Читать книгу Morgensonnenschein - Alina Haag - Страница 4

Kapitel 3

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Inzwischen wurde der Zug langsamer, bis er schließlich ganz zum Stehen kam. Meine Familie richtete sich auf und zusammen mit der nun vergleichsweise geringen Menge anderer in trostlose, graue Gewänder gekleideter Fahrgäste verließen wir die Straßenbahn. Wir hatten nun, nach einem kurzen Zwischenstopp in Ardesia, Marpel, das Viertel, das zwischen Ardesia und Pebble, dem Wohnort der Reichen lag, und dessen Zentrum Marpel City bildete, erreicht. Vor uns erhob sich eine Mauer, nicht eine von der kalten, hässlichen Sorte, sondern eine helle, aus Marmor in warmem Karamellton gemachte und mit Schnörkeln verzierte. Die Gleise hier sahen fast wie poliert aus, die Querstreben bestanden aus neu aussehenden, hellen Holzstücken, die gepflasterte Fläche bis hin zu einem schnuckeligen, in die Mauer integrierten Bahnhofsgebäude mit einer Turmuhr, die gerade zehn Uhr anzeigte, und einer großen goldenen Glocke, die ihren klaren Klang zur vollen Stunde über die Köpfe der überschaubaren Menschentraube verbreitete, war auf die Höhe des Ausstiegs aus dem Wagon angeglichen worden, nicht so wie zu Hause in Limestone, wo man auf einem unebenen Kies- Betongemisch landete, nachdem man einen gigantischen Schritt in Richtung Boden gemacht hatte. Rechts von uns stiegen zwei in Anzug und Melone gekleidete Ardesianer, die lebhaft miteinander gestikulierten, aus ihrem Abteil, und schritten weiter fort von uns, um etwas abseits vom gemeinen Pöbel auf den viel luxuriöseren Anschlusszug nach Marpel zu warten. Ich richtete meinen Blick wieder auf die Verzierungen an der Mauer vor uns. Die Schnörkel, wie ich sie vorher abfällig genannt hatte, bildeten dreidimensionale Fortsätze von Tierköpfen, Löwen-, Schlangen- und edlen Pferdeköpfen. Für die höheren Schichten war eben nichts zu schade. Auch meiner Mutter war dieses Detail nicht entgangen und sie verzog angewidert ihren Mund, einen verbissenen Blick in ihren blauen Augen. Einen Durchgang zum hinter der Mauer gelegenen Umland bildete ein eisernes Tor, vor dem zwei Männer in für Grenzwärter typischen grünen Uniform aus Hose und Jackett mit den silbernen Knöpfen standen. Ihre grünen Schirmmützen mit dem Symbol einer sich um einen Stein windenden Schlange, die verdeutlichte, dass diese Männer Stones schützen sollten, warfen einen Schatten auf ihre Gesichter, während die ersten mit Zetteln in der Hand auf sie zuliefen. Es war nämlich so, dass man als Bürger einer unteren Schicht eine Genehmigung brauchte, um in ein Viertel der oberen Bevölkerung zu kommen, also eine Sondergenehmigung oder einen Nachweis seiner Arbeitsstelle in dem Viertel einer höheren Schicht, wohingegen es andersrum nicht nötig war, ewig lange Formulare auszufüllen oder überhaupt irgendeine Absichtserklärung, was man in einem niederen Viertel wollte, mit sich zu führen. So kam es, auch wenn sich normale Bürger fast nie nach Limestone verirrten, dass doch so mancher der höheren Schicht angehörige Mensch auf die Idee kam, mit unserer Armut ein Geschäft zu machen, unseren Markt mit billigen Lebensmitteln zu überfluten und somit die ansässigen Händler zu vertreiben, die ihre handgefertigten teureren Waren und selbsthergestellten Lebensmittel nicht mehr an den Mann bringen konnten. Und wenn diese Kaufmänner dann merkten, dass doch nicht so viel bei uns zu holen war, zogen sie sich und ihre Produkte von unserem Markt zurück und überließen uns damit dem Hunger, weil niemand mehr Essen verkaufte. Jedes Mal, wenn wir auf der Höhe unseres „Wohlstandes“ waren, kamen die geldgierigen Ardesianer oder gar Pebbler und zerstörten alles. Bald war es wieder so weit, so munkelte man. Aber was tun dagegen? Seine Hoffnung auf die Politiker setzen? Wohl eher nicht. Denen kam die ganze Geschichte doch gerade recht, schließlich wollte man, dass die untere Schicht nicht allzu großen Wohlstand erreichte. Aber was verstanden die schon von unserem Leben, in ihren glitzernden Hochhäusern, nichtsahnend, wie die Realität aussah. Ein Kampf, ein einziger Kampf war das Leben, vor allem als Witwe, wie mir meine Mutter schon früh beigebracht hatte. Die Bösen wollte man nicht spielen! Was für Angsthasen die Politiker doch waren. Angst hatten sie, vor der unteren Schicht, vor einer Wirtschaftskrise, vor dem Zusammenbruch ihres Systems. Deshalb versuchten sie auch den Schein zu bewahren, ihr gutes Image zu behalten. Doch mich konnten auch Armenspeisungen nicht davon abbringen zu sehen, was sie wirklich waren…

„Zelda, nicht trödeln!“ Meine Mutter riss mich aus meinen Gedanken in die Gegenwart zurück.

