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XXI. Kapitel

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Vom Zorn: Er ist vor der Aufwallung zu verhüten, oder doch in der Aufwallung zu dämpfen, nach der Aufwallung zu überwinden (90). Das vorbildliche Beispiel des Patriarchen Jakob (91—92) und der Kinder (93). Vor der Philosophie hat längst die Hl. Schrift die einschlägigen Grundsätze ausgesprochen (94—97).

90. Man hüte sich vor Zorn! Oder kann man ihm nicht vorbeugen, dämpfe man ihn! Denn die Erbitterung ist eine schlimme Verführerin zur Sünde. Sie verwirrt die Seele, so daß sie vernünftiger Überlegung nicht mehr fähig ist. Das erste nun ist, daß einem womöglich durch eine Art Gewöhnung, durch Herzensbildung und Vorsatz die Ruhe im Verhalten zur zweiten Natur werde. Weil sodann die Zornesregung zumeist so tief dem natürlichen Charakter anhaftet, daß sie sich nicht (von vornherein) ausrotten oder verhüten läßt, unterdrücke man sie durch die Vernunft, wenn man sie voraussehen kann. Oder aber man überlege, wenn die Seele von Erbitterung erfaßt wurde, bevor sich durch Überlegung dagegen vorbauen und vorsehen ließ, wie man die seelische Erregung überwinden, den Jähzorn dämpfen könne. Widersteh dem Zorn, wenn du es kannst; weich ihm, wenn du es nicht kannst! Denn es steht geschrieben: „Gebt Raum dem Zorn [Gottes]!“133.

91. Jakob ging dem zürnenden Bruder aus dem Weg und wollte lieber, von Rebekka, d. i. von der Geduld134 beraten, in der Ferne und Fremde weilen, als den Unwillen des Bruders reizen, und erst dann zurückkehren, als er den Bruder besänftigt glaubte135. So fand er denn auch so große Gnade bei Gott. Mit welchen Liebenswürdigkeiten sodann, mit welch großen Geschenken machte er sich den Bruder selbst geneigt, so daß dieser nicht mehr des vorweggenommenen Segens gedachte, sondern nur der geleisteten Genugtuung eingedenk war!136

92. Wenn also Zorn dein Gemüt überrascht und überrumpelt und in dir aufsteigt, weich nicht von deinem Standpunkt! Dein Standpunkt ist die Geduld, dein Standpunkt ist die Weisheit, dein Standpunkt ist die Vernunft, dein Standpunkt ist die Dämpfung des Unwillens. Oder regt dich die Frechheit auf, mit der einer antwortet, oder reizt dich seine Verkehrtheit zum Unwillen, bezähme deine Zunge, falls du den Sinn nicht besänftigen kannst! Denn so steht geschrieben: „Halt deine Zunge und deine Lippen im Zaum, daß sie nicht Trug reden!“137 Ferner: „Suche Frieden und geh ihm nach!“138 Betrachte jene Friedfertigkeit des heiligen Jakob, mit der du allererst deinen Sinn besänftigen solltest! Vermagst du das nicht, so lege deiner Zunge Zügel an! Sodann unterlaß die Bemühung um die Wiederversöhnung nicht! Die weltlichen Redner haben diese Grundsätze von den Unsrigen entlehnt und in ihren Schriften niedergelegt. Doch der Vorzug dieser Auffassung gebührt dem, der sie zuerst vorgetragen hat.

93. So laßt uns also den Zorn meiden, oder aber dämpfen, daß er nicht in unserem lobenswerten Betragen eine Ausnahme bilde, in unserem sündigen Verhalten die Schuld mehre! Nichts Geringes ist es, den Zorn zu besänftigen; nichts Geringeres, als sich überhaupt nicht aufzuregen. Ersteres ist unser Verdienst, letzteres glückliche Naturanlage. Bei Kindern nehmen sich denn auch Zornesregungen harmlos aus; sie sind mehr drollig denn widerlich. Und kommen auch Kinder unter sich rasch in Aufregung, lassen sie sich doch rasch besänftigen und begegnen sich wiederum in um so größerer Freundlichkeit. Sie wissen nichts von hinterlistigem und ränkevollem Benehmen. Verachtet diese Kinder nicht! Der Herr sagt von ihnen: „Wenn ihr euch nicht bekehrt und werdet wie dieses Kind, werdet ihr in das Himmelreich nicht eingehen“139. Der Herr selbst, d. i. Gottes Kraft hat gleich einem Kinde, da er geschmäht wurde, die Schmähung nicht erwidert; da er geschlagen wurde, den Schlag nicht zurückversetzt140. Mache den Vergleich mit dir! Halte gleich einem Kinde nicht am Unrecht fest! Sei nicht bösartig! Alles geschehe deinerseits in Unschuld! Schaue nicht auf das, was dir von anderen vergolten wird! Behaupte deinen Standpunkt und wahre die Aufrichtigkeit und Lauterkeit deines Herzens! Erwidere dem Zornigen nicht auf seinen Zornesausbruch, noch dem Unverständigen auf seinen Unverstand! Rasch löst Schuld wiederum Schuld aus. Wenn man den Stein am Steine reibt, schlägt nicht Feuer hervor?

94. Die Heiden erzählen, wie sie alles mit Worten aufzubauschen pflegen, von einem Ausspruch des Philosophen Archytas aus Tarent141, den er an seinen Verwalter richtete: „Du Unseliger, wie würde ich dich schlagen, wenn ich nicht im Zorn wäre!“ Doch schon David hatte die im Unwillen erhobene bewaffnete Rechte sinken lassen142. Und wieviel mehr besagt eine Schmähung nicht erwidern, als keine Strafe verhängen? Und zwar hatte Abigail durch bloße Bitten den wider Nabal zur Rache bereitstehenden Krieger davon abgewendet143. Daraus sehen wir, daß wir selbst schon dringlichen Bitten nicht bloß nachgeben, sondern sogar darüber uns freuen sollten. So sehr aber war David darüber erfreut, daß er die Fürbittende segnete, weil er durch sie von Rachegelüsten abgewendet wurde144.

95. Schon hatte er über seine Feinde geklagt: „Denn Missetat wälzten sie auf mich, und im Zorn fielen sie mir lästig“145. Hören wir nun, was der Zornerregte gesprochen: „Wer gibt mir Flügel gleich der Taube, und ich will fliegen und Ruhe finden“146. Sie reizten ihn zum Zorne, er aber zog die Ruhe vor.

96. Schon hatte er gesprochen: „Zürnet, doch sündiget nicht!“147 Als ein Sittenlehrer, der wußte, daß eine natürliche Regung durch vernünftige Lehre mehr gezügelt als getilgt werden muß, gibt er seine Sittenvorschriften. Er will sagen: Zürnet, sobald ein Verschulden vorliegt, dem ihr zürnen sollt! Denn es ist unmöglich, daß wir uns nicht über nichtswürdige Dinge aufregen. Andernfalls müßte darin nicht sowohl Tugend, sondern Stumpfsinn und Gleichgültigkeit erblickt werden. Zürnet also in der Weise, daß ihr von Schuld euch fernhaltet! Oder so: Wenn ihr zürnet, sündiget nicht, sondern überwindet kraft der Vernunft den Zorn! Oder aber so: Wenn ihr zürnet, zürnet euch selbst, weil ihr euch zum Zorn fortreißen ließet, und ihr werdet nicht sündigen. Denn wer sich selbst zürnt weil er so rasch zum Zorn sich fortreißen ließ, hört auf, dem Nächsten zu zürnen; wer aber seinen Zorn als berechtigt erscheinen lassen will, erhitzt sich noch mehr und fällt rasch in Schuld. Besser aber ist nach Salomo, wer den Zorn bezwingt, als wer eine Stadt einnimmt148; denn der Zorn beirrt selbst Starke.

97. So müssen wir uns denn hüten, in Aufregung zu geraten, bevor die Vernunft unsere Seele in die rechte Verfassung versetzt. Gar häufig nämlich bringen Zorn oder Schmerz oder Todesfurcht den Geist aus der Fassung und treffen ihn mit unvorhergesehenem Schlag. Darum ist es schön, durch Denken, das den Geist schult, zuvorzukommen, daß er nicht in plötzlichen Erregungen aufbrause, sondern gleichsam im Joch und Zügel der Vernunft sich besänftige.

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