Читать книгу Der Wolf der Wölfe - Andre Bixenmann - Страница 15

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VI

Walter seufzte, als sich seine Hände zum wiederholten Male in den stinkenden Schlamm gruben. Braune Kleckse sprenkelten sein faltenreiches Gesicht und verklebten seinen wildwuchernden Bart. Seit Ewigkeiten, so kam es ihm vor, versuchte er das Fuhrwerk zu bewegen. Nicht nur, dass es zur Hälfte in seinem Acker steckte, es blockierte auch den angrenzenden Weg. Und obgleich er nicht der Verantwortliche für diesen Umstand war, hätte es ihn jeden Augenblick den Kopf kosten können. Denn ausgerechnet er war der Unglückselige, dem diese Flur auf halbem Weg von Crest nach Gotenburg zur Bewirtschaftung anvertraut war.

Ohne Zweifel bot die Situation genügend Anlass, um zu keifen und dem persönlichen Hass auf den Krieg Ausdruck zu verleihen. Ja, man hätte sich in all dem Elend selbst bemitleiden und verzagen können. Walter aber, ein Mann von über vierzig Wintern, zwang sich zu einem Lächeln. Schmatzend zog er seine Hände aus dem kniehohen Matsch und stemmte sich erneut gegen das Fuhrwerk. Nur langsam hoben sich die Räder aus dem nachgiebigen Untergrund, in den sie versunken waren.

»Mist verdammter«, durchbrach es plötzlich die Geräuschkulisse.

Die unbescholten-helle Stimme jedoch, die sich in das Ächzen des schlammverkrusteten Bauern mischte, brachte Walter nicht von seinen Anstrengungen ab.

»Leon«, stöhnte der Erwachsene stattdessen, während er gegen den Schmerz der Last ankämpfte, »du sollst nicht fluchen.«

Der Gemaßregelte in Gestalt eines kleinen Jungen zog eine Schnute. Er stemmte die Arme in die Hüfte und stampfte gegen den aufspritzenden Boden.

»Aber Papa«, erklang abermals seine Stimme, »da kommen Reiter! Schau‘ doch!«

Walter musste sich nicht umdrehen, um die Ankömmlinge zu bemerken. Aus den verengten Augenwinkeln heraus sah er wie der braune Wasserspiegel zwischen den zerklüfteten Morastatollen wellenförmig erbebte. So kam es, dass Walters stramme Muskeln schlagartig erschlafften, derweil sein in Anspannung erstarrte Gesicht wieder weiche Züge annahm. Während er das Fuhrwerk platschend zurücksacken ließ, überfiel ihn erneut der stechende Schmerz in Schulter und Armbeuge. Er schnaufte, tastete nach etwas zum Festhalten und wandte erst dann den schweißgesäumten Blick. Die Gestalt seines Sohnes, der neben einigen Erdhügeln stand, streifte er dabei nur knapp.

Als er die Umrisse der Reiter schaute, lief es ihm kalt über den Rücken. Es war ein halbes Dutzend von ihnen, die in schmetterndem Galopp von der Anhöhe über den Weg stieben. Im warmen Licht der mittäglichen Herbstsonne leuchteten die Berittenen in metallischem Bronzeton. Der Wind, den sie unbehelligt an sich zu zerteilen schienen, ließ ein purpurnes Banner beugsam flackern. Walter schluckte. Dann begann er durch den Acker in Richtung seines Sohnes zu waten.

»Ich will, dass du zu mir kommst, Leon«, bedeutete ihm der Vater mit zuckenden Augenlidern. »Leon, hörst du?«

Doch der Junge regte sich nicht. Wie angewurzelt verfolgte er die Bewegungen der Näherkommenden, bis seine Knie augenscheinlich zu zittern anfingen.

»Ich habe Angst«, schlotterte das Kind, indem es sich mit wässrigen Augen an den Vater wandte.

Während sich dessen Füße mühselig durch den zähen Dreck gruben, begegnete er dem bebenden Blick mit einem hoffnungsvollen Lächeln. Je ärger ihn dabei aber die müden Oberschenkel glauben machten, seine Muskeln könnten jeden Augenblick schnalzend zerreißen, desto bewusster wurde sich der Bauer, dass er seinen Sohn nicht rechtzeitig erreichen würde. Und tatsächlich war es bald die Gestalt eines mannhaften Reiters, die den vormals ins Sonnenlicht getauchten Jungen in einen kühlen Schatten hüllte.

»Papa«, wimmerte Leon, als das Pferd vor ihm den kräftigen Hals reckte und wiehernd auf die Trense biss.

