Читать книгу Die Tote von der Maiwoche - Alida Leimbach - Страница 6
Kapitel 1
ОглавлениеOsnabrück, Freitag, 5. Mai, 19.50 Uhr
Kurz vor ihrem Auftritt saß Jessica Wagner auf einem Barhocker im hinteren Teil der Bühne und schaute zum wiederholten Male auf ihr Handy. In zehn Minuten war es so weit. Dann würde sie aufstehen, nach vorn gehen, ihr Lampenfieber überwinden und eine perfekte Show abliefern. Sie dachte an den Applaus hinterher, an Carsten. Er sollte stolz auf sie sein, sie beglückwünschen und in den Arm nehmen. Nichts anderes zählte in diesem Augenblick, nichts war wichtiger.
Als sie ihr Handy wieder einstecken wollte, zeigte ein Brummton den Eingang einer neuen Nachricht an.
Ich denke an dich, Schatz. Wie geht’s dir?
Jessica runzelte die Stirn. Schaffte sie es noch zu antworten? Die Zeit war eigentlich zu knapp. Weiß nicht, gab sie zurück. Die ignorieren mich.
Immer noch? Auch Carsten?
Nein, der nicht. Der will ja, dass ich singe. Aber die anderen hassen mich. Was kann ich dafür, dass ich für Katha einspringe.
Die kennen dich doch gar nicht.
Doch, als Backing schon. Da war ich ihnen egal. Kaum bin ich vorne und singe Kathas Solo, werde ich gemobbt.
Jemand von der Technik kam, um ihr ein neues Funkmikrofon zu bringen. Das andere hatte vorhin beim Soundcheck versagt.
Du machst das schon, textete ihre Mutter. Wir denken an dich!
Danke, Mama, tippte Jessica unter plötzlich aufsteigenden Tränen, die sie schnell wegklimperte, aus Angst, die Wimperntusche könne verschmieren. Wenn ich das bloß schon hinter mir hätte.
Schreib gleich, wie’s war, hörst du?
Ja.
Toi, toi, toi. Grüße auch von Papa!
Danke, Grüße zurück!
Seufzend ließ sie das Handy in ihre Tasche fallen. In der Zwischenzeit hatte sich der Jürgensort nahe der Alten Posthalterei gefüllt. Am Eröffnungstag der Maiwoche zeigte sich die Stadt Osnabrück von ihrer besten Seite. Die Temperaturen waren sommerlich warm, aber nicht drückend wie im Hochsommer, und vor allem regnete es nicht, wie so oft im Mai. Die Innenstadt hatte sich in ein Open-Air-Festival verwandelt, bei dem Musikgruppen auf mehreren Bühnen für ein buntes, stimmungsvolles und obendrein kostenloses Programm sorgten.
Als Jessica die Menschen sah, die sich dicht an dicht vor der Bühne drängelten, wurde ihr schwindlig. Ihr Herz klopfte nun gewaltig, und sie fragte sich, wie die anderen Bandmitglieder so ruhig bleiben konnten.
Max schlug leise die Sticks gegeneinander, um seine Hände aufzuwärmen. Mit seinem modernen Haarschnitt, dem Vollbart, der markanten Brille und den bunt tätowierten Armen setzte er sich von den älteren Musikern ab. Jessica fand ihn interessant und hätte gern mal ein paar Worte mit ihm gewechselt, aber Max gab sich ihr gegenüber äußerst einsilbig.
Gerade kam Jürgen und nahm seine Position am rechten Bühnenrand ein. Mit Carsten, Clarissa und Katharina hatte er vor Jahrzehnten die Blue Box gegründet. Damals waren sie noch eine Schülerband gewesen – jung, ambitioniert, leicht chaotisch, aber vollkommen unbekannt außerhalb der Schulmauern des Ernst-Moritz-Arndt-Gymnasiums. Mittlerweile hatten sie sich auch außerhalb Osnabrücks einen Namen gemacht und waren von der jährlich stattfindenden Maiwoche nicht mehr wegzudenken. Jessica kannte Jürgen auf der Bühne nur mit schwarzer Satinweste über dem weißen Hemd. Die silbergrauen, streng zurückgekämmten Haare und die auf Hochglanz polierten Schuhe machten ihn zum Gentleman der Band. Konzentriert stimmte er seine E-Gitarre, ließ sich durch nichts ablenken.
