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Kapitel 9

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In den nächsten zwei Tagen fühlte ich mich wie eine tickende Bombe, die bald explodieren und alles in ihrer Umgebung mitreißen würde. In den Gängen der Schule folgte mir häufig Getuschel und unser Geschichtslehrer würdigte mich keines Blickes mehr, was ich aber nicht als Übel empfand. Zu Hause war es wesentlich schlimmer. Meine Mutter hatte die letzten zwei Tage das Haus nicht verlassen, sie sprach mit niemandem und nähte nur stumm vor sich hin, während meine Schwester jedes Mal Tränen in den Augen hatte, wenn sie mich ansah oder mit mir sprach. Der Einzige, der gut gelaunt war, war der kleine Leo, der von all dem nichts verstand. Da sich die Preisrichter die letzten zwei Tage nicht gerührt hatten, ging ich davon aus, dass sie am nächsten Tag, einem Samstag, kommen würden. Beim Abendessen ergriff ich schließlich meine Chance, die Situation noch irgendwie zu retten. „Mama, es tut mir so unendlich leid, dass ich dir nicht früher davon erzählt habe, aber ich hatte Angst, du würdest mich dafür hassen, was ich war, was ich bin.“

Ganz langsam hob meine Mutter den Kopf. „Aber Zelda, wie konntest du glauben, ich würde dich nicht mehr lieben, nur weil du eine gute Preisrichterin wärst?“

„Nur weil ich eine gute Preisrichterin wäre?“, fragte ich verwundert.

„Viele Menschen haben eine gute Begabung für etwas. Deine Schwester singt zum Beispiel gut, aber heißt das, sie muss unbedingt Sängerin werden? Nein! Das ist nur die Auffassung der Preisrichter, die Preisrichter meinen, dass diejenigen, die des Zahlenlesens mächtig sind zu einem von ihresgleichen werden, aber deshalb muss dies noch lang nicht deine Bestimmung sein.“

Wie hatte ich nur so engstirnig sein können? Ich hatte nur den einen Weg gesehen, den Weg, der den Preisrichtern recht war, aber nie hatte ich darüber nachgedacht, dass ich auch ein ganz normales Leben hätte führen können.

„Ich bin nicht sauer auf dich, nur enttäuscht. Hättest du mir so weit vertraut, mir dein Geheimnis anzuvertrauen, hätten wir eine Lösung gefunden. Natürlich bist du nicht schuld, an deiner Offenbarung und ich mache dir deine Kurzsichtigkeit nicht zum Vorwurf, nur musst du mit diesem Fehler leben.“ Bei diesem letzten Satz seufzte sie müde auf. „Wie ich die Preisrichter doch hasse! Sie nehmen mir immer das weg, was mir lieb und teuer ist.“ Doch ihre Worte hörten sich nicht wie ein prasselndes Feuer an, sondern eher wie eine dünne Flamme, die den Kampf gegen den Wind schon längst aufgegeben hatte.

Zutiefst berührt umrundete ich den Tisch und zog sie in eine lange Umarmung. Durch die Wärme meiner Mutter verlor ich etwas an Angst und ein neues Gefühl, Entschlossenheit, setzte meine Adern unter Strom. Ich würde für meine Schicht kämpfen und mich nicht auf die Ansichten der Preisrichter einlassen. Schaudernd dachte ich an den Preisrichter in meinem Geschichtsunterricht, der die Vorstellungen der Preisrichter so überzeugt dargestellt hatte, als hätte er sie selbst erfunden. So würde ich nicht sein! Doch eine leise Stimme in meinem Inneren behauptete das Gegenteil.

Nach dem Abendbrot packten meine Mutter und ich die wenigen Klamotten, die ich besaß, in ein weißes Tuch und legten es am Küchentisch griffbereit für den nächsten Tag hin. Heute erzählte ich eine Gutenachtgeschichte, meine Lieblingsgeschichte. Sie handelte von einem fernen Land, in dem alle Menschen gleich waren und keiner von Geburt an bevorzugt wurde, von einem kleinen Mädchen, das in einem schönen Haus lebte und viele Dinge besaß, von denen wir nur träumen konnten. Das Buch zu dieser Geschichte existierte nicht mehr, da es von den Preisrichtern eingezogen worden war, um die Menschen von den Gedanken an eine derartig schönere Welt abzuhalten. Doch der Buchinhalt war damals schon so populär gewesen, dass die meisten Limestoner den groben Wortlaut auswendig gekonnt hatten und die Geschichte weiterverbreitet worden war. So wurde sie auch heute noch bei Kerzenschein erzählt und ließ Kinderaugen größer werden, bei den vielen Dingen, die es gab und die sie nicht kannten. Mit den Gedanken in meiner Traumwelt aus der Geschichte schlief ich ein. Die ganze Nacht hindurch verweilte ich dort, auf Wolken schwebend und ohne die dunklen Schatten der Sorgen.