Feuchtigkeit nieselte dem Jungen ins Gesicht. Ein Ritter, stellte Walter an der massiven Plattenrüstung, dem verzierten Stechhelm und der gold-gegitterten Schabracke fest. Das satte Purpur in den Kacheln der Kuvertüre deckte sich mit den Rockfarben des heranreitenden Bannerträgers und den ihn umgebenden Fahnenjunkern. Sie waren weniger schwer gepanzert als der vorausgeeilte Ritter und markierten dabei wohl nur einen Bruchteil des Gefolges, welches Walter hinter der Anhöhe auf Seiten des Fürstentum Gots vermutete. Ehe die Reiter aufgeschlossen hatten, hob der Ritter seine klappernde Faust und beschrieb einen Kreis. Flugs wurden die Pferde verlangsamt und vier der Männer scharten sich kreuzförmig um das Banner, wonach ein Augenpaar in jede Himmelsrichtung blickte. Einer jedoch blieb von dem Kommando unbeeindruckt und kam in einigem Abstand vor Walter zum Stehen. Dieser Kerl war anders, bemerkte der Bauer, der noch immer im Schlamm steckte.

»Ist das dein Acker?«, fragte dieser helmlose, wie es schien gedrungene Kerl mit dem geschwungenen Haaransatz und den grüngrauen Augen.

Ein Schafsfell bedeckte beide Schultern, während Brust und Bauch ein Harnisch schützte. Wären darin nicht die Silhouetten unterschiedlichster Waffen und Schilde eingraviert gewesen, hätte der Bauer es für eine standesgemäß, einfache Rüstung missdeuten können. So aber bestand nicht der leiseste Zweifel, dass sie einen erfahrenen Waffenmeister schmückte.

Walter schluckte, wonach drei weitere Reiter eilends über den Hügel preschten.

»Nein, mein Herr«, erwiderte er dem Kämpfer, indem er dessen seltenen Augenglanz begegnete, »es ist der Acker seiner königlichen Majestät Albrich von Iselin.«

Der Rittersmann daneben, dessen opulenter Brustpanzer ein Löwe zierte, rümpfte röhrend die Nase, woraufhin der Helmlose seinen Kopf zur Seite drehte. Durch die Bewegung schnappte der Bauer hinter der fellbedeckten, breiten Schulter die stählernen Konturen einer gewaltigen Parierstange auf, deren zugehörige Klinge er sich fröstelnd ausmalte. Als der Ritter seinerseits noch das Helmvisier quietschend nach oben klappte, begann Walter seine Worte zu bereuen.

»Dass du dich nicht schämst, uns auf eine solch dreckige Weise ins Gesicht zu lügen«, tobte der Edelmann, weshalb er mit der Faust krachend auf seinen Diechling schlug. »Ein prinzenloyaler Bauer im königstreuen Crest. Dass ich nicht lache.«

Das Gesicht des Ritters lief feuerrot an. Zähne knirschten. Und Walter senkte den Blick. Seine Ehrlichkeit würde ihn teuer zu stehen kommen, fürchtete er.

»Schaff‘ den Wagen von der Straße«, kam der breitschultrige Gedrungene etwaigen Sanktionen seitens des Ritters zuvor.

Die mildtätige Beherrschung in dessen Worten ließ Walter verzweifeln, denn seine Antwort würde enttäuschend ausfallen.

»Werter Herr, das habe ich bereits versucht, aber …«, begann er zu erläutern, ehe ihm der Ritter harsch übers Mundwerk fuhr.

»…- nichts aber. Mach‘ dein Problem nicht zu Unserem.«

Drohend tastete der Aufgebrachte nach seinem Schwertheft, als sich gegen die im Krächzen begriffene Klinge unerwartet eine fremde Stimme erhob.

»Was geht hier vor?«, schallte es auf eine junge und doch herrische Weise.

Da zwängte sich ein Dritter, der in ein goldgesäumtes Gewand gekleidet war, zwischen die beiden Reiter.

»Ein Fuhrwerk blockiert den Weg«, antwortete der Waffenmeister mit dem Zweihänder auf dem Rücken knapp.

»Der Bauer wird sich darum kümmern«, ergänzte der Ritter, indem er sein Schwert vollends aus der Scheide zog und drohend gegen den Stoßkragen klopfte.

Als Walters Blick auf den noch Unbekannten und das kurzgeschnittene, blonde Haar fiel, welches von einer glänzenden Krone eingefasst wurde, rutschte ihm das Herz in die Hose. Er hatte seine Augenlider so weit aufgerissen, dass Runzeln seine Stirn befielen, während sich seine Lippen zu einem staunenden Spalt öffneten. Mit Grauen erhaschte er den fehlenden Blattzinken auf der linken Seite der metallischen Wulst, von welcher eine tiefe Kerbe im Kronreif zu einer fleischigen Narbe auf der Stirn des Mannes überging. Jählings sackte Walter auf die Knie und wandte seine Augen ab. Zischend bedeutete er seinem versteinerten Sohn, es ihm gleichzutun. Vor sein Auge brannte sich das Abbild eines goldenen Löwen auf purpurnem Grund.

»Vergebt mir, Eure königliche Majestät«, entgegnete der in den Schlamm sinkende Bauer mit Schamesröte im Gesicht.

Gesenkten Hauptes spürte er den musternden Blick des blonden Neuankömmlings.

