Читать книгу Grenzenlose Hoffnung - Alvaro Solar - Страница 17
DER BRUNNEN
ОглавлениеMein Name ist Ali.
Na ja, ich habe eigentlich einen langen Namen,
aber in Deutschland ist nur „Ali“ einfacher.
Ich bin 36 Jahre alt, bin verheiratet und habe vier Kinder.
Ich komme aus Paktia, Afghanistan.
Ich kann Dari sprechen, also Persisch, Arabisch, Urdu und Paschto.
Und das, obwohl ich weder schreiben noch lesen kann.
Ich versuche jetzt auch noch Deutsch zu lernen.
Mein Geburtsort Paktia, das ist im Südosten Afghanistans,
an der Grenze zu Pakistan, war früher sehr schön.
Heute nicht mehr.
Fünfzehn Jahre Krieg haben alles zerstört.
Ich komme aus einer großen Familie
mit vier Schwestern und vier Brüdern.
Als Kind durfte ich leider nicht zur Schule gehen.
Das war von den Taliban verboten.
Ich habe damals schon gerne gezeichnet, alles Mögliche:
Tiere, Menschen, Landschaften, Objekte.
Ich zeichne und vergesse die Welt,
als wäre ich plötzlich an einem anderen Ort.
Nur mit mir selbst.
Als ich 8 Jahre alt war, bin ich eines Tages
Wasser aus dem Brunnen holen gegangen.
Ich fiel hinein. Es war sehr tief und dunkel.
Ich lag unten, vom Wasser ganz bedeckt,
nur mein Gesicht war frei.
Ich konnte also atmen, aber mich kaum bewegen.
Eine Rippe war gebrochen, die Hüfte, ein Knie und eine Hand.
Ich habe gerufen, geschrien, so laut ich konnte.
Meine Mutter hat meine Hilferufe gehört.
Das hat mir das Leben gerettet.
Als ich 23 Jahre alt war, habe ich bei einer
amerikanischen Metallfirma gearbeitet.
Den Job hatte ich von einem Neffen angeboten bekommen.
Drei Jahre lang konnte ich dort ohne Probleme arbeiten.
Dann haben die Taliban das mitgekriegt.
Ich musste weg.
Ich ging nach Dubai,
in die Arabischen Emirate.
Dort habe ich mich als Taxi- oder LKW-Fahrer durchgeschlagen.
Auch als Tischler habe ich gearbeitet.
Aber das Geld war zu wenig.
In Afghanistan hatte meine Familie auch nicht genug zum Leben.
Mein Vater befahl mir zurückzukommen
und für die Familie bei der Schafherde zu arbeiten.
Ich war sehr jung und wusste nicht,
dass das Leben noch härtere Prüfungen für mich bereit hatte.
Als ich 26 Jahre alt war,
gab es in unserer Ortschaft eine Konfrontation
zwischen den Taliban und der Polizei.
Eine Bombe explodierte direkt auf unserem Haus.
Zwölf Menschen sind dabei getötet worden.
In einer Sekunde haben sie meine ganze Familie ausradiert.
Meine Eltern und meine Geschwister.
Ich befand mich in der Zeit in Kabul,
deshalb bin ich noch am Leben.
Der Brunnen, in den ich danach gefallen bin,
war noch tiefer und dunkler.
Ich zog nach Kabul in das Haus meiner Schwiegereltern ein.
Irgendwann heiratete ich und bekam vier Kinder.
Eines Tages entschied ein Onkel von mir,
dass das Haus und das Land meiner Eltern ihm gehörten.
Also sagte er:
„Wenn ich dich wiedersehe, bringe ich dich um.“
Ich hatte nun dort keine Zukunft mehr.
Ich entschied das Land zu verlassen,
und andere Möglichkeiten für meine Familie,
für meine Kinder zu finden.
Durch Pakistan, den Iran, die Türkei und Griechenland,
durch Mazedonien, Serbien und Österreich,
zu Fuß, durch das Wasser, mit dem Bus, dem Auto etc.
bin ich nach Deutschland gekommen.
Und nun bin ich in Bremen.
Allein.
Ohne meine Frau, ohne meine Kinder.
Ich kann nicht schlafen, ich habe keine Ruhe.
Wenn ich die Augen zumache,
dann sehe ich all die schrecklichen Bilder vor mir.
Ich hoffe meine Familie bald wieder bei mir zu haben,
um endlich Frieden zu finden.
Trotz allem, manchmal kann ich lachen,
ich kann mich über Kleinigkeiten freuen.
Oder ich nehme einen Stift und zeichne.
Ich zeichne das, was mir durch den Kopf geht.
Dann sind die anderen Bilder weg.