Clarissa war auch schon da und schraubte ihre Wasserflasche auf. Die Sängerin mit der kräftigen Stimme, der roten Lockenmähne und den weiblichen Rundungen fiel durch ihren ausgefallenen Kleidungsstil auf. Ihre weiten, knallbunten Klamotten kombinierte sie im Lagenlook. Dazu trug sie derbe Boots mit pinkfarbenen Schnürsenkeln.
Mit zittrigen, eiskalten Händen schaltete Jessica ihr drahtloses Mikrofon ein und vergewisserte sich, dass es funktionierte, indem sie »Test, Test, Test, eins, zwei, drei« hineinhauchte. Der Tontechniker reckte zur Bestätigung einen Daumen in die Höhe. Sie nickte ihm zu und schaltete ihr Mikro aus, um ihre Stimmbänder zu lockern. »Ksch-ksch-ksch, mjam-mjam-mjam, do-mi-fa-so, mi-ma-mo-mu«, murmelte sie, und dabei fiel ihr Blick auf Carstens breiten Rücken.
Er musste am Klavier Platz genommen haben, während sie mit ihrer Mutter gechattet hatte. Den Hut tief in die Stirn gezogen, drehte er sich genau in dem Moment zu ihr um, als sie ihn beobachtete. Ein kräftiger Mann im grauen T-Shirt und zerrissener Jeans. Eine große Ruhe und Wärme ging von ihm aus. Er war fast 25 Jahre älter als sie, aber das hatte nie eine Rolle gespielt. Sie schluckte, als sich ihre Blicke trafen. Carsten hatte sie vor einer halben Stunde noch in den Arm genommen und ihr Mut zugesprochen. »Keine Angst, Hase, wird schon schiefgehen«, hatte er gesagt. »Sei authentisch, hab Spaß und zeig vor allen Dingen Gefühle. Wenn du es schaffst, sie zu berühren, werden sie dich lieben und dir auch kleine Fehler verzeihen. Wenn nicht, werden sie dich noch in dieser Nacht vergessen haben.« Das waren seine letzten Worte, bevor er sich zum Soundcheck begeben und sie völlig aufgewühlt zurückgelassen hatte. Gefühle kamen in ihr hoch, die sie nicht zulassen wollte. Schnell drehte sie sich weg. Sie musste sich auf ihren Auftritt konzentrieren.
Beginnen würden sie mit dem Hallelujah von Leonard Cohen, dann kamen etwas rockigere Stücke, die wahrscheinlich jeder im Publikum kannte und mitsingen würde, und danach wieder gefühlvolle Balladen. Vor allem die Solopartien, die sonst Katharinas Part waren, lagen ihr auf der Seele. In den Kehrversen würde Clarissa sie mit ihrer Altstimme unterstützen.
Fast automatisch sah sie wieder zu Carsten hinüber; sie konnte nichts dagegen tun. Die drei Monate mit ihm waren die schönsten in ihrem Leben gewesen. Fünf Jahre Lebenszeit hätte sie gegeben für ein weiteres Vierteljahr mit ihm, vielleicht auch zehn. Sie wusste, dass sie auf keinen Fall nochmals einen Mann finden würde, an dessen Seite sie sich so wohl, dermaßen geborgen und geliebt fühlen würde. Ob sie jemals darüber hinwegkommen würde, dass er sie nicht mehr wollte? Wahrscheinlich hatte er längst eine Andere, aber da er ein Riesengeheimnis um sein Privatleben machte, würde sie es vermutlich nie erfahren.
Jemand kam auf sie zu und bedeutete ihr, von dem Barhocker aufzustehen, auf dem sie saß. Sie brauchte ihn, um sich daran festzuhalten und gab ihn nur ungern frei. Als sie sich erhob, knickten ihre Beine ein wenig ein. Jetzt nur keinen Schwächeanfall bekommen, beschwor sie sich. Es fühlte sich schon wieder so an: Dröhnen in den Ohren, taube Beine, butterweiche, zittrige Knie, ein Gefühl von Luftknappheit. Am liebsten hätte sie auf der Stelle kehrtgemacht und die Bühne verlassen, aber zum Weglaufen war es ohnehin zu spät. Sie musste da durch.
