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Kapitel 5

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Mit hastigen Schritten liefen wir den langen Gang zurück zur Eingangshalle. Nachdem wir einige Zeit gewartet hatten, waren wir mit ein paar anderen Nachzüglern in Richtung des neuen Diamond Towers aufgebrochen. Neu wurde dieser Teil des Hauptquartiers der Preisrichter genannt, weil er im Vergleich zum schon nahezu antiken alten Hauptquartier, dessen Zentrum der Zeremoniensaal, aus dem wir gerade kamen, bildete, noch recht neu wirkte. Im eigentlichen Diamond Tower mussten wir noch Leos Papiere holen, bevor wir wieder nach Hause zurückkehren konnten. Als wir schließlich den Eingangsbereich erreichten, wandten wir uns nicht nach rechts, zur Eingangstür, sondern bogen in einen schmalen Raum hinter der weißen Wand mit dem Wappen der Preisrichter ein, in dem sich an der linken Seite zwei bronzene Aufzugstüren befanden. Die Verwaltung der Preisrichter, also Finanzen, Registrierung von Preisen und die große Kanzlei des Preisrichterrates, war im zweiten Stockwerk des Towers angesiedelt. Die Arbeitsplätze dort, die vom einfachen Schreiberling, über Sekretäre bzw. Sekretärinnen, bis zum Berater gingen, wurde von Menschen aus Pebble und einigen glücklichen Ardesianern bekleidet, wobei es als große Ehre galt, für die Preisrichter zu arbeiten. Meine Mutter hatte wohl schon auf den blank polierten Knopf, der mich etwas an eine edle Hausklingel erinnerte, gedrückt, denn als ich meine Gedanken wieder auf die Gegenwart richtete, öffnete sich gerade die Aufzugstür und meine Mutter mit dem schlafenden Leo im Arm, meine Schwester und ich betraten diesen. Der Lift war wie alles andere natürlich wunderschön und von erlesenem Material, mit einem nun karamellfarbenen Boden und verspiegelten Seitenwänden, in denen ich mich als mittelgroßes Mädchen mit einem hoch sitzenden Zopf, dessen hellbraune Haarspitzen sich leicht lockig an mein Kinn legten, einem länglichen Gesicht mit breiten Augenbrauen und einem ausgewaschen grauen Kurzarmhemd über einem blauen Rock aus einem festen Stoff sah. Ein Duft nach eben derselben klebrigen Süßigkeit, die ich nur vom Sehen und Riechen her kannte, aber noch nie probiert hatte, lag in der Luft. Meine Schuluniform an meinem Körper leicht kritisch betrachtend spürte ich den Ruck, der sich bis in meinen Bauch auszuwirken schien und mir sagte, dass die Kabine wohl vom Boden gehoben worden war. Wir erreichten den zweiten Stock, die Türen öffneten sich und nicht zum ersten Mal an diesem Tag stockte mir der Atem auf Grund der immer wiederkehrenden Schönheit der oberen Viertel und ihrer Bauten, die trotz ihrer Beständigkeit und Vorhersehbarkeit für mich nichts an ihrem Scharm und ihrer Faszination verloren hatte. Unter dem Verwaltungsabteil hatte ich mir eine graue, mit dreckigen Teppichen ausgelegte, von Spanholzschreibtischen gefüllte und nur von vereinzelten staubbedeckten Zimmerpflanzen erhellte Bürolandschaft vorgestellt, also etwa wie das Verwaltungszimmer der Nähfabrik, in der meine Mutter arbeitete, nur eben in groß. Zu diesem Bild in meinem Kopf passten eindeutig nicht der glänzende hölzerne Boden, ein weiterer Empfangstresen zu meiner linken, das große bunte mit Ölfarben gemalte Unterwasserbild darüber, die samtigen, grün überzogenen Wartestühle auf der rechten Seite, deren zierliche Beine die gleiche Farbe wie der Boden hatten und die Frau, die ein smaragdgrünes Etuikleid trug, das gut zu ihren grünen Augen und dem langen rotbraunen Haar passte. Sie wartete bereits hinter dem brusthohen Tisch, da vor uns schon einige Familien dagewesen waren. Ihr junges und makelloses Gesicht sah gelangweilt aus und ich fragte mich, ob sie ihre Schönheit an dieser Stelle nicht verschwenden würde, doch dann fiel mein Blick auf ihren Preis und ich verstand. Einem Mädchen von solcher Schönheit standen in den gehobeneren Schichten doch einige Türen offen und für eins aus Ardesia, aus einer einfachen Familie, musste sich mit diesem Job eine ganz neue Zukunft eröffnen. Hinter ihrer Langeweile konnte ich ein Feuer der Hoffnung sehen, das durch eine Beförderung nur so mit Funken sprühen würde. Diese Erkenntnis, die mich mal wieder daran erinnerte, dass für die Preisrichter oft nur das Äußere zählte und dass die Menschen meiner Welt allgemein sehr oberflächlich waren, schließlich wurden man nur nach einem erblichen Preis beurteilt, war in weniger als zwei Sekunden zu mir durchgesickert und als ich sie mit einem Schauder über den Rücken abschüttelte, trat meine Mutter an den Empfangstisch heran. Sie hatte nichts von alldem mitbekommen und war darum bemüht, die Sache so gut es ging zu beschleunigen. „Hallo, mein Name ist Margo Turris. Ich war mit meinem Sohn bei der Zeremonie und möchte seine Papiere abholen.“