»Ihr ehrt mich mit einer Anrede, für welche hier der Galgen in Aussicht gestellt wird. Soweit mir bekannt ist, hält Crest noch immer seinen Schwur auf meinen Vater. Von daher bleibe ich ein Prinz. Erhebt Euch also«, sprach der Gekrönte auf eine barmherzige Weise, die Walter insgeheim hoffen machte. »Wer seid Ihr, guter Mann, dass Ihr das Schicksal auf solche Weise herausfordert?«, fragte der Blonde mit hochgezogenen Brauen.

In seinen blauen Augen spiegelte sich offenkundiges Interesse wider, während die weichen Gesichtszüge ein einladendes Lächeln enthüllten.

»Ich bin nur ein einfacher Bauer, der vor vielen Wintern im Dienste Eurer königlichen Hoheit stand«, gab Walter zu verstehen, nachdem er sich mühsam aufgerichtet hatte.

»Ihr wart Soldat?«, hakte der Blonde nach, sichtlich dankbar für die gemäßigtere Anrede.

Der Bauer, der sich für sein schlammbedecktes Aussehen schämte, nickte.

»Jawohl, Eure königliche Hoheit«, antwortete der Angesprochene, »in Eurem Ersten Banner«.

Die Nennung des Namens ließ eine beklemmende Stille Einzug halten, welche der Gekrönte dazu nutzte, einen Blick mit dem Helmlosen auszutauschen.

»Ich erinnere mich«, brach er irgendwann das Schweigen. »Man hat eurer Einheit bei Gotenburg übel zugesetzt.«

»So wie Euch, Eure königliche Hoheit«, bekundete der ehemalige Soldat mit Wehklagen im Tonfall.

Derweil seine Augen erneut die Krone maßen, entsann er sich an das metallische Meer aus gleißender Gischt, welche an diesem Tag brausend über die gotischen Felder toste. Wutschäumende Wogen von Waffen wallten gegen eine forsche Flut aus festem Fels. Die stürmische Schlacht zwischen den Prinzenloyalen auf der einen und den Anhängern des verschollenen Königs auf der anderen Seite sollte die Entscheidung über Fortbestand oder Untergang des calranischen Reiches herbeiführen. Und Walter, damals in Leichen und Blut watend wie heuer im Schlamm, hatte mit eigenen Augen gesehen, wie der schicksalsträchtige Schwerthieb auf seinen Prinzen niederging. Er hatte verfolgt, wie sich der junge Regent der Klinge ohne Sträuben und Flehen hingegeben hatte, ja er hatte zugesehen, wie der Blattzinken aus der Krone gebrochen war und sich die fleischige Narbe in die Stirn des Jünglings hatte peitschen müssen. Im Beisein dahinwelkender Vertrauter verweigerte man dem Prinzen damals den ehrenvollen Tod. Infolge seines symbolhaften Erliegens schenkte man ihm stattdessen ein schmachvolles Leben, losgelöst von der Macht über das Reich seines Vaters und mit nur wenigen verbliebenen Anhängern. Und damit hatte jene gewaltige Auseinandersetzung geendet, die fortan – von Barden besungen und von Erzählungen getragen – im Gedächtnis gehalten wurde.

Der Prinz, dessen Wangen ein rötlicher Schimmer heimzusuchen schien, nickte anerkennend. Dann wandte er sich lächelnd an den Jungen, der noch immer zitternd neben den Erdhaufen kniete. Offensichtlich wusste er nicht, wie ihm geschah.

»Wie ist dein Name, kleiner Mann?«, fragte der Prinz auf eine solch sanftmütige und vertrauensvolle Art, dass der Knabe seinen gesenkten Kopf zu heben wagte.

»Leon, Eure königliche Hoheit«, sagte er, den Worten seines Vaters eingedenk.

Die Mundwinkel des Gekrönten verzogen sich zu einem breiten Grinsen. Während er den feststeckenden Wagen beäugte, wies er den Buben mit einer zarten Handbewegung an, sich aufzurichten. Dann schließlich schwang er sich elegant von seinem Sattel in den aufspritzenden Dreck.

»Eure königliche Hoheit«, erklang die Stimme des Ritters, als wolle er protestieren.

Doch der Prinz antwortete mit einem zur Schweigsamkeit auffordernden Blick.

»Kannst du fangen, Leon?«, richtete er sich indes an den Jungen. Der Knabe nickte.

Da nahm der Blondschopf die Krone von seinem Haupt und warf sie dem Angesprochenen mit der Rückhand zu. Leon streckte vor Anspannung die Zunge. Dann schnappte er zielsicher nach der Kopfbedeckung.

»Bravo«, lobte der Kronenlose, während Leon offenen Mundes das gewichtige, goldene Glänzen zwischen seinen Fingern bestaunte.

Zur noch größeren Verwirrung der Anwesenden löste der Prinz alsdann auch noch seinen Gürtel von der Hüfte sowie den Ring von seiner Hand, verstaute sie in einer Satteltasche, entledigte sich seines Schuhwerkes und schlüpfte