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Kapitel 4

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Ich habe seit zwei Tagen nicht mehr geschrieben. Eigentlich schreibe ich überhaupt nicht gerne, aber Maren verlangt das von mir. Es sei Teil der Therapie, erklärt sie jedes Mal aufs Neue. Ein Tagebuch soll ich führen, dabei liegt mir das überhaupt nicht. Wenn die Seiten leer geblieben sind, finde ich keinen richtigen Anfang. Ich sehe keinen Sinn darin, habe mein Leben lang nicht gerne geschrieben. Aber Maren glaubt, ich bekomme meine Aggressionen am besten in den Griff, wenn ich alles aufschreibe, was mich belastet. Das wäre besser, als andere darunter leiden zu lassen. Sicher stimmt das, aber wenn ich unterwegs einen Rappel kriege, ist ja auch nicht gleich Papier und Stift zur Hand. Und wenn ich dann zu Hause bin und schreiben könnte, ist meine Wut nicht mehr so stark, sondern hat sich inzwischen abgekühlt.

Trotzdem ist Maren der Meinung, ich würde mich besser fühlen, wenn ich schreibe. Manchmal glaube ich ihr sogar. Manchmal fühle ich mich tatsächlich besser. Aber im Moment fühle ich gar nichts. Da ist nur Leere, ein großes Fragezeichen.

Gestern Abend hatte ich wieder so einen Tiefpunkt. Der Tag war bis dahin eigentlich noch gut. Mit ein paar Leuten war ich auf der Maiwoche. Da war ordentlich was los. Wir haben am Markt Bier getrunken und was gegessen. Dann sind wir weitergelaufen bis zum Nikolaiort und haben uns da umgesehen. Eine Band hat gespielt. Das war aber nicht wirklich meine Mucke und wir sind weitergezogen. In der Großen Straße wurde es richtig voll. In der Georgstraße sind wir auch nur kurz stehen geblieben und haben einer Coverband zugehört, dann sind wir noch einmal weitergezogen bis zum Jürgensort. Und da habe ich sie entdeckt. Jessi stand ganz vorne, das war ein ungewohnter Anblick. Sonst war ihr Platz immer hinter den Gitarristen. Manchmal sah man sie gar nicht. Aber heute wirkte sie wie ein Star. Wunderhübsch. Ich habe sie lange angestarrt. Die anderen Musiker aus der Band habe ich gar nicht wahrgenommen. Ich könnte nicht mal sagen, wer sonst noch mit dabei war und was sie anhatten. Jessi hat mich überrascht. Ich wusste gar nicht, dass sie mittlerweile so gut singen kann. Irgendjemand hat mal gesagt, ihre Stimme sei mittelmäßig und reiche nur für den Backgroundchor, aber nun weiß ich, dass das nicht stimmt. Sie hat wirklich krass gesungen, an einigen Stellen sogar solo. Auf mich hat sie wie eine richtige Sängerin gewirkt, cool und souverän. Wie ein Star eben.

Nebenan war ein Getränkestand und wir haben noch ein oder zwei Biere geholt. Die anderen hatten dann keine Lust mehr und sind weitergezogen. Ich bin geblieben. Ich wollte Jessi bis zum Schluss sehen. Ich stand da mit meiner Bierflasche in der Hand und habe sie, glaube ich, völlig perplex angestarrt. Im ersten Moment war ich glücklich, aber dann kam diese komische Stimmung wieder, die mir immer den Boden unter den Füßen wegreißt. Mir wurde ganz schlecht vor Melancholie und Einsamkeit inmitten der vielen Menschen, trotzdem konnte ich mich nicht überwinden weiterzugehen. Hätte ich das nur getan. Aber ich konnte nicht. Irgendeine höhere Macht hat mich gezwungen zu bleiben. Mich zieht das Unglück einfach magisch an. Ich habe das falsche Gespür, gerate immer in Situationen, die mir nicht guttun. Ich suche und finde das Unglück.

