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Kapitel 4

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Der Eingangsbereich, der sich mir eröffnete, schimmerte in einem fahlen Grün, was die silbrig gläserne Front hinter mir nur noch schauriger erscheinen ließ. Vor einem beigen Wandteppich, auf dem das Wappen der Preisrichter, eine grüne Schlange mit silberner Zunge und über diesem der gebogen stehende Spruch Cognitio potentiae dat, also Wissen verleiht Macht, in silbernen Lettern zu sehen war, befand sich ein großer Empfangstresen, hinter dem eine jüngere ziemlich hübsche Frau mit streng zurückgebundenen schwarzen Haaren in Minirock und Bluse gekleidet stand. Ihr kalter Blick verminderte dabei die Anzahl der Punkte, die sie bei einem Schönheitswettbewerb bekommen hätte, nur geringfügig, auch wenn er für einen Betrachter wie mich unangenehm war. Zielstrebig und ohne ein Zögern gab meine Mutter der Empfangsdame ihr Meldeformular und die Frau nahm dieses energisch in Augenschein. Da ihrer Meinung nach schließlich alles in Ordnung zu sein schien, zeigte sie uns mit einem Kopfnicken an,ihr zu folgen. Sie bog links des Tresens in einen Gang, der, von der Ausrichtung des Hauptgebäudes des Diamond Towers gesehen, in westliche Richtung verlief und, so schien es mir, bis in die Unendlichkeit reichte. Er hatte den gleichen Bodenbelag, wie der Eingangsbereich, ein blank polierter grauer Steinboden mit grünem Schimmer, der auch den Wänden einen kühlen Ton verlieh, und nachdem wir eine Zeit lang durch den schier endlosen Flur gegangen waren, konnte ich in dem fahlen Licht einiger kreisrunder Deckenleuchten eine Veränderung erkennen: wo vorher weiße Wände gewesen waren, prangte nun eine mit kunstvollen Schnitzereien geschmückte dunkle Holzwand und an der Decke konnte ich bunte handgemalte Bilder erkennen, verziert und umrandet von vielen Schnörkeln, die ähnlich wie an der Mauer auch Tierköpfe ausbildeten, wobei auch der Boden an einer bestimmten Stelle urplötzlich in nahezu ebenholzfarbenes Parket übergegangen war und jetzt kleine Kronleuchter für das gewisse Ambiente in der Düsternis sorgten, was der ganzen Atmosphäre in diesem vielleicht drei Meter breiten Gang zumindest eine wärmere Note verlieh. Nach einem mir stundenlang vorkommenden Marsch entlang verschlossener Türen sah ich vor uns am Ende der Allee aus toten Bäumen ein Portal aufragen, dessen schwere hölzerne offenstehende Torflügel bis zur Decke ragten. Ohne zu zögern betrat die voranschreitende Empfangsdame den Raum, der sich hinter dem Tor eröffnete. Ich folgte ihr, Doras dünne Hand in der meinen, meine Mutter im Schlepptau und öffnete erstaunt den Mund. Der Saal, der sich vor mir auftat, überwältigte mich in seiner Schönheit: der wiederum grünlich schimmernde Boden, die hohe, über mehrere Stockwerke gehende, hellgraue Steindecke, die vier hellgrauen Säulen, die diese stützten, die mir gegenüberliegenden stockwerkhohen, oben abgerundeten, in verschiedengroße Segmente aufgeteilten Fenster, die von samtenen grünen Vorhängen verhängt waren und eine hölzerne Tribüne, die vor mehreren aus Holz bestehenden Bänken, gegenüber der Eingangstür am Ende des Saales stand. Über der Tribüne hing als samtenes grünes Banner das Wappen der Preisrichter und in den Boden vor der Tribüne war die Flagge von Stones eingelassen worden, eine Schlange auf dem Hintergrund von einem hellgrauen, roten, schwarzen, cremefarbenen und dunkelgrauen Streifen, der die jeweilige Schicht von Stones symbolisierte. Während meine Schwester und ich noch am Staunen gewesen waren, hatte sich meine Mutter mit meinem Bruder schon auf einer der hinteren Bänke niedergelassen und winkte uns ungeduldig zu sich. Jetzt erst nahm ich die vielen anderen Familien wahr, die sich schon im Raum befanden. Gleich neben uns saß ein junges Ehepaar mit einem Kind, das nach der Kleidung zu schließen wohl aus Ardesia, dem Viertel der 3. Schicht, kam, was mir ein Blick auf die Stirn der beiden und damit auf ihren Preis bestätigte. Man könnte sich jetzt vielleicht fragen, warum das Ehepaar aus Ardesia zusammen mit uns aus Limestone die Zeremonie für ihr Kind hatte. Das war so, weil diese nur freitags stattfand und so keine Zeit war, auf die Trennung zwischen den einzelnen Schichten zu achten. Und trotzdem kam es sehr selten vor, dass sich ein Mitglied der zweiten oder gar ersten Schicht zu der Zeremonie für das gemeine Volk herabließ. Stattdessen erreichten diese mit viel Geld, dass ein Sondertermin für ihre Sprösslinge festgelegt wurde. Entweder war das Ehepaar knapp bei Kasse oder sie störten sich nicht daran, die Zeremonie mit der vierten und fünften Schicht zu teilen. Wir saßen rechts vom zentralen Gang, der zur Tribüne führte, und schnell merkte ich, warum meine Mutter gerade diese Seite ausgewählt hatte. Auf der linken Seite nämlich hatten sich auffällig viele Familien aus Coalman niedergelassen, dem Viertel der fünften Schicht, während auf unserer Seite fast nur Limestoner, unter denen auch einige mir bekannte Gesichter waren, und vereinzelt ein paar Ardesianer saßen. Meine Mutter hatte diese Seite gewählt, weil sie nicht noch tiefer sinken und ihren letzten Funken Stolz behalten wollte. Es machte mich traurig, dass alle Menschen auch ohne das Zutun der Politik, zu der auch die Preisrichter zählten, die Grenzen der Schichten aufrecht hielten.

