Читать книгу Der Wolf der Wölfe - Andre Bixenmann - Страница 10
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»Einhundert Feuer?«, prustete der Rothaarige.
Gerlach nickte, wohlwissend, dass er sich damit dem Gespött der Anwesenden aussetzen würde. Wagner, wie der flammengeküsste Kerl genannt wurde, blickte stillschweigend in die Runde. Er strich sich durch den bronzefarbenen Bart, während man an seinen noch unbewegten Mundwinkeln hing. Dann griff er nach seinem Krug und teilte die in Zerwürfnis gebissenen Lippen zu einer jauchzenden Schlucht.
»Mir scheint das Bürschchen konnte nicht nur nicht zählen, sondern es war obendrein noch ein Lügner«, ächzte der Rothaarige, wodurch er lautstarkes Gelächter provozierte.
Gerlach aber lachte nicht.
Dafür rammte er die hölzerne Schaufel in den Boden. Er streckte den Rücken und klopfte sich den Staub von seiner hageren Gestalt, bis der ihn umringende Hohn wieder dem Lagerleben erlag. Eine Nachricht wie diese wollte in Gallas‘ Banner, wie die Einheit nach ihrem Kommandierenden hieß, niemand hören. Denn sie bedeutete für die gerade von der milden Sonne verwöhnten Soldaten, sich den eigenen Tod eingestehen zu müssen. So wurde im Schatten der greifentragenden Wimpel des Fürstentums Crest viel lieber geschnarcht, gespielt, gesoffen. Und im Falle von Wagner, der ein Mädchen auf seinen Schoß zerrte, auch den fleischlichen Dingen des Lebens gefrönt.
Während dieser also seinen Kopf zwischen großen Brüsten vergrub, rieb sich Gerlach mit dem Hemdärmel über die Falten und Blattern, die ihn verunstalteten. Anstatt die kitzelnden Schweißperlen jedoch zu verbannen, schmierte er sich Blut und Ruß auf die fleckige Haut.
»Totengräber«, meinte der rothaarige Wagner plötzlich in Richtung von Gerlach. Gerade am Trosswagen vorbeistiefelnd, rollte dieser die Augen. »Hat er sonst noch was geplaudert?«
»Sie marschieren«, diktierte Gerlach die brüchige Stimme des knabenhaften Boten zur Antwort.
Angesichts der geschauten Gleichgültigkeit schien es ihm, als hatte er mit dem zugerichteten Körper auch die Warnung des Knaben im Erdreich begraben. Auf eine merkwürdige Art beschämt, sank der ältere Mann seufzend auf seine morschen Knie und klammerte sich an den Rand eines Bottichs. Von seinem Spiegelbild geschreckt, begann das mückenumtoste Wasser zu vibrieren. Es erinnerte an die knochigen Züge des toten Jungen, über den von der Hure bis zum Soldaten alle lachten.
»Und wenn schon«, schnaubte der Kupferbärtige.
Gerlach indes sah den Boten noch einmal aus dem Sattel stürzen. Als dessen Schädeldecke vor seinem geistigen Auge zerschellte, knallte ein Würfelbecher auf den Tisch.
»Von mir aus könn‘ in Ostgards Heerlager tausend Feuer brenn‘«, lallte ein Spieler, »ich hab‘ gehört, der Wolf kommt zurück nach Crest.«
»Oh ja«, pflichtete Wagner bei, »das ist in aller Munde.«
Damit sorgte er nicht nur für einhellig gemurmelte Zustimmung, sondern auch für Erleichterung. Gerlach hingegen tauchte seine Schwielen ins Wasser und machte die Erinnerung verblassen.
»Der Wolf? Wer soll das sein?«, traute sich ein junger Landsknecht zu fragen, dem die Verwirrung ins Gesicht geschrieben stand.
Die Kampferprobten in der Runde stimmten ein Gelächter an.
»Ein Teufelskerl ist das, mein Junge«, gab sein Nebensitzer zu verstehen, »ein Söldner der übelsten Sorte. Und – wie manche sagen – ein Zauberer.«
»Ein Zauberer?«
»Ein Zauberer«, bestätigte man ihm.
»Was kann er?«
»Nur indem er dich ansieht«, erklärte sein vorgebeugter Sitznachbar, »verwandelt er deine Unterbuchse in ein braunes, stinkendes Bündel.«
Das Lager grölte, zerzauste dem Jungen das Haar und würdigte ihn beschämender Blicke.
»Hab‘ mir mal sagen lassen, der Kerl soll sich seine Narben auf der Wange selbst beigefügt haben. Nur um einem den Mumm aus den Eiern zu quetschen.«
»Erzähl‘ keinen Scheißdreck«, fuhr Wagner dazwischen. Er schaute zu Gerlach, noch bevor er dem Mädchen unter den Rock griff. »Jeder weiß, dass er eine bei Gotenburg kassiert hat. Hab ich nicht recht, Totengräber?«
Der Angesprochene, bei dem sich erneut die Blicke kreuzten, richtete sich langsam auf, hob den Kopf und nickte.
»Die Zweite«, sagte er, indem er sich mit dem Finger quer über die Wange fuhr.
»Der zählt doch kaum dreißig Winter«, erhitzte sich jemand.
»Ein Kind des Krieges eben.«
»Ein mieser Hurensohn, wenn ihr mich fragt«, meinte ein Glatzkopf, indem er auf den Boden spuckte. »Der Wichser kennt keine Gnade.«
»Ja, das habe ich auch gehört«, bestätigte sein Vorredner.
»Bei Mergentheim soll er ein Dutzend Gefangene hingerichtet haben. Vor den Augen des Trosses.«
»Und in Eichwald hat er scheint’s erst gar keine machen lassen. Hat die ganze Besatzung abgeschlachtet.«
»So erzählt man«, kommentierte Wagner das vielzählige Nicken.
Während er mit Daumen und Zeigefinger in eine Brustwarze kniff, begann seine andere Hand zwischen den Schamlippen des Mädchens hin und her zu wippen. In die betretene Stille hinein strömte leises Stöhnen.
»Es heißt aber auch, dass er unserem alten König mal das Leben gerettet haben soll.«
»Mag sein. Aber wer weiß schon, ob das alles stimmt«, resümierte ein Halbstarker. »Um Haudegen wie ihn ranken sich immer viele Gerüchte.«
Die Anwesenden, gespalten in Bewunderer und Skeptiker, bejahten.
»Ist auch scheißegal«, brüllte der Rothaarige, weil das Quieken des Mädchens in der Diskussion unterzugehen drohte. »Hauptsache Prinz Albrichs Speichellecker liegen seit Gotenburg würmerzerfressen unter der Erde.«
Wenigstens darüber herrschte Einigkeit.
»Auf den Wolf«, stimmte ein Spielmann mit dem Greif Crests auf der Brust an.
Der Totengräber Gerlach nahm das Vivat zum Anlass, den zerbeulten Becher von seinem Gürtel zu lösen und sich Bier aus einem Fass beim Trosswagen zu schöpfen. Noch bevor ihm ein weiteres plagendes Bild über die Augen wischen konnte, stürzte er den Alkohol die Kehle hinunter. So hörte er den ausgelachten Reiter nur mehr leise den drohenden Untergang des Landes prophezeien.
Inmitten dieser Gelassenheit vernahm man plötzlich, wie ein Horn gellte. Lang, kräftig und eindringlich genug, um seine Artgenossen in der gesamten Zeltstadt anzustecken. Als bald ein ganzer Kanon von Signalen über die Lagerstätte schwappte, begann ein jeder von dem, was er gerade tat, innezuhalten. Gegenwärtig angestoßene Krüge wurden abgestellt, schmatzende Zähne am Kauen gehindert und klappernde Würfel unter einem Becher begraben.
»Was soll das?«, fragte einer der Soldaten stellvertretend, der den Kopf vom Stiefelputzen hob.
Mucksmäuschenstill legten die eben noch berauschten Männer ihre Ohren an. Ein mancher gar begann aus Vorahnung zu schlucken.
»Alarm«, übersetzte der Spielmann, ungläubige Blicke erntend. Genau dann machte ein kräftiger Windstoß nicht nur die Zelte und Feuer knattern.
Mit ihm und der ringsum ausbrechenden Hektik begann es auch den Soldaten kalt über den Rücken zu laufen. Während es ihnen noch die Sprache verschlug, fügten sich Flüche und Befehle beim Rest der Einheit schon zu einem fürchterlichen Gesang, unter dem die ersten Fahnen zur Aufstellung brausten.
»Sie sind hier«, donnerte ein vorbeirauschender Feldwebel, dem Angst und Unbehagen ins Gesicht geschrieben stand. »Ostgard ist hier.«
Kaum war das Unaussprechliche gesagt, stolperten auch die bis gerade noch Ungerührten wild durcheinander. Alle suchten nun torkelnd nach Rüstung und Waffe. Alle, bis auf Wagner, dem der Mund so weit offenstand, dass ihm Zerkautes aus der Lade fiel. Die starren Augen auf Gerlach gerichtet, rieb er sich zitternd die Stirn.
»Was machst du?«, wollte er von demjenigen wissen, der vielleicht aus Eile statt zur Waffe nach seiner Schaufel griff.
»Was soll ich schon machen?«, antwortete Gerlach voller Resignation. »Eure Gräber.«