Meine Therapeutin sagt, ich würde mich damit unbewusst meiner Vergangenheit stellen. Das Gefühl von Einsamkeit wäre der Moment, in dem ich mir meiner Verlustängste und Traumata bewusst wäre. Ich sollte das aushalten, nicht dagegen angehen, dann würde es besser werden und vielleicht irgendwann ganz verschwinden. Im Flow bleiben, nennt sie das. Alles, was ich brauche, sei Geduld. Aber bisher warte ich vergebens. Im Gegenteil, es wird schlimmer und schlimmer. Ich komme immer schlechter mit mir selber klar.

Als das Konzert zu Ende war, habe ich auf sie gewartet. Eigentlich wollte ich nichts Bestimmtes von ihr, einfach nur in ihrer Nähe sein, mit ihr reden, ihr zu dem tollen Auftritt gratulieren. Aber sie hat mir wieder mal die kalte Schulter gezeigt. Kenn ich ja schon. Sie sei müde, hat sie gesagt, habe keine Lust mehr und wolle schnell nach Hause, aber ich habe ihr das nicht abgenommen. Sie sah überhaupt nicht müde aus. Hat mich einfach abblitzen lassen. Richtig blöd bin ich mir vorgekommen. Ein Autogramm hätte sie mir wenigstens geben können, irgendetwas, das ich mit nach Hause hätte nehmen können. Etwas von ihr eben. Ich war sehr enttäuscht, wollte mich aber nicht so einfach abschütteln lassen.

Sie ging zu den Bussen am Neumarkt, und ich bin ihr gefolgt. Ich glaube, sie hat das nicht mitbekommen, jedenfalls hat sie sich kein einziges Mal umgedreht. Es war ja auch so viel los auf der Maiwoche, dass es seltsam gewesen wäre, wenn sie sich verfolgt gefühlt hätte. Wahrscheinlich wusste sie, wie die Busse abends fahren, denn lange warten mussten wir nicht. Nach ein paar Minuten kam die 36 in Richtung Eversburg. Sie ist vorne eingestiegen, hat sich gleich hingesetzt, während ich schnell nach hinten durchging. Ich glaube, sie hat das nicht mitbekommen, denn der Bus war knackvoll. Viele Leute mussten stehen.

Auf der Fahrt ist mir vieles durch den Kopf gegangen. Ich habe mich wieder mal gefragt, woher die Ungerechtigkeit in der Welt kommt. Manche Menschen werden mit einem goldenen Löffel im Mund geboren. Sie haben von Anfang an gute Karten, waren ein Wunschkind, haben Eltern und Großeltern, die sie vom ersten Atemzug an lieben und verwöhnen, die alles für sie tun, ihr Leben für sie geben würden. Hauptsache, dem Kind geht es gut, Hauptsache, es hat alles, was es braucht, und noch viel, viel mehr. Wer hat, bekommt noch mehr. Das ist die große Ungerechtigkeit in der Welt. Andere hingegen müssen mit fast nichts auskommen. Keiner will sie, sie sind ungeliebt, von Geburt an, und keiner kümmert sich richtig darum. Ihnen fehlt alles, was ein gutes Leben ausmacht: Liebe, Wärme, Geborgenheit, körperliche und geistige Nahrung. Es fehlen einfach jene Startbedingungen, die ein glückliches, gelingendes Leben ausmachen. Sie lernen von Anfang an zu verzichten und zu entbehren, und kein Jugendamt der Welt schert sich darum. Warum ist das so? Warum werden Menschen geboren, um glücklich zu sein, und andere, um unglücklich zu sein? Wer ist schuld an dieser Ungerechtigkeit? Warum können nicht alle Menschen die gleichen Startbedingungen haben? Dann wäre die Welt viel reicher, und alle würden viel freundlicher miteinander umgehen. Ich suche ständig nach Antworten. Den Politikern kann man nicht die Schuld geben, so viel habe ich inzwischen gelernt. Ihre Aufgabe ist es nicht, es allen recht zu machen. Sie sind nicht für unser Glück verantwortlich. Sie werden es niemals erreichen, jede Ungerechtigkeit aus der Welt zu schaffen und für Gleichheit zu sorgen. Und es wäre fatal, aus lauter Unzufriedenheit den Falschen hinterherzulaufen. Maren sagt, ich soll aufhören, so viel zu grübeln, das würde nichts bringen und mich fertigmachen, es würde sowieso nichts ändern, aber das ist leicht gesagt. Wenn diese Gedanken kommen, kann ich nichts dagegen tun. Sie überrollen mich und ich fühle mich dann noch schlechter, noch minderwertiger als sonst. Ich muss abwarten, bis sie von selbst aufhören. Übrigens stimmt es nicht, dass man nichts dagegen tun kann, man kann. Das weiß ich aus Erfahrung. Zumindest kurzfristig geht es einem dann besser. Aber was ich mache, ist immer nur falsch.