„Wenn sie mir bitte folgen mögen“, sagte die Frau mit gleichgültiger Stimme und zeigte mit einer Hand in einen Gang zu ihrer Linken, an dem mehrere Räume lagen und der, wie man erkennen konnte, in einiger Entfernung in ein großes Zimmer mündete.

„Wartet hier“, befahl uns meine Mutter mit einem Kopfnicken auf die grünen Polsterstühle gegenüber den Lifttüren und folgte der Frau, nachdem sie mir den weiterhin schlafenden Leo überreicht hatte.

Meine Schwester hatte nach wenigen Minuten aufgegeben still auf dem Stuhl zu sitzen und sich nun zu meinen Füßen niedergelassen, wobei sie versuchte, mit den dreckigen Schnürsenkeln meiner ziemlich maroden erdbraunen Stiefeletten neue Schleifen auszuprobieren. Dora war einfach noch zu sehr Kind für diese harte und rücksichtslose Welt. Sanft wiegte ich Leo hin und her und strich ihm eine dunkelbraune Strähne seines Haars aus den geschlossenen Augenlidern. Im Schlaf wirkten die Züge seines Gesichts noch weicher und unschuldiger als im wachen Zustand, wenn er einen durch seine warmen braunen Augen anstrahlte, ein Lachen auf den Lippen. Wahllos bewegte er seine kleinen Fingerchen, die schließlich meinen Finger fanden und sich an diesen klammerten. Ich war sehr froh, dass der kleine Leo bei uns bleiben durfte, auch wenn er nur mein Halbbruder war und Essen ein wertvolles Gut geworden war. Beim genaueren Hinsehen sah der kleine Junge seinem Vater, der auch der von Dora war, in seinen Gesichtszügen sehr ähnlich mit der kleinen Stupsnase, den eng zusammenstehenden dunklen Augenbrauen und den Grübchen in den Mundwinkeln. Doch Kamlet, so hieß der Plantagenarbeiter und Vater meiner zwei Geschwister nämlich, lächelte nie, zumindest hatte ich ihn nie lächeln sehen. Er wirkte auf mich niemals glücklich, sondern eher verkniffen mit den dunklen Augen und den dunkelbraunen glatten Haaren, die so geschnitten waren, als hätte ihm jemand einen Topf aufgesetzt und an dessen Rändern die Haare abgetrennt. Ich hatte nie verstanden, was meine Mutter an diesem fast ungesund braun gebrannten Mann gefunden hatte, der das ganze Jahr über vor den Toren der Stadt Obst und Gemüse pflanzte, goss und erntete, hatte ihn nie in mein Herz geschlossen, auch, weil er sich nie für Dora interessiert hatte. Vielleicht überforderten Kamlet Kinder, jedenfalls hatte er sich seit Leos Geburt bei uns nicht mehr blicken lassen und anders als meine Mutter rechnete ich auch nicht mehr mit seiner Wiederkehr. Trauer durchzuckte mich, dass auch Leo keinen richtigen Vater haben würde. Andererseits war seine Zukunft in Limestone nicht gerade rosig, also warum sollte er da grundlos verhätschelt werden. Jedenfalls war in diesem Augenblick das Alles egal. In diesem Moment zählte nur, dass wir über den Abgrund gesprungen waren, auch wenn noch viel zu viele Hürden vor uns lagen. In der Stille hörte ich plötzlich ein Geräusch, ganz leise und gleichmäßig war es, wie Regentropfen in einen großen Teich. Doch dann drängte es sich weiter in den Vordergrund und ich hob den Kopf, das stechende Blatt einer Palme, von deren Art es hier mehr gab, im Nacken spürend. Die Schritte, die das Geräusch verursachten, kamen immer näher. Flüsternd forderte ich meine Schwester auf, sich wieder auf dem Stuhl niederzulassen. Das hallende Geräusch ebbte ab, als die kleine Gruppe den Gang erreichte, wodurch ich jetzt auch eine tiefe Männerstimme ausmachen konnte. Der Sprecher trat als Erster in den Vorraum, gefolgt von zwei weiteren jüngeren Männern. Die beiden Äußeren trugen schwarze wallende Gewänder, während der Mittlere eine ausgewaschene Jeans und einen braunen Pulli anhatte. Dies musste die Preisrichtergarde sein, die aus bereitwilligen Preisrichtern aber auch vertrauenswürdigen Pebblern oder Ardesianern bestand und im Namen der Preisrichter für Recht und Ordnung sorgte. Zweifellos waren die zwei in schwarz gekleideten jungen Männer Preisrichter, wenn sie sich in diesem Teil des Diamond Towers ohne weiteren Geleitschutz durch andere als Preisrichter erkennbare Personen befanden. Noch nie hatte ich so junge Preisrichter wie diese gesehen, denn im Preisrichterrat, der sich für die Limestoner am sichtbarsten in der Öffentlichkeit bewegte, waren nur erfahrene Preisrichter, also ältere, die auch bei Überraschungen keine Miene verzogen und ihr Urteil auch bei höheren Schichten ohne Vorurteile fällten. Dass letzteres nicht unbedingt immer gewährleistet war, war nicht zu bestreiten. Schon oft genug waren Vorwürfe der Korruption zwischen ranghohen Personen und den Preisrichtern laut geworden, doch solche Misstöne oder zumindest ihre Verursacher waren meist schnell weg vom Fenster. So hatte ich lediglich einen Teil des Unterrichtsstoffs wiederholt. Dass meine Meinung über die Preisrichter und deren Weltansichten in eine ganz andere Richtung als die der Schulleitung und des Bildungsministers gingen, war schon allein durch meine Mutter und deren Sicht der Dinge gewährleistet.

Ich spürte einen leichten Druck auf meinem Schuh, als mich meine Schwester aus meinen Gedanken zurückholte. Beschämt senkte ich den Blick, als ich merkte, dass ich die drei Männer immer noch anstarrte. Diese waren mittlerweile vor einer der beiden Aufzugtüren, während sie dem grün blinkenden Rand des Knopfes nach zu schließen auf den Lift warteten. Keiner der beiden in schwarz gekleideten hatte meinen Ausrutscher bemerkt. Nur der andere Junge betrachtete mich interessiert. Ich hob den Blick, um seinen zu erwidern, als mir ein Keuchen entfuhr. Seine Stirn über den dunkelblauen Augen war leer, dort, wo eigentlich sein Preis hätte stehen müssen, war ein schwarzes Nichts, das mein letztes Stück Selbstbeherrschung verschlungen hatte. Weil der Junge wohl das Entsetzten in meinem Gesicht gesehen hatte, verdunkelten sich seine Augen und er drehte sich in die Richtung, in die die anderen schauten. Langsam machte dem anfänglichen Schreck einer Panik Platz, die nichts mit dem fehlenden Preis des Jungen zu tun hatte. Er hatte meinen Blick gesehen, er wusste, was ich gesehen hatte und somit war es für ihn nicht schwer zu erraten, welche Fähigkeiten in mir schlummerten. Mein Bauch zog sich ob dieser Erkenntnis zusammen, auf meiner Haut bildete sich Schweiß. Das Ticken der Uhr, die über meinem Platz hing, kam mir unheimlich und viel zu laut vor, als ob sie wüsste, dass mein Geheimnis kurz vor der Offenbarung stand. Eins, zwei, drei, vier. Ticktack, ticktack. Die Sekunden verstrichen und nichts passierte. Ein Geräusch ließ mich zusammenzucken, als sich die Aufzugtüren öffneten, dann das leise Rumpeln, während sie sich wieder schlossen. Ich atmete einmal, zweimal. Dann richtete ich meine Augen auf die Stelle, wo vor kurzem noch der Mensch gestanden war, der jetzt mein Schicksaal in der Hand hatte.

Ich beruhigte mich erst wieder, als nach zwei weiteren Minuten meine Mutter ins Zimmer trat und mit freudiger Miene verkündete, sie habe die Papiere für Leo. Der Weg zur Tür über den Aufzug und die Empfangshalle war kurz und wir alle waren froh, als wir dem Diamond Tower den Rücken zukehren konnten. Als wir vor diesem standen, die Sonne, die bereits den Zenit überschritten hatte, im Gesicht, konnte meine Schwester das freudige Jauchzen, das über ihre Lippen kam, nicht unterdrücken. Endlich war die schwer lastende Sorge weg, endlich hatten die Wolken in unserem Leben der Sonne Platz gemacht. Für einen Moment vergaß ich all die anderen Sorgen und zusammen mit meiner Schwester drehte ich mich um unsere Mutter, das Gesicht zum Himmel gestreckt. So tanzten wir am Fuße des Diamond Towers.

Morgensonnenschein

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