Doch wie nach jeder Nacht kam auch nach dieser der Morgen. Kaum hatte ich meine Augen geöffnet, schon störten die vielen rastlosen Gedanken die vom Schlaf zurückgebliebene innere Ruhe, die durch dessen nicht mehr vorhandene betörende Wirkung meinen Problemen schutzlos ausgeliefert war. Ich wusch mich in dem kleinen Bad, das in der Dämmerung des Morgens noch schäbiger wirkte, dann zog ich mich an und trat mein wohl letztes Frühstück mit meiner Familie an. Die Stimmung war betrübt. Kein Lachen erhellte den Morgen, die Stille surrte in den Ohren, ein Anspannung, der keiner lange standhalten konnte.

„Die Preisrichter, was machen sie mit dir?“ Meine Schwester hatte schließlich dem Druck nachgegeben und das Schweigen durchbrochen.

Ja was machten die Preisrichter eigentlich mit mir? Würden sie mich bestrafen, mich ausbilden? „Ich weiß es nicht.“

Ein mulmiges Gefühl machte sich in mir breit, eine Mischung aus Aufregung und Übelkeit.

„Sie werden dich wohl zu einer von ihnen ausbilden, oder es zumindest versuchen“, antwortete meine Mutter.

Dora betrachtete mich mit vor Schreck geweiteten Augen.

„Das werde ich natürlich nicht zulassen“, beteuerte ich, doch tief in meinem Inneren zweifelte ich daran, ob ich überhaupt eine Wahl hatte.

„Wissen die Nachbarn, dass wir heute Besuch bekommen?“

„Nein, und so soll es auch bleiben! Das Gerede nach deinem Verschwinden wird mir reichen. So sieht es wenigstens so aus, als wäre das alles überraschend für uns eingetreten und das Mitleid wird das Gerede mildern“, erwiderte meine Mutter bestimmt.

Mein Verschwinden, das hörte sich so an, als hätte ich selbst beschlossen zu gehen, aber vielleicht hatte das ein Teil meines Gehirns ja auch ohne meine Erlaubnis getan und seine Chance ergriffen, als sie ihm zu Füßen lag. Dieses Gedankenspiel führte ich aber nicht fort, da ich wichtigeres zu tun hatte, als meinen inneren Kampf auszutragen. Die Preisrichter würden bald kommen. Doch auf unergründliche Weise war ich auf einmal bereit für all das, was kommen mochte. Meine Mutter musste diese Entschlossenheit in meinem Blick gesehen haben und nickte nur traurig. Im Gegensatz zu ihr machte ich das Beste aus meinem Schicksaal, während sie der Vergangenheit nachtrauerte. Ich würde mich den Preisrichtern stellen! Verträumt trat ich ans Fenster und blickte auf die grauen Häuser, die sich von dem schwarzen Himmel, der ein Gewitter ankündigte, abhoben. Bald, bald!

Die Spannung, die schon den ganzen Tag in der Luft gelegen hatte, entlud sich schließlich am frühen Nachmittag. Blitze zuckten, Donner grollte, der Wind rüttelte am ganzen Haus und Regen trommelte an unser Küchenfenster. Ich saß mit Leo am Schoß auf einem unserer Stühle und wartete. Ich war so auf das Warten konzentriert, dass ich anfangs das Klopfen an unserer Tür, das vom Brüllen des Gewitters fast gänzlich überlagert wurde, überhörte. Bei einem besonders lauten Krachen zuckte ich aus meinem Halbschlaf hoch, um eine nun energischere und lautere Klopftirade zu hören. Schnell gab ich Leo meiner Mutter, die ebenfalls gedankenverloren an der Wand gelehnt hatte und trat mit schnellen Schritten zur Tür, um diese zu öffnen. Davor standen zwei Männer, ein größerer junger und ein mittelgroßer alter, beide in samtenen grünen Gewändern, die vom Regen schwarz wirkten. Ohne auf eine Reaktion meinerseits zu warten trat der ältere Mann in unsere Wohnung, gefolgt vom jüngeren, der die Tür hinter sich schloss. Ich selbst stand überrascht von der bedingungslosen Souveränität der Preisrichter in der Mitte des Raumes und wusste nicht so recht, wie mir geschah. Der ältere Preisrichter richtete seine blauen Augen auf mich und begann: „Du bist Zelda Turris?“

„Ja“, antwortete ich mit zittriger Stimme, den traurigen und verzweifelten Blick meiner Mutter im Nacken spürend.

„Der bildungsbeauftragte Preisrichter von Limestones berichtete, dass unter einer Klasse, die er im Zuge eines Projekts besucht hatte, eine Schülerin gesessen hatte, die sich in die Richtung auffällig benommen hatte, dass sie des Preislesens mächtig ist. Er nannte uns deinen Namen, Zelda. Aus diesem Grund werden wir dich nach Marpel mitnehmen, wo du dich einer Prüfung zu unterziehen hast, die feststellen wird, ob dies der Wahrheit entspricht.