*

Tobecke wickelte ein Kaugummi aus dem Papier und steckte ihn sich in den Mund.

Birthe sah ihm dabei zu. »Machen wir weiter, Herr Tobecke«, sagte sie erschöpft. »Erinnern Sie sich an den gestrigen Auftritt. Wie hat Jessica Wagner auf Sie gewirkt?«

Carsten Tobecke knetete seinen Hut zwischen den Händen und kaute vor sich hin. »Sie war … wie wir alle … glücklich. Alles lief rund. Keine einzige Panne. Wir waren alle happy und sind feiern gegangen, leider, wie gesagt, ohne Jessi.«

»Kein Streit im Vorfeld?«

Mit einem fast betrübten Ausdruck schüttelte Carsten Tobecke den Kopf. »Nein, absolut nicht.«

»Was war vorher? Ich könnte mir denken, dass so ein Auftritt recht anstrengend ist. Lange Proben, man muss sich abstimmen, verbringt viel Zeit miteinander, da passiert es leicht, dass es zu Meinungsverschiedenheiten kommt, zu einem Streit, dass manchmal sogar die Fetzen fliegen.«

Tobecke wischte sich den Schweiß von der Stirn. »Kann passieren, wir sind ja alle keine Heiligen. Aber Jessi hatte keine Feinde. Die mochte jeder.«

»Es müssen nicht gleich Feinde sein, manchmal entsteht ein Streit aus dem Nichts. Da reicht es schon mal, dass man schlecht geschlafen hat und gestresst ist. Und bei temperamentvollen Gemütern schaukelt er sich schon mal hoch. Da können Kleinigkeiten, die einen normalerweise nicht aufregen, zu einem Riesenstreit führen.« Birthe merkte an seiner Reaktion, dass sie ins Schwarze getroffen hatte, während Tobecke versuchte, sich nichts anmerken zu lassen.

»Jessi gehörte noch nicht richtig zur Band«, fuhr er fort. »Sie hat gestern zum ersten Mal vorne gesungen und dann gleich solo. Das war ihr Einstand sozusagen. Sie hat ihre Sache wirklich gut gemacht. Wir waren alle sehr zufrieden. Richtig happy waren wir.«

»Was ist mit der kranken Sängerin? War sie auch happy, dass Jessica Wagner für sie eingesprungen ist?«

Überrascht hob er den Kopf. Mit einigem Zögern setzte er zur Antwort an. »Ich denke schon. Wenn man ausfällt, gibt es Ersatz. Das ist ganz normal. In jeder Branche ist das der Fall. Bei Ihnen doch auch, oder nicht? Oder bringen Sie gleich Ihren Kollegen um, wenn er Sie im Krankheitsfall ersetzt?« Er machte ein schmatzendes Geräusch mit seinem Kaugummi.

»Ich habe nicht gesagt, dass ich die kranke Sängerin verdächtige. Wie heißt sie überhaupt?«

»Katharina Jütting.«

»Könnte ich einen Grund haben, Frau Jütting zu verdächtigen?«

Carsten Tobecke sah zur Wagendecke und machte eine Blase mit dem Kaugummi. »Das habe ich nicht behauptet. Aber beste Freundinnen waren sie sicher nicht.«

»Vorhin haben Sie gesagt, es hätte keiner was gegen Jessica Wagner gehabt.«

»Nein, das nicht«, meinte er ausweichend. »Das hatte ja auch keiner. Trotzdem waren Katharina und Jessica nicht unbedingt Freundinnen. Das ist etwas anderes.«

