bei uns im Wagen ist ein Verkehrsopfer. Wir haben sie letzte Woche auf der A1 aufgesammelt. Die Angehörigen wünschen eine Trauerfeier mit Urne.«

Dirk nickte und nahm die Papiere entgegen. »Kann aber eine Weile dauern. Wir sind voll im Moment. In der Kühlhalle warten gut und gerne 40 Särge.«

»Können wir einen Kaffee haben? Alwin wartet im Wagen.«

»Alles klar, du weißt ja, wo die Maschine ist. Bedient euch ruhig. Ich bring dir schon mal den Sargwagen. Kommt ihr klar?«

»Ey, haben wir jemals Hilfe gebraucht?« Sie lachte.

Während sie den Kiefernsarg aus dem Bestattungsfahrzeug schoben, warf Angelina ihrem Kollegen einen stechenden Blick zu.

*

Durch ein halb geöffnetes Fenster drang Vogelzwitschern. Birthe versuchte, die Tragödie mit den Augen der Eltern zu sehen. Es war so ein herrlicher Frühlingstag, den Jessica nun nicht mehr erleben durfte. Keinen einzigen weiteren Tag. Ein junges Leben voll Hoffnung und Zukunft war ausgelöscht worden. Wie sollten die Eltern nur mit dieser endgültigen Gewissheit weiterleben! Der Schock würde noch kommen, manchmal erst bei der Beerdigung oder kurz danach. Davor gab es so viel zu tun, zu erledigen. Viele Angehörige machten erst einmal alle Schotten dicht, ließen keine Gefühle zu, konzentrierten sich aufs Wesentliche, funktionierten, weil sie funktionieren mussten. Erst danach begann die lange, dunkle Zeit der Trauer und der Verarbeitung.

Birthe verbot sich weitere Gedanken an die Eltern. Mitgefühl ja, Mitleid nein, hatten sie auf der Polizeiakademie gelernt. Sie musste lernen, sich viel mehr abzugrenzen.

»Früher kannte ich das nicht von Jessica. Noch vor wenigen Monaten hatte sie sich so sehr auf ihr neues Leben gefreut. Endlich hatte sie etwas gefunden, für das sie brannte. Sie wollte unbedingt in diese Band, sie wollte dazugehören, berühmt werden, aber das war natürlich nicht so einfach, wie sie sich das vorgestellt hatte«, sagte Elke Wagner leise.

»Wobei das überhaupt nicht unser Ding war«, ergänzte ihr Mann. »Wir hätten uns einen solideren Weg für Jessica gewünscht. Sie glauben nicht, wie oft ich bereut habe, ihr jahrelang diese teuren Klavierstunden bezahlt zu haben.«

»Und Gesangsunterricht«, ergänzte seine Frau.

»Gab es deswegen Konflikte?« Birthe musste diese Frage stellen, denn sie hoffte, dass die Eltern, solange die Emotionen noch frisch waren, unverfälscht Auskunft gaben, dass vielleicht Wahrheiten ans Licht kamen, die sich später nur mühsam ermitteln lassen würden.

Christian Wagner rang nach Worten. »Sie sollte etwas Vernünftiges aus ihrem Leben machen. Keinen Hirngespinsten nachhängen. Sie hat wohl Hobby mit Beruf verwechselt. Aber wie hätten wir ahnen sollen, dass sie plötzlich vorhatte, den Musikquatsch beruflich zu betreiben?«

»Wir haben vieles probiert«, fügte Elke Wagner hinzu. »Jessica hatte so viele Möglichkeiten und hat nichts daraus gemacht. Ins Baugeschäft einsteigen wollte sie nicht, obwohl wir sie immer wieder dazu ermuntert haben. Sie hatte keinerlei Interesse am Beruf meines Mannes. Den Unterricht an einer privaten Fachschule hat sie nach kurzer Zeit an den Nagel gehängt – sie hätte Heilpraktikerin werden können –, die Hotelfachschule in Hamburg hat sie ebenfalls nach sechs Monaten geschmissen. Es war nicht leicht mit ihr. Nichts genügte ihren Ansprüchen, nichts hat wirklich ihr Interesse geweckt. Wir haben schwere Zeiten mit Jessi hinter uns. Aber gerade wurde es wieder etwas besser. Und ausgerechnet jetzt musste sie gehen.«

Daniel lehnte sich vor. »War Jessica Ihr einziges Kind? Oder gibt es noch Geschwister?«, wollte er wissen.

»Jessica ist … Jessi war unser einziges Kind«, sagte Christian Wagner mit gebrochener Stimme. »Ich muss mich erst an die Vergangenheitsform gewöhnen.«

»Hat Jessica hier noch ein Zimmer?«

Die Eheleute nickten.