Zum letzten Mal öffnete sie ihre Handtasche, um auf die Uhr zu sehen. Noch zwei Minuten. Nervös trippelte sie von einem Bein aufs andere. Sie verspürte plötzlich ein dringendes Bedürfnis und sah sich suchend um. Wo war gleich das nächste WC? Irgendwo hatte sie doch Dixi-Klos gesehen. Egal, die Zeit reichte sowieso nicht.
Die Techniker richteten die Scheinwerfer aus. Jessica blinzelte gegen das grelle Licht an. Das Publikum vor ihr war zu einer grauschwarzen, anonymen Masse verschmolzen. Vielleicht war es gut, dass sie keine Gesichter erkennen konnte, das machte es etwas leichter.
Max gab am Schlagzeug den Takt vor. Fast gleichzeitig setzte Jürgen mit seiner Elektrogitarre ein und Carsten schlug in die Tasten des weiß glänzenden Clavinova-Flügels. Er hatte ihn auf Orgelklang eingestellt. Als Carsten ihr zunickte, brach ihr der Schweiß aus. Mit zittrigen Beinen und einem Kloß im Hals trat sie vor zum Bühnenrand, atmete tief durch und dachte gerade rechtzeitig daran, ihr Mikrofon einzuschalten.
*
Mit dem kräftigen Applaus fiel zwei Stunden später endlich die Anspannung von ihr ab. Alles war gutgegangen. Weder war sie mit ihren High Heels über ein Kabel gestolpert noch hatte ihre Stimme versagt. Vor allem war das gefürchtete Blackout ausgeblieben, ihre Angst vor Textschwächen, Aussetzern oder verwechselten Strophen. Das kam manchmal vor, wenn sie besonders aufgeregt war. Aber heute war alles wie geschmiert gelaufen. Der größte Lohn war Carstens zufriedener Gesichtsausdruck.
Alle fünf fassten sich nun an den Händen und verbeugten sich tief. Jessica fühlte Carstens warme, zupackende Hand und gleichzeitig Jürgens schlaffes, feuchtes Händchen. Sie ließen los, um sich sogleich in den Armen zu halten. Eine Reihe gut befreundeter, bestens aufgelegter, zufrieden strahlender Musiker.
»Jessi, Jessi!«, ertönten Rufe aus dem Publikum. Jessica suchte Blickkontakt mit Clarissa, doch die reagierte nicht. Der Auftritt war vorbei und Clarissa nicht mehr in ihrer Rolle. Sie musste sich nicht länger zusammenreißen, nicht wie eben auf der Bühne die beste Freundin spielen. Clarissa sah stur geradeaus und verzog keine Miene.
Carsten schob Jessica nach vorn, damit sie sich für ihr Solo einen Extra-Applaus abholte. Mit einer weit ausholenden Geste deutete er auf sie und strahlte stolz und selbstsicher ins Publikum. Jessica war es peinlich, die Aufmerksamkeit so sehr auf sich zu ziehen, gleichzeitig genoss sie es.
Beim Zurückgehen bemerkte sie Jürgens Blick, und da fühlte sie sich sofort schlecht.
Vereinzelt ertönten immer noch Zugabe-Rufe, aber nun war Schluss.
Die Scheinwerfer gingen aus, die Menschenmenge löste sich auf. Die Bühne gehörte jetzt den Technikern, die Instrumente entstöpselten und das Equipment abbauten. In zwei Tagen würden sie alles am Nikolaiort erneut aufbauen.
Jessica stand verloren im Backstagebereich und wusste nicht, was sie tun sollte. Sie war wieder das schüchterne, unsichere Mädchen, das sie vor dem Auftritt gewesen war.