Während ich in Gedanken gewesen war, war mir gar nicht aufgefallen, dass das allgemeine Geplauder aufgehört hatte und durch gespanntes Schweigen ersetzt worden war. Nun waren alle Augen nach vorne gerichtet, auf die Tribüne, so dachte ich zuerst. Bei genauerem Hinschauen erkannte ich, dass alle die unscheinbare Holztür rechts von dieser betrachteten. Sie musste zum Besprechungszimmer der Preisrichter führen. Von dem mit silbernen Beschlägen und mit einem silbernen Knauf bewehrten dunklen beweglichen Wandelement war ein grüner Teppich bis zur Tribüne ausgerollt worden. Ich war so in Gedanken gewesen, dass mir dieser überhaupt nicht aufgefallen war. Ohne Vorwarnung öffnete sich plötzlich die Tür und wie auf Kommando erhob sich der ganze Saal. Fanfaren ertönten von einem Balkon zu meiner Rechten, schon schritten in wallenden grünen Gewändern die Preisrichter in die steinerne Halle. Unter ihnen waren sowohl Frauen als auch Männer, alle im mittleren Alter oder älter. Sie nahmen auf den 20 Plätzen auf der leicht gebogenen, in zwei Reihen aufgeteilten Tribüne, die deshalb so konzipiert war, damit auch die Äußersten einen guten Blick auf die Flagge von Stones auf dem Boden hatten, Platz, wobei mir auffiel, dass die Älteren die vorderen Sitze für sich beanspruchten. In der Mitte saß ein Mann mit grauen Haaren und grünen, stechenden Augen, der oberste Preisrichter. Er unterschied sich von den Anderen darin, dass er eine schwere silberne Kette trug, in deren einzelnen ovalen Gliedern jeweils ein grüner Stein, wahrscheinlich ein Smaragd, funkelte, sodass ich diesen sogar über mehrere Bankreihen hinweg bestens erkennen konnte, und die so gut zum samtenen Umhang mit den silbernen Nähten passte. Mit einem Ring, der ebenfalls silbern mit grünem Stein war, klopfte der ältere Mann auf das dunkle Holz der Tribüne und die Leute im Saal ließen sich augenblicklich wieder auf den Bänken nieder. Dann sprach er: „Wir haben uns heute hier versammelt, um die Preise der hier anwesenden Kinder zu bestimmen.“

Seine Stimme war kalt und Eissplitter schienen die Luft vor unseren Augen wie seine Worte das Schweigen im Raum zu durchschneiden, er legte so viel Autorität in das Gesprochenen, dass nicht einmal mehr ein Kinderweinen zu hören war. Als er fortfuhr merkte ich, wie sich eine Gänsehaut auf meinen Armen bildete. „Wir werden nun die Namen der Kinder vorlesen und dann deren Preise bestimmen.“