»Hat Frau Jütting sich mal abwertend über Jessica Wagner geäußert?«

»Nicht, dass ich mich erinnere, nein. Es ist nur ein Gefühl, mehr nicht.«

»Meinten Sie vorhin Frau Jütting, als Sie sagten, jetzt hätte sie erreicht, was sie wollte?«

»Das weiß ich nicht mehr, vielleicht. Ich habe an keine konkrete Person gedacht.«

»Trotzdem ist es Ihnen spontan herausgerutscht.«

»Das passiert mir häufig. Ich denke nicht immer, bevor ich spreche. Das wird mir oft zum Verhängnis. Daran sind schon viele Beziehungen gescheitert.«

»Gerade habe ich das Gefühl, dass Sie die kranke Sängerin der Tat bezichtigen.«

»Glauben Sie, was Sie wollen.« Er streckte seinen Rücken durch und setzte seinen Hut auf.

»Wie lange kannten Sie sich? Sie und Jessica Wagner?«

»Seit ungefähr zehn Monaten. Damals war Jessi Backgroundsängerin einer völlig unbekannten Band und trällerte nur unterstützend den Refrain mit. Sie konnte mehr, das habe ich gleich gemerkt. Sie hatte Potenzial. Ich habe sie angesprochen und gefragt, ob sie Lust auf Probeaufnahmen hätte. Natürlich hatte sie das. Wir haben unsere Nummern getauscht und gleich am nächsten Tag habe ich sie angerufen. Von da an unterstützte sie uns manchmal als Backgroundsängerin, sie und ihre Freundin Angie. Aber Angie blieb nicht lange, zum Glück. Hat sich bei uns anscheinend nicht wirklich wohlgefühlt. An Talent fehlte es ihr sowieso. Von daher war ich froh, dass Angie von selbst die Segel gestrichen hat und ich sie nicht rausschmeißen musste.«

Birthe erkundigte sich nach dem Namen der Band und musste zugeben, dass sie ihn nie zuvor gehört hatte.

»Eine Osnabrücker Band«, erklärte Tobecke. »Gibt es schon lange, genau genommen seit Jahrzehnten, ist aus einer Schülerband hervorgegangen. Damals hießen wir ›Nonsense‹. Jürgen und ich kennen uns seit unserer Kindheit. Aber erst jetzt starten wir so richtig durch. Wir bekommen inzwischen Anfragen aus ganz Niedersachsen mit guten Gagen. Das war früher nicht der Fall. Da mussten wir gewaltig Klinken putzen, wenn wir mal irgendwo auftreten wollten. Gemäß dem Slogan: ›Zahlen können wir nichts, aber es ist ja auch Werbung für Sie, wenn Sie auftreten.‹ Geil, ne?« Er legte mitleidheischend sein Gesicht in Falten.

»Was ist mit diesem Jürgen? Wie heißt er mit Nachnamen?«

»Jürgen Teepe. Er ist älter als ich, geht auf die 60 zu. Hat immer noch Flausen im Kopf. Dem merkst du sein Alter nicht an, der spielt virtuos Saxophon wie kein anderer. Ein guter Gitarrist ist er außerdem.«

»Wer gehört noch zur Band?«

»Max Grewe, Schlagzeuger. Er ist ziemlich jung, aber das spielt keine Rolle. Er hat’s voll drauf. Ich hoffe, er wird uns erhalten bleiben, denn er studiert schon seit Ewigkeiten Psychologie und will ja vielleicht mal fertig werden mit dem Studium. Dann ist da noch Clarissa Will, eigentlich Erzieherin. Sie hat eine schöne, tiefe Soulstimme. Tolle Frau, wenn auch nicht mein Typ. Aber sie füllt die Bühne aus, lebt ihr Ding und strahlt das aus, das ist wichtig.«

»War sie gestern mit am Maibrunnen?«

Er nickte. »Ja, eine Weile. Dann ging sie weiter, hatte wohl eine Verabredung.«

»Okay, weitere Bandmitglieder?«

»Meine Wenigkeit. Ich bin Gitarrist. Und eben Katharina, die frühere Frontsängerin.«