Die Schlange, die sich vor dem Eisentor gebildet hatte, war in den letzten Minuten beträchtlich geschrumpft. Meine Mutter stand schon vor den Wärtern, ihre Genehmigung in der Hand und winkte mich ungeduldig zu ihr. Schnell hastete ich an ihre Seite und zusammen traten wir, meine Schwester an der Hand meiner Mutter, mein Bruder in meinem Arm durch das Tor. Der Anblick, der sich uns bot, war atemberaubend schön. Überall glitzernde Dächer riesiger Villen, die in den verschiedensten Farben leuchteten: senfgelb, aquamarinblau, zartrosa, grasgrün. Immer wieder waren Tupfen grüner Flecken zu sehen, wo sich ein Park befand oder eines der kleineren Hochhäuser am Rande Marpel Citys vollkommen begrünt worden war. Zwischen uns und diesem Teil Stones lag eine Landschaft aus sanften mit saftigem Gras überzogenen Hügeln. In Richtung Ardesia wurde diese ungebändigte Schönheit doch auch Wildheit mit den vereinzelten knorrigen Bäumen und wuchernden Hecken von Zäunen für Weideflächen von Kühen, Schafen und Ziegen gebändigt und noch weiter westwärts konnte man im Dunst des Morgens gerade noch die großen Bauernhöfe ausmachen, die sich an die Wohnhäuser Ardesias anlagerten. Meine Schwester jedoch hatte nur Augen für Marpel, sie stierte regelrecht ins Häusermeer, als wollte sie jedes noch so kleine Detail in sich aufsaugen. Doch mein Blick glitt weiter über die großen, geräumigen Grundstücke hinweg zum Zentrum des Farbenschauspiels, dem Zentrum von Stones, dem Ziel auf unserem Weg: Marpel City. Die vielen gleichmäßig angeordneten Hochhäuser, in denen sich vor allem Büros befanden, wurden nur von einem Gebäude überragt: Diamond Tower. Und er machte seinem Namen alle Ehre. Die aufgehende Sonne spiegelte sich in den tausenden von Fenstern an der Fassade des Turms, hart und kalt verschluckten sie alle Wärme. Doch diese Schönheit ließ mich nur noch mehr erkennen, wie scheinheilig unsere Welt doch war, denn hinter den funkelnden Mauern wurde über Armut oder Reichtum, Familie oder Fremde entschieden. Der Diamond Tower bildete nämlich das Hauptquartier der Preisrichter. Das war unser Weg, dorthin mussten wir gehen. Die Welt konnte so schön sein wie ein Diamant, doch man sollte nie vergessen, dass diese genauso hart wie jener war.

Als wir den schmalen Pfad, der von der Anhöhe, auf der der Bahnhof lag, in Richtung Marpel führte, hinabliefen, kam uns eine frische Brise entgegen. Dankbar die klare Luft einatmend schmeckte ich deutlich den Salzgeschmack auf meiner Zunge. Das Meer lag einige Kilometer hinter Marpel, wurde aber gänzlich von den vielen Häusern verdeckt. Nur ein Dunstschleier ließ erahnen, wo sich ungefähr Himmel und Wasser trafen. Verträumt blickte ich nach vorne, dahin, wo sich der breiter werdende Weg in der hügeligen Landschaft verlor. Dieser wies schon deutliche Verfallsspuren auf und da, wo das Wetter Risse hatte entstehen lassen, wuchsen bereits Gräser und Farne, was darauf schließen ließ, dass der Weg vom großen Tor weg nur noch spärlich benutzt wurde, da die meisten Menschen, die es sich leisten konnten, mit der Straßenbahn weiter nach Marpel City fuhren. Nur einmal trafen wir auf ein paar in Lumpen gekleidete Leute im Schatten eines großen Ahorns, doch unsere Mutter zeigte uns mit einem kurzen Kopfnicken an, schnell weiterzulaufen, denn selbst wir mussten uns vor den Menschen aus Coalman, der untersten Schicht, in Acht nehmen. Denn diese Leute hatten wirklich nichts mehr zu verlieren. Sie arbeiteten in Minen und Stollen untertage oder verdienten sich ihr Täglich Brot mit illegalem Betteln in den Stadtvierteln höherer Schichten.