»Dürfen wir es sehen?«

Christian Wagner starrte den Kommissar an, als wunderte er sich über seine Frage. »Natürlich. Sie hatte einen eigenen Bereich. Eine ganze Etage. Wir hätten sie natürlich vermieten können, als sie ausgezogen war, aber das wollten wir nicht. Sie sollte wissen, dass sie hier ein Zuhause hatte und jederzeit willkommen war.« Christian Wagner erhob sich, um Birthe und Daniel den Wohnbereich seiner Tochter zu zeigen.

Dieser lag im Anbau des Hauses, zur Gartenseite hin, und war mindestens 90 Quadratmeter groß. Jessica hatte in ihrem Elternhaus eine komplette Wohnung für sich allein, mit Wohnzimmer, Schlafzimmer, Ankleidezimmer, modernem Badezimmer und hochwertiger Einbauküche. Die Wohnung war genauso elegant und im gleichen Stil eingerichtet wie der Rest des Hauses.

»War dies schon länger Jessicas Reich, hat sie hier früher gelebt?«, fragte Daniel verblüfft.

»Ja, seit ihrem zwölften Lebensjahr«, antwortete Christian Wagner. »Vorher hatte sie zwei große Zimmer im Obergeschoss. Aber sie sollte in der Pubertät genug Entfaltungsmöglichkeiten haben. Oft kommt es ja zum Streit, weil sich die Kinder eingeengt und gegängelt fühlen, das wollten wir vermeiden. Sie sollte es gut haben.«

»Sie sollte sich wohlfühlen.« Elke Wagner war von hinten an ihn herangetreten und legte ihre schmale Hand auf seine Schulter.

»Ähm, die andere Wohnung …«, brachte sich Daniel ein, »Haben Sie die auch eingerichtet?«

»Ja sicher. Das hätte Jessica alleine nicht gekonnt.« Der Bauunternehmer hustete kurz und sprach dann weiter: »Jessi brauchte mehr Freiraum, sie wollte sich abnabeln, ist doch normal mit Anfang 20, da haben wir das Haus am Lieneschweg für sie gekauft. Die obere Wohnung ist noch vermietet, die alte Dame wollten wir nicht vor die Tür setzen, aber früher oder später hätte unsere Tochter das Haus für sich allein gehabt. Ideal für eine Familie!«

»Mir macht es Spaß, Möbel auszusuchen und eine Wohnung einzurichten«, sagte Elke Wagner leise.

»An meiner Elke ist eine Innenarchitektin verloren gegangen«, sagte Christian Wagner mit einem liebevollen Seitenblick auf seine Frau.

Birthe fiel noch etwas ein. »Das Handy Ihrer Tochter ist mit einer PIN geschützt. Kennen Sie die zufällig?«

»Natürlich nicht«, lautete die prompte Antwort von Christian Wagner. »Wir haben die Privatsphäre unserer Tochter immer respektiert.«

»Kein Problem, unsere Spezialisten sind schon dran«, sagte Birthe. »Die werden das herausfinden. Haben Sie ein aktuelles Foto Ihrer Tochter?«

Er sah sich suchend um. »Irgendwo sicher. Ich werde es Ihnen mailen.«

Birthe reichte ihm ihre Karte mit allen Kontaktdaten. »Es dürfen auch zwei oder drei sein«, sagte sie.

Traurig sah er sie an. »Wann kann ich unsere Tochter sehen?«

»Sobald die Staatsanwaltschaft zustimmt«, sagte Birthe. »Sie wird zunächst in die Gerichtsmedizin gebracht.«

Das war zu viel für Frau Wagner. Sie umarmte sich selbst, als suche sie Halt. Dann fing sie hemmungslos an zu schluchzen und sackte in sich zusammen.

»Brauchen Sie einen Arzt?«, erkundigte sich Daniel und suchte Blickkontakt mit Birthe.

Elke Wagner schüttelte heftig mit dem Kopf.

»Selbstverständlich besteht zudem die Möglichkeit«, bot Birthe an, »dass Sie professionelle psychologische Hilfe erhalten. Wir haben eine Liste von hochqualifizierten Psychologen und Therapeuten. Ich hoffe auch, dass ich Ihnen noch heute einen Notfallseelsorger vorbeischicken kann. Wären Sie damit einverstanden?«

»Den brauchen wir nicht. Wir möchten jetzt einfach nur allein sein«, wischte Herr Wagner ihren Vorschlag beiseite, setzte sich neben seine Frau und nahm sie in den Arm.

Die Tote von der Maiwoche

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