Bei diesen Worten begann mein Herz zu rasen. Eine Prüfung? Niemals hatte ich auch nur ansatzweise gedacht, dass man sich einer Prüfung unterziehen musste, um Preisrichter zu werden. Die Offensichtlichkeit meiner Gabe für mich hatte mir anscheinend die Augen geschlossen vor der realen Welt. Für mich war es das schlimmste Szenario meine Familie zu verlassen und sich den Preisrichtern anzuschließen, ich hasste ihren Reichtum und ihre Macht. Nie hatte ich daran gedacht, dass andere dies nur als einige der guten Dinge sehen könnten, die das Preisrichterleben mit sich brachte. Wie verzweifelt konnte man sein? Doch bei näherer Betrachtung fielen mir viele Gründe ein, das Leben eines Preisrichters seinem eigenen vorzuziehen: Armut, Hunger, keine Zukunft auf den normalen Wegen des Systems oder Machtgier und Ehrgeiz.

Nach einem kurzen Räuspern fuhr der Ältere fort: „Wenn du, Zelda, die Prüfung bestehen solltest, werden wir dich zu einer von uns ausbilden, du wirst deinen Blick zu schärfen lernen für noch so kleine Details der menschlichen Seele, des menschlichen Wesens, allerdings unter der Bedingung, dass du nach unseren Gesetzen lebst…“

„Und wenn nicht“, fuhr meine Mutter diesem ins Wort.

Die unendliche Traurigkeit in ihrer Stimme stach wie ein Dolch in meine Brust.

„Wie und wenn nicht?“

„Wenn sie die Prüfung nicht besteht“, antwortete meine Mutter, die ihre zitternde Stimme nicht länger verbergen konnte.

Ein Funkeln trat in die Augen des Preisrichters. Es schien mir, als wäre seine blaue Iris ein wirbelnder Sturm und die schwarze Pupille das alles verschlingende Loch. „Dann wird Ihre Tochter aus der Gesellschaft ausgestoßen, eine Preislose.“

Ich hörte wie meine Schwester hinter mir nach Luft schnappte und die Hand vor den Mund schlug. Dagegen fühlte ich mich wie betäubt, mein Blick verschwamm, meine Ohren pochten. Eine Preislose. Ich sah vor mir den Jungen im Diamond Tower, seine gähnend leere Stirn.

„Da ja nun alles geklärt ist, werden wir dich mitnehmen. Morgen findet die Prüfung statt. Falls du bestehen solltest, darfst du deiner Familie eine Nachricht zukommen lassen. Du hast zwei Minuten dich zu verabschieden. Wir warten draußen auf dich.“ Die geschäftsmäßigen Worte drangen nur halb durch die Mauer, die ich innerhalb von Sekunden um mich errichtet hatte.

Als die beiden Preisrichter jedoch den Raum verlassen hatten, verflog ein Teil des Schleiers, der sich auf meine Augen gelegt hatte. Ich konnte fühlen, wie mich meine Mutter und Schwester umarmten, spürte ihre nassen Gesichter auf meiner Haut, erahnte Tränen auf meinen eigenen Wangen. Langsam löste ich mich aus der Umarmung. Ein letztes Mal nahm ich die kleine Hand meines Bruders in die meine, ein letztes Mal küsste ich die Stirn meiner Schwester, ein letztes Mal blickte ich in die warmen Augen meiner Mutter. Ich nickte meiner Familie zu. So viel wollte ich noch sagen, doch die Stimme versagte mir. Im Nachhinein wusste ich, dass es keine Sprache der Welt gab, die diesen Schmerz und diese Trauer und die zugleich innig pulsierende Liebe beschreiben konnte. Ich öffnete die Wohnungstür, meine Hand fand das dünne Holz des Türrahmens, dessen Farbe sich löste und blaue Farbpigmente auf meiner Haut verteilte. Lass los, sagte eine Stimme in meinem Kopf, geh! Und mit größtem Herzschmerz trat ich in den Gang und wand mich in Richtung Ausgang. Ich spürte erneut wie Tränen in mir hochstiegen, wie die Versuchung von mir Besitz nahm zurück zu rennen. Stattdessen setzte ich mich in die andere Richtung in Bewegung erst langsam, dann immer schneller. Es fühlte sich so falsch an, doch ein Teil von mir wusste, dass dies der einzig wahre Weg für mich war. Als ich die Haustür erreicht hatte, verweilte ich noch einen Moment. Stille machte sich breit. Einsamer als je zuvor wischte ich mir die Tränen aus den Augen, packte den Türgriff und entschlossen schritt ich durch die Tür in mein neues Leben.

Morgensonnenschein

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