Читать книгу Der Wolf der Wölfe - Andre Bixenmann - Страница 12

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III

»Neunundzwanzig«, zählte Sanguis beim Anblick der jungen Frau, die am Wegesrand gehängt worden war.

Ihre blaublassen Blutergüsse auf Busen und Bauch leuchteten im Lila der niedergedrückten Fliedersträucher, in denen man sie zuvor vergewaltigt haben musste. Neunundzwanzig Frauen und Männer, erinnerte sich der Braunhaarige, hatten seinen Weg vom Hafen bis hierher gesäumt. Verstümmelt. Verbrannt. Verwest.

Sanguis blinzelte und mahnte das Pferd zur Weiterreise. Ob ihm die Hingerichteten den richtigen Weg wiesen, wusste er nicht. Mit Gewissheit aber beschieden sie dem Heimkehrer ein verheißungsvolles Willkommen.

Der Kreuznarbige ritt nach Südwesten: entgegen aller Warnungen und Ratschläge genau dorthin, wo die jüngsten Kämpfe gewütet haben mussten. Und wo er seine Schwester vor Jahren zuletzt gesehen hatte. Die Kapuze, die er seit Verlassen des Schiffes tief ins Gesicht gezogen hatte, schützte ihn statt vor lästigen Blicken nur mehr vor der blendenden Abendsonne. Sie, in deren herbstlich-blattlosem Schatten der Söldner den Waldweg entlangritt, war sein einziger Zeuge gewesen. Bis jetzt. Denn unmittelbar vor der nächsten Biegung hörte er Stimmen.

»Sing‘«, befahl jemand.

»Ja, Krähe. Sing‘ uns das Lied von Gotenburg.«

Es folgte mannigfaltiges Raunen, demnach sich ein gutes Dutzend Leute in der Nähe befinden musste. Eilends verdeckte Sanguis die aus der Schlafrolle lugenden Enden seines Schwertes. Noch während er die Konturen seiner Rüstung zu verschleiern suchte, brachte ein merkwürdig helles Brummen die Luft zum Schwingen. Was in losgelösten Tönen begann, entwickelte sich flugs zu einem metallischen Schnurren.

»Eine Laute?«, fragte sich Sanguis.

Dann schon wob sich eine männliche Stimme klangvoll und harmonisch in das, was tatsächlich Saitenschlag war, ein.


»Dem Löwen auf die Wallstatt folgten,

um das Banner dicht geschart,

Ritter, Recken, purpur-golden,

tugendhaft und eisenhart.«


Mit Ausklingen der Strophe erblickte Sanguis den Sänger, der mit Instrument in Händen und schwarzer Strähne im Gesicht auf einem Baumstumpf stand. Aus seiner Weste quoll ein aufgeknöpftes Hemd, während die Hose von bunten Flicken blinkte. An seinem fleckigen Gürtel hingen ein Hut und ein hölzerner Löffel. Um einen seiner Stiefel schlang sich ein ausgefranstes Band, an dem einige winzige Glöckchen hingen. In seinen eigentlich weichen Zügen, die im Takt des Liedes wippten, furchten Falten kleine Schattenrisse. Zusammen mit dem gepflegten Bart schätzte ihn der Söldner für gleichaltrig. Wie alt auch immer das genau sein mochte.

»Fein, fein«, würdigte derjenige, der dem Musikanten am nächsten stand und damit in Sanguis‘ Sichtfeld rückte.

Dieser rieb sich gerade über die vom Dämmerschein befleckte Glatze, bevor sich seine Arme vor dem Kettenhemd verschränkten.

»Spiel weiter, nur weiter, Vögelchen«, sagte er nickend.

Dem Schwarzhaarigen schlug Gelächter entgegen; Spott von gut zwei Handvoll Männern, die dem Spektakel im Hintergrund beiwohnten. Mit Hohn in ihren Blicken. Und einer gespannten Armbrust, die unruhig auf den Sänger zielte.


»Auf der Weide, wie zum Trotze,

stellte sich gar sehr verwegen,

auf Rock und Fahn‘ ein großer Ochse

mit Hörnern ihm entgegen.


Warn Hunderte, warn Tausende,

kampferprobt und unbesiegt,

warn Väter, Söhne, Liebende

dort aneinander angeschmiegt.«


»Schön, schön«, kommentierte der Glatzköpfige, kurz bevor man den Neuankömmling bemerkte.

Mit einer seichten Handbewegung begegnete Sanguis dem Anführer, der seinen Blick – nicht ohne offensichtliche Erleichterung des Musikanten – über die Schulter warf. Gleichzeitig lenkte er das Pferd an den äußersten Rand des Weges, womit er zu verstehen gab, ohne Anteilnahme am Geschehen vorbeireiten zu wollen. Nach eingängigem Mustern auf der einen und verängstigtem Hoffen auf der anderen Seite wedelte der haarlose Bulle mit der Hand. Ohne ein Murren blieben Aufmerksamkeit und Armbrustbolzen auf den drangsalierten Schwarzhaarigen gerichtet. Sanguis lächelte.