Ein Schauder ging durch die Menge wie ein kühler Windhauch. Ich betrachtete die anderen Preisrichter und bemerkte in ihren Augen die gleiche Kälte, die ich auch in den Augen und der Stimme des Wortführers gefühlt hatte. Eine Frau, die links von diesem saß, holte eine lange Pergamentrolle hervor und der eigentliche Teil der Zeremonie begann. Die Preisrichterin verlas die Namen der einzelnen Kinder, ein Elternteil trat zusammen mit dem Baby vor die Tribüne und die Preisrichter bestimmten seinen Preis. Bei den ersten Kindern, die vor allem von Familien aus Coalman stammten, passierte nichts Außergewöhnliches. Sie alle hatten einen Preis, der sie in die Schicht ihrer Eltern einstufte, also einen zwischen null und 150, nur das Baby des Ehepaars, welches neben uns saß, hatte einen Preis von 459, der es in die 2. Schicht einstufte, was wiederum einigen Wirbel vor allem seitens der Eltern auslöste. Als die Mutter wieder Platz genommen hatte, schaute ich kurz in ihr tränenüberströmtes Gesicht. Es war hart das erste Kind an eine andere Schicht zu verlieren, aber wenigstens war es die zweite Schicht und nicht die vierte. Dann waren wir an der Reihe.

„Turris“, ließ die emotionslose Stimme der Frau verlauten.

Ich stand auf, um meine Mutter vorbei- und damit aus der Reihe treten zu lassen, als sich mein Blick mit dem des obersten Preisrichters kreuzte. Ich hörte in diesem Augenblick die Luft schier vor Spannung knistern und noch viel später, als ich längst wieder saß, fragte ich mich, ob er in dieser Sekunde mein Geheimnis erraten haben könnte. Während ich sekundenlang mit Schwindel und der Angst, die mir wie ein Stein im Magen lag und das Atmen erschwerte, kämpfte, durchquerte meine Mutter mit dem kleinen Leo den Raum und stand nun vor den Preisrichtern, auf dem Wappen von Stones. Sie hielt Leo etwas von sich weg, seine Füßchen hingen in der Luft, sein Gesicht musste bei der Zeremonie gut sichtbar sein. Der oberste Preisrichter lehnte sich langsam nach vorne. Er runzelte die Stirn und ein Glühen trat in seine grünen Augen. Ich stellte mir ängstlich vor, wie er damit die rehbraunen Augen meines Bruders wie mit Messern durchstach. Mehrere Sekunden verharrte der Würdenträger in dieser Position, dann lehnte er sich zurück. „Der Sohn der Turris hat einen Preis von 276.“

Die anderen Preisrichter nickten zustimmend. Mein Herz hüpfte vor Freude auf und ab und als meine Mutter sich zu uns umdrehte, sah ich den gelösten Blick in ihren Augen zusammen mit einem freudigen Funkeln, das ich schon allzu lang nicht mehr gesehen hatte und das mich noch breiter grinsen ließ. Als meine Mutter wieder auf ihrem Platz war, umarmte sie zuerst meine Schwester und dann mich, um dann dem Rest der Zeremonie, von der ich durch den Schleier des Glücks fast nichts mitbekam, mit einem Lachen auf den Lippen beizuwohnen. Nachdem der letzte Preis bestimmt worden war, erhob der mittlere Preisrichter abermals die Stimme. „Und nun, nachdem die Preise bestimmt worden sind, singen wir zum Abschluss die Hymne unseres Stones!!“

So erhoben wir uns alle, meine Schwester mit einem Stöhnen auf den Lippen, und sangen ein getragenes Lied in Moll, in dem es vor allem um die Preisrichter ging, die die Ordnung in der Welt bewahrten und deshalb höchste Ehren verdienten. Nach der Hälfte des Liedes bewegte ich nur noch die Lippen und da viele andere meinem Beispiel folgten, sang am Ende nur noch ein kläglicher Teil der Anwesenden. Ein stiller Protest war es, ein Aufbäumen gegen das System. Als die letzten Töne verklungen waren, löste der oberste Preisrichter, dem unser Widerstand nicht entgangen war, die Versammlung auf, stieg von der Tribüne hinab und verschwand, die anderen Preisrichter im Schlepptau, durch die unscheinbaren Tür, die sich hinter dem letzten von ihnen schloss. Sofort erhob sich der Lärm vieler aufstehender Menschen, die alle versuchten, als erste den Saal zu verlassen. Zwischen dem allgemeinen Gerede war immer wieder das Geschrei der Babys und das Schluchzen der Eltern zu hören, die ihr Kind verlieren würden.

Morgensonnenschein

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