Carsten kam mit ausgestreckten Armen auf sie zu. »Glückwunsch, Jessi, das war dein bester Auftritt bisher! Du hast dich endlich mal getraut, loszulassen, man hat dir angesehen, dass du Spaß hattest. Du hast Gefühl gezeigt, warst bei dir, total authentisch! Und du hast der Blue Box eine ordentliche Portion Glamour verliehen! Komm her und lass dich drücken.« Er zog sie an sich und küsste ihr Haar. »Ich bin stolz auf dich, Süße. Und du Dummerchen wolltest mir nicht glauben. Du bist doch tatsächlich eine Rampensau, wer hätte das gedacht. Unsere kleine Prinzessin war der Star des Abends. Das Publikum liebt dich, es hat dich ins Herz geschlossen!«
»Ich hätte nicht gedacht, dass es so voll wird«, gab Jessica zu. »Ich habe am ganzen Körper gezittert, als ich das Menschenmeer gesehen hab. Unglaublich, echt!«
»Was hast du erwartet, heute ist Eröffnung, da steppt der Bär!«, erwiderte er, während er sie mechanisch streichelte. »Das wird noch ordentlich rundgehen in den nächsten zehn Tagen. Letztes Jahr kamen fast 900.000 Besucher zur Maiwoche. Ich bin froh, dass ich mein Hotel rechtzeitig gebucht habe. Seit Wochen ist kein Bett mehr in Osnabrück zu bekommen, besonders in der Nähe der Festmeile.«
»Das glaub ich. Sonst hättest du auch pendeln können, nach Rheine ist es ja nicht wirklich weit.«
»Gut, aber es ist schöner, dicht dran zu sein. Ich genieße das sehr«, raunte er in ihr Ohr. »Wenn wir übermorgen am Nikolaiort spielen, hoffe ich, dass Katharina immer noch krank ist. Da bin ich ehrlich, auch wenn es etwas gemein klingt. Ich mag im Moment keine Auseinandersetzungen mit ihr. Hat Zeit bis nach der Maiwoche. Der Zufall wollte es, dass du endlich deine Chance bekommst. Du hast Katha würdig ersetzt, Engel. Ganz großes Kino!« Erneut küsste er ihr Haar.
»Danke, die anderen sind da anscheinend anderer Meinung.«
Er seufzte. »Neider gibt es immer, das ist leider so. Damit musst du klarkommen. Sei stolz auf dich und genieße deinen Erfolg. Du bist einfach besser als Katharina. Bald bist du die Nummer eins der Blue Box und bekommst ihren Platz. Du wirst dann unsere Frontfrau. Mir egal, was die anderen dazu sagen. Ich trage schließlich die Verantwortung.«
»Und Katharina? Du kannst sie nicht einfach rauswerfen! Wie komme ich mir denn vor? Ich kann doch nicht meine Karriere auf ihrem Leid aufbauen. Ich will Katha nicht den Platz wegnehmen. Sie tut mir leid.«
Nachdenklich löste er sich von ihr und betrachtete sie. »Schau mal, wäre sie nicht krank geworden, hätte sie den Applaus bekommen und nicht du. Vergiss nicht, wie lange wir darauf hingearbeitet haben! Jetzt kann keiner mehr sagen, Jessica Wagner wäre nur schmückendes Beiwerk. Das war deine Chance, und du hast sie genutzt!«
»Ich kann mich nicht richtig freuen, solange es Katha schlecht geht und mir die anderen den Erfolg nicht gönnen.«
Er runzelte die Stirn. »Von wem sprichst du?«
»Das weißt du genau.«
»Sag es mir.«
Sie zögerte einen Moment. »Alle. Jürgen und Clarissa. Und natürlich Katharina und Max.«
Er winkte ab. »Du machst dich verrückt. Katharina hat ihre Chance gehabt, aber ihre besten Zeiten sind vorbei. Ihre Stimme trägt nicht mehr, sie sieht nicht mehr ganz so gut aus wie früher. Sie muss damit fertigwerden, dass jetzt für sie der Hammer fällt. Ich schicke sie in Rente. Jeder Mensch ist ersetzbar, das ist leider Fakt. Irgendwann ist Schluss. Das ist das Business, das läuft überall so. Man muss anpassungsfähig bleiben, sonst laufen einem auf Dauer die Fans weg. Und neue kommen nicht hinzu, weil unsere Band langsam überaltert. Manchmal muss man einfach Entscheidungen treffen, auch wenn sie im ersten Moment nicht schmecken.«
»Und irgendwann bin ich dann weg vom Fenster«, sagte Jessica nachdenklich.
»Quatsch, irgendwann ist nicht heute. Heute bist du gut. Sogar saugut, um es auf den Punkt zu bringen. Und jetzt wird gefeiert!« Er nahm ihren Arm, um sie mitzuziehen.