Birthe runzelte die Stirn. »Frühere Frontsängerin?«

»Ja. Jessica Wagner sollte ihren Platz einnehmen. Was ich jetzt mache, muss ich mir erst überlegen. Vielleicht hole ich Katharina zurück, ich glaube allerdings eher nicht. Ich werde wohl nach einer neuen Sängerin Ausschau halten.«

»Okay. Ich benötige die Kontaktdaten Ihrer Bandkollegen.«

Kläglich sah er sie an. »Hat das nicht Zeit bis nach der Maiwoche? Ich brauche die Jungs und Mädels jetzt. Sie können nicht abliefern, wenn sie durcheinandergebracht werden. Morgen haben wir den nächsten Auftritt.«

»Ach, und der Tod ihrer Bandkollegin bringt sie nicht durcheinander? Wollen Sie den vor Ihren Leuten geheim halten?«

Tobecke sah aus dem Seitenfenster. Ein Mann mit Funktionskleidung und einem großen Hund kam gerade vorbei und spähte mit misstrauischer Miene zu ihnen hinüber.

»Ich kann leider keine Rücksicht darauf nehmen, dass gerade Maiwoche ist«, sagte Birthe. »Wir ermitteln in einem Mordfall. Da zählt jeder Tag, jede Stunde, jede Minute.«

»Also gut, ich suche die Nummern raus. Die Adressen meiner Kollegen habe ich zu Hause.« Er zückte sein Handy und wischte auf dem Display herum.

Birthe notierte die Namen und Rufnummern der fünf Bandmitglieder und vergewisserte sich, alles richtig geschrieben zu haben. Carsten Tobecke irritierte sie. Zweifelsohne hatte er Charme. Mit seinem zerknautschten Gesicht erinnerte er sie an eine Handpuppe aus einer Muppet Show. Birthe musste lächeln bei dem Vergleich. Knuffig sah er auf jeden Fall aus. Typ Teddybär, ein Mann zum Anlehnen, sie konnte sich vorstellen, dass er bei Frauen gut ankam.

»Wie lange waren Sie zusammen am Maibrunnen?«

»Bis halb zwölf etwa. Dann hatte ich keine Lust mehr. War dann auch irgendwie durch.«

»Was haben Sie danach gemacht?«

»Ich bin ins Hotel gegangen.«

»Ach, Sie übernachten im Hotel? Ich denke, Sie spielen in einer Osnabrücker Band. Wohnen Sie nicht in Osnabrück?«

»Nein, in Rheine. Ist mir zu weit abends. Ich mag es, nach dem Feiern keine weiten Wege mehr zu haben. Ein paar Meter zu Fuß in die Koje, das ist doch schön. Und wenn ich mal Lust habe, eine Frau mitzunehmen, ist das kein großes Ding. Nach Rheine hätte wohl keine Dame Lust mitzukommen.«

»In welchem Hotel sind Sie?«

»Im Remarque. Nur ein Katzensprung zu den Auftrittsorten. Zum Glück, denn nach einem Gig bin ich ziemlich fertig. Außerdem darf ich trinken, muss mir keine Gedanken über den Heimweg machen. Taxis kriegt man eh nicht um die Zeit. Können Sie vergessen.«

Birthe nahm ihn ins Visier. »Was haben Sie zwischen 23.30 und 1.30 Uhr gemacht?«

Er machte einen tiefen Atemzug. »Ach, jetzt kommt die Frage nach dem Alibi. Sie halten mich für verdächtig? So eine Frage wurde mir zuletzt als Halbstarker gestellt, als eine Brandserie aufgeklärt werden sollte. Na schön: Gepennt habe ich. Als ich im Hotel ankam, bin ich gleich ins Bett gehüpft. Ich habe geschlafen wie ein Baby, bis 8.30 Uhr, als mein Handy mich brutal aus dem Schlaf gerissen hat.« Wie um das Gesagte zu unterstreichen, rieb er sich ein Auge und gähnte.