Gegen Mittag waren wir unserem Ziel schließlich ziemlich nahegekommen, da wir die ersten Ausläufer Marpels erreichten. Als wir uns dem Stadtviertel immer weiter näherten und uns auf dem nun mit roten und braunen Steinen gepflasterten Weg durch einen kleinen Wald aus Ahorn-, Linden- und Kastanienbäumen die ersten Menschen entgegenkamen, schärfte uns unsere Mutter noch einmal dringlichst ein, den Blick gesenkt zu halten, schließlich wollte man keinen Ärger provozieren. Denn natürlich waren wir Limestoner in Marpel eher unerwünschte Gäste und obwohl wir unsere besten Sachen trugen, unterschieden wir uns deutlich von den sauber gekleideten Marpels mit ihren samtenen oder seidenen Anzügen und Kleidern, die genauso schön wie die Häuser in der Morgensonne leuchteten. Schon allein deshalb war es natürlich nicht einfach, den Kopf gesenkt zu halten. Gerade als ein älterer Herr in einer ziemlich geschäftigen Einkaufszone auf uns zukam, hielt ich es einfach nicht mehr aus und hob meinen Kopf ein Stück, um einen Blick auf seinen royal blauen Anzug zu erhaschen. In diesem Moment trafen sich unsere Blicke: Seine blaugrauen Augen, zwischen denen eine etwas knorrige Nase saß, weiteten sich vor Schreck und ohne Weiteres zu tun, wechselte er auf die andere Seite der Fußgängerzone. Als ich wieder in die demütige Haltung zurückkehrte, sah ich einen Funken Humor in den Augen meiner Mutter aufblitzen, bevor sie sich wieder auf den Weg konzentrierte, der uns immer weiter zu einem neuen Leben ohne Angst um den in seiner imposanten Schafswollendecke noch kleiner und gebrechlicher wirkenden Leo führte, oder zum alles verschlingenden Abgrund. Aber daran wollte ich noch gar nicht denken.

Als ich bereits den Diamond Tower durch die Kamine der Häuser sehen konnte, machte sich wieder die alte Unruhe in mir breit, die mich schon die Tage davor gequält hatte und die ich durch den anstrengenden Marsch für kurze Zeit verdrängt hatte. Weil sich der Weg, dem wir seit unserer Ankunft im Viertel Marpel gefolgt waren, dem Stadtzentrum von Osten näherte, hatten wir nur einen kurzen Marsch durch Einkaufsstraßen mit feinen Stoffläden, Maßschneidereinen, die selbst mein Antihandarbeitsherz höher schlagen ließen, und noblen Restaurants, die einen wundervollen Duft nach Gebäck und Kaffee in die Straße sandten, hinter uns bringen müssen, um zum Hauptquartier der Preisrichter zu gelangen. Man könnte sich jetzt fragen, warum wir uns nicht auf dem geraden Weg, also von unserem südlich gelegenen Standpunkt nach Norden hin, genähert hatten. Ganz einfach! Auch mit einer Lizenz war es uns nicht erlaubt in das Wohngebiet der Elite vorzudringen oder gar hindurch zu reisen. Deshalb hatten wir auch den anderen Weg nehmen müssen, den vom Südtor in Richtung nördlich gelegenes Meer und dann um die Luxusvillen herum in Richtung Osten.

Die Zeit schien sich zu verlangsamen, als wir schließlich den Fuß des Hochhauses erreichten. Ich warf meiner Mutter einen zuversichtlichen Blick zu, während sie vor dem Eingang Leo noch einmal fest an sich drückte. Sie warf nervös ihre offenen glatten kastanienbraunen Haare nach hinten, die sie sonst immer in einem Knoten am unteren Teil des Kopfes trug, brachte gerade einmal ein schwaches Zucken mit den Mundwinkeln zustande, das seine zuversichtliche Wirkung weit verfehlte, und trat mit entschlossener Miene durch die silberne Eingangstür, die von einem in eine schwarze Robe gekleideten Mann bewacht wurde, der uns allerdings keines Blickes würdigte. Ich sah zu meiner Schwester hinab, die verängstigt die schier unendlich lange Glaswand über uns hinaufsah. Ich brachte es zusammen, ihr ein aufmunterndes Lächeln zu schenken und sagte besänftigend: „Keine Sorge Dora. Alles wird gut!“

Zwar hatte ich keine Ahnung, ob das stimmte, doch der Gedanke an ein Happy End ließ einen Funken Hoffnung in meiner Brust entstehen, den auch die kalte Fassade des Gebäudes nicht löschen konnte. Und schnell folgte ich meiner Mutter, dahin, wo ihre zierliche Gestalt vor ein paar Atemzügen verschwunden war, hinein in die Höhle der Löwen.

Morgensonnenschein

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