Sie stemmte sich dagegen. »Nein, Carsten, sei mir bitte nicht böse, aber ich komme nicht mit.«
Er konnte seine Unzufriedenheit nicht verbergen. »Was soll das heißen, du kommst nicht mit?«
»Mir ist nicht danach.«
Zwischen seinen Augen bildete sich eine Furche. »Willst du mich strafen, weil ich mit dir Schluss gemacht hab? Ist es das?«
Sie errötete. »Nein, ist schon okay. Das ist es nicht.«
Er sah sie eindringlich an und redete ruhig auf sie ein. »Du musst dich entscheiden, zu wem du gehören willst, Jessica, zu den Gewinnern oder zu den Verlierern. Gewinner glauben an sich, während Verlierer nur auf andere schauen und aus Angst, ihnen nicht das Wasser reichen zu können, den Kopf in den Sand stecken. Willst du das? Aufgeben? Ist es das, was du willst? Zeig ihnen, dass du dazu gehörst und sie ab heute mit dir rechnen müssen!«
Plötzlich verdüsterte sich ihre Miene. »Sie war da, oder? Ich meine, ich hätte sie im Publikum gesehen, rechts vor der Bühne.«
Er steckte die Hände in die Jeanstaschen und stieß die Luft aus. »Ja, du hast recht. Sie war da.«
»Hast du ihren Gesichtsausdruck gesehen?«
Er seufzte. »Jessi, hör mir zu, wisch das alles beiseite. Ich mache mir manchmal Sorgen um dich, weil du so sensibel bist und leicht Stimmungen von anderen aufnimmst. Das ist nicht gut. Lass dich nicht runterziehen, hm? Vor allem nicht von ihr. Sie muss allein damit fertigwerden. Es ist ihre Sache. Sie ist erwachsen und schafft das. Erfolg kann man nicht im Laden kaufen, nach dem Motto: ›Hey, gib mir mal eine Portion Erfolg für drei Euro!‹ Nee, so läuft das nicht. Vor allem nicht in diesem Business.«
»Ich weiß, aber es ist ein verdammt blödes Gefühl.«
»Denk dran, was ich dir gesagt habe. Denk positiv. Denk nur an dich. Jessi first. Sonst geht die Rolltreppe wieder abwärts, und das willst du doch nicht. Ich will dich oben sehen, Jessi, ganz oben, da gehörst du hin!«
Sie sah an ihm vorbei. »Ich glaube, ich kann das nicht, Carsten. Ich habe Angst.«
»Oh doch, das kannst du. Das musst du sogar. Ich verlange es von dir, schließlich hab ich eine Menge Kohle in dich gesteckt. Ich habe viel in dich investiert, vergiss das nicht, nicht nur Geld, sondern auch Zeit und Herzblut. Ich will, dass sich das auszahlt! Du lässt mich nicht im Stich, Jessi. Du ziehst das durch. Und was die Fehler anbelangt, bleib cool. Ein kluger Mann hat mal gesagt, ich glaube, es war Dietrich Bonhoeffer: ›Der größte Fehler, den man machen kann, ist, immer Angst zu haben, einen Fehler zu machen.‹ Und jetzt wird gefeiert! Wir wollen noch ein paar Bier zischen. Und ich will dich dabeihaben.« Wieder versuchte er, sie mitzuziehen.
Sie machte sich steif. »Heute nicht, Carsten. Die letzten Tage waren extrem anstrengend, die Proben und so, ich bin total durch den Wind und will früh schlafen gehen.«
»Schlafen gehen?« Er streifte sie mit einem Blick der Verachtung. »Du kannst genug schlafen, wenn du tot bist. Wir feiern heute Abend vor allem dich, Prinzessin! Deinen Aufstieg zur Frontsängerin! Sei nicht so undankbar! Ein Bierchen, mehr nicht. Danach schläfst du wie ein Baby. Wir treffen uns ja morgen erst um zehn.«
Sie winkte ab. »Ich mach mich vom Acker, ehrlich. Ich bin fertig. Da hat keiner was von. Außerdem will ich jetzt nicht mit den anderen reden, will mich nicht rechtfertigen müssen. Hab keine Lust auf ihre mürrischen Gesichter. Die ziehen mich runter. Wir sehen uns morgen bei der Probe.«
Carsten setzte eine enttäuschte Miene auf und rückte seinen Hut zurecht. »Okay. Wenn du es dir anders überlegst, kommst du einfach nach. Wir sind am Maibrunnen auf dem Marktplatz, vor der Marienkirche, du weißt schon.«
»Ja, ich weiß.« Jessica schulterte ihre Tasche und ging, ohne sich noch einmal umzusehen.