»Und die anderen?«

»Keine Ahnung. Sie wollen sie ja sowieso fragen. Die sind auf jeden Fall länger geblieben.« Seine Stimme klang heiser. Er legte den Kopf zurück, atmete tief durch und schloss die Augen.

»Wie ist Jessica nach Hause gekommen? Hat sie jemand begleitet?«

»Nein. Sie ist mit dem Bus gefahren«, murmelte er mit halb offenen Lidern. »Ist das Vernünftigste, was sie tun konnte.«

»Wann ist eigentlich Ihr nächster Auftritt?«

Er drehte sich zu ihr hin und blinzelte. »Morgen spielen wir am Nikolaiort. Ab 20 Uhr.«

»Werden Sie ihn absagen?«

Tobecke schüttelte den Kopf. »Nee, das kann ich mir nicht leisten. Wir stehen unter Vertrag. Die Konventionalstrafe wollen wir uns sparen.« Er zog einen Schmollmund. Volle, sinnliche Lippen, stellte Birthe fest. Als hätte Tobecke ihre Gedanken erraten, sah er ihr tief in die Augen. Er lächelte. »Hätte ich nicht gedacht, dass es so tolle Frauen bei der Polizei gibt. Könnte weitaus schlimmer sein.«

Birthe ging nicht darauf ein. »Fühlen Sie sich dazu überhaupt schon wieder in der Lage?«

»Wir sind Profis. Das ziehen wir durch. Absagen kommt nicht infrage. Es gibt auf die Schnelle keinen Ersatz. Wenn du absagst, wirst du nicht mehr vom Veranstalter gebucht. Da hängt ’ne Menge Kohle dran. Uns ist nicht immer nach Spaß und guter Laune, auch wenn das so rüberkommt. Du musst auftreten, wenn du ’ne schlaflose Nacht hinter dir hast, dir der Schädel brummt, dein Bauch rebelliert oder der Kreislauf schlappmacht. Hilft alles nichts. Wir hatten ein Konzert einen Tag nach dem schrecklichen Terroranschlag in Paris. Mit einem mulmigen Gefühl sind wir hin, keiner von uns wollte wirklich, lieber wären wir zu Hause auf der Couch geblieben und hätten uns volllaufen lassen, aber wir hatten keine Wahl. Auf der Bühne verdrängst du das. Adrenalin und Endorphin helfen dir dabei und weiß der Geier was noch. Da funktionierst du, und das Publikum dankt dir dafür. Die haben alle ihre Problemchen und Anspruch auf ein bisschen Spaß und Ablenkung. Die wollen einfach mal den ganzen Scheiß in der Welt vergessen. So sind wir doch im Grunde alle gestrickt, oder? Einfach weitermachen, immer weiter kämpfen, Tag für Tag, und das Beste draus machen.« Er suchte Birthes Blick. »Es ist ein Job, Frau Schöndorf. Für einige von uns sogar der einzige. Die Mieten sind arg gestiegen in Osnabrück, manchmal kommen 80 Bewerber und mehr auf einen Besichtigungstermin, da kann man nicht einfach sagen, nee, Leute, heute spielen wir nicht, heute sind wir schlecht drauf und wollen lieber im Bett bleiben.« Mit seinen breiten Händen unterstrich er seinen Redeschwall.

Birthe wunderte sich, dass er schon wieder so gefasst war. »Am Sonntag kommen sicherlich noch einmal viele Leute, oder?«

»Klar. Freitag, Samstag und Sonntag sind die bestbesuchten Tage der Maiwoche, da geht’s richtig ab. Jeder will da spielen. Wir sind froh, dass wir überhaupt dafür gebucht wurden. Es gibt weitaus unbeliebtere Daten. Kommen Sie doch mal vorbei, es lohnt sich!«

»Das ist eine gute Idee. Vielleicht sollten mein Kollege und ich das wirklich tun!«

»Machen Sie sich bemerkbar, damit ich Sie nicht übersehe!« Er zwinkerte ihr zu und schob seinen Hut zurück.

Birthe ließ es für heute bewenden. Mit ein paar Dankesworten und dem deutlichen Gefühl, dass er etwas vor ihr verbarg, verabschiedete sie ihn.

Die Tote von der Maiwoche

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