»Sing‘ weiter, gleich die nächsten beiden Strophen«, befahl der Anführer und von angstklammen Fingern geschlagen, surrten die Saiten den nächsten Akkord.


»Mit Säbel, Schwert und Spieß in Händen

stürmten sie dem Winde gleich,

um den Landesstreit zu enden,

übers Feld ins Totenreich.


Weshalb sie diese Qualen litten,

indem sie kämpften wild und rau,

wofür sie hier mit Eifer stritten,

wusste keiner so genau.«


»Bravo«, schnitt der Bulle klatschend die zur Fortführung schwingenden Takte ab. »Und jetzt halt‘ die Schnauze. Den Rest will niemand hören.«

Auf sein Nicken hin entfuhr der Armbrust ihr eigentümliches Schnalzen. Schlagartig war jedweder Ton getilgt, als der Bolzen durch springende Saiten in die Rückwand der Laute, aber nicht darüber hinaus schoss. Dann füllte Gelächter über den zusammengezuckten Barden die Stille.

»Knüpft ihn auf«, befahl der Anführer, als hätte er von vornherein mit der Unversehrtheit des Musikanten gerechnet.

Sanguis sah den Barden schlucken. Als der just um einen Ast geworfene Strick vor dessen Kopf zu pendeln begann, plumpste das Instrument zu Boden. Der Musikus fuhr zurück, machte die Glöckchen an seinem Fuß makaber klingeln. Dann zerrte ihn jemand an seinem Hals und drückte ihn durch jene Schlaufe, die bald festgezogen war. Während er so seiner von dannen ziehenden Hoffnung hinterherblickte, den ganzen Körper schon steif für den bevorstehenden Tritt vom Baumstumpf, drehte sich Sanguis ein letztes Mal um.

»Noch ein letztes Wort, bevor wir dir den Hals umdrehen, Vögelchen?«

»Wolf«, stotterte er.

»Hm?«

»Ein Wolf«, ächzte der Barde, die bebende Hand auf den Reiter gerichtet.

Und tatsächlich: Bis der Söldner bemerkte, dass seine Kapuze durch die Kopfbewegung verrückt war, hatte man die bloße Narbe entdeckt. Mit einem Mal gebührte ihm die ungeteilte Aufmerksamkeit.

»Du bist zu spät«, brüllte der Glatzköpfige hernach. Er öffnete die Arme und stiefelte dem Kapuzenträger rasselnd hinterher.

»Zu spät für was?«

»Den Krieg, du Arschloch. Wir sind so gut wie tot.«

Sanguis schüttelte den Kopf.

»Ich sehe genug Halunken, die mir etwas anderes verraten.«

Der Haarlose machte Anstalten etwas zu erwidern. Doch der Weiterreitende kam ihm zuvor.

»Außerdem wüsste ich nicht, dass wir beim „Du“ wären.«

Stirnrunzelnd blickten die Gefolgsleute zu ihrem Anführer. Statt zu antworten, leckte er sich über die untere Lippe.

»Helft mir«, krächzte der Barde, der unversehens einen Ellbogen zu spüren bekam. Soweit gekrümmt, wie es der Strick noch zuließ, keuchte er um Erbarmen.

»Er wird dir nicht helfen«, zischte der Stämmige, »so wie er Calranien nicht geholfen hat.«

Sanguis rümpfte die Nase. Ungesehen spannte er die Zügel.

»Wie viele Winter ist Gotenburg her? Jene Schlacht, von der unser Herr Barde hier gesäuselt hat?«

»Fünf«, meinte einer der Männer zu wissen.

»Ach was«, widersprach ein anderer, »sechs.«

»Neun«, fauchte der Kreuznarbige, den Blick über seine Schulter werfend. Der Glatzkopf nickte.

»Und neun Winter sind es, die Ihr uns den Rücken gekehrt habt. Seither schmoren wir in der Ungerechtigkeit, die Ihr einst in Gotenburg bekämpft habt.«

Plötzlich brachte der Söldner das Pferd zum Stehen. Die Armbrust im Rücken machte seinen Bauch kribbeln.

»Muss ich Euch erinnern?«, erhitzte sich der Ankläger. »Wie Ihr den König an diesem Tag gegen das Unrecht seines missratenen Sohnes verteidigt habt?«

Sanguis atmete tief ein. Seine Hände verkrampften.

»Da habt Ihr mich falsch verstanden«, begann er zurückzuweisen. »Ich kämpfte in Gotenburg des Goldes wegen. Für keinen totgeglaubten Herrscher. Gegen keinen unreifen Prinzen. Nur für meinen zugegeben prallen Geldbeutel.«

Die Worte begleitete ein dunkles Blitzen, wo man unter der Vermummung die Augen des Söldners vermutete. Die Anwesenden rangen, ob der Enthüllung nach Luft. Verbitterung äußerte sich in knirschenden Zähnen und finsteren Mienen. Einzig der Anführer wagte seiner Enttäuschung Ausdruck zu verleihen.

»Ihr wart mal ein Held, eine Legende. Heute aber seid Ihr ein Haufen Scheiße«, schimpfte er, indem er auf den Boden spuckte.

Das genügte, um dem Söldner eine Reaktion abzutrotzen. Und was für eine: Mit dem ersten Wiehern des Pferdes nämlich zwang Sanguis das Pferd nicht zur Wende, sondern gleich zum Antritt. Gegen den aufbäumenden Widerrist des Tieres gepresst, musste der abgeschossene Armbrustbolzen zwangsläufig so dicht an dessen Haaren vorbeisausen, dass es dem Kreuznarbigen die Kapuze vom Kopf riss. Derweil das Pferd lostrampelte, nutzte der Barde die um sich greifende Überraschung, um seinem Aufpasser mit der Ferse in die Weichteile zu treten.

»Schnappt ihn«, brüllte der Anführer da mehrheitlich aus Zugzwang.

Doch bis irgendeiner seiner Männer dem Pferd bedrohlich nahe kommen konnte, hatte der Kreuznarbige den glatzköpfigen Schreihals bereits unter seiner Achsel eingehakt. Während seine Sohlen folglich über den Boden fegten, verpasste ihm Sanguis mehrere Schläge ins Gesicht. Solange, bis das Pferd beide bis zum Baumstumpf getragen hatte.

»Den Strick«, schnaubte der Braunhaarige, worauf ihm der Barde gleich beide Seilenden in die Hand schwang.

Keinen Lidschlag später fand sich der stämmige Herausforderer mit dem Kopf in der Schlinge wieder. Mit nur wenigen Tritten des Pferdes, um dessen Sattelhorn der Reiter das lose Ende geworfen hatte, stand er nur mehr japsend auf den Zehenspitzen. Es war dieser Augenblick, da die Bewegungen eines jeden einfroren und man dem Treiben bloß noch wie angewurzelt beizuwohnen wagte.

»Sing‘, Vögelchen«, bedeutete Sanguis jenem Glatzkopf, der nun selbst schwitzend auf der Stelle tappte, um nicht in den Strick zu fallen. »Du kennst die nächste Strophe.«

Auf dessen ungeduldiges Knurren hin begann der Strangulierte zu röcheln.


»Aus dem Himmel kullern Tränen

am Tage jener Schicksalsschlacht,

weil Brüder sich dem Tode wähnen,

die ihr Hass zum Feind gemacht.«


Sanguis bleckte noch einmal die Zähne, während der Barde seinen Peiniger wie zur Vorführung umkreiste. Er massierte sich den Hals und rückte seine Weste zurecht. Als er irgendwann vor diesem zum Stehen kam, bemerkte Sanguis ein feistes Lächeln im Gesicht des Musikus.

»Das war nicht der Pl…-«, versuchte der rotgedunsene Glatzkopf noch mit ausgestreckter Hand zu sagen.

Ehe er den Satz jedoch mit Worten abschließen konnte, schlug der langhaarige Barde auch zur Überraschung des Kreuznarbigen auf den Pferdehintern. Indem das Tier erschrocken ausbrach, beendete es das eigentlich nur angedeutete Vorhaben mit einem unumkehrbar grässlichen Knacken. In die darauffolgende Stille hinein, erhob sich aus der Kehle des Barden plötzlich wieder die bekannte Melodie. Dieses Mal aber kratzig und im Angesicht des Gehängten geradezu gespensterhaft.


»Den furchtlos‘ Löwen schlug ein Mann,

den heute noch die Sage meist,

als einen der nicht sterben kann,

nur noch den Wolf der Wölfe heißt.«


Just mit Ende des Liedes stieben die versteinerten Marodeure davon. Kopflos und in alle Winde, weshalb man nicht verübeln konnte, dass sich mehr und mehr Krähen rings um den Galgenbaum zum Totenschmaus eingeladen fühlten. Unter ihren wachsamen und geduldigen Augenpaaren ließ auch Sanguis den Blick schweifen: Vom schwarzhaarigen Barden, über dessen zerstörte Laute zu dem am Strick friedlich Schlummernden.

»Welche Zahl kommt nach neunundzwanzig?«, fragte der Söldner aus dem Nichts.

Der Musikant schaute ihn perplex an.

»Dreißig«, antwortete er.

»Dreißig«, wiederholte Sanguis, damit er beim Anblick des Gehängten an die Neunundzwanzig anzuknüpfen vermochte. Um der vergewaltigten und ermordeten Frau in den Fliedersträuchern und allen achtundzwanzig vor ihr noch ihre jeweilige Genugtuung zu schenken, bevor er dem Pferd die Sporen geben und sich wie die Sonne im Abendrot in ganz anderen Erinnerungen verlieren konnte.

Der Wolf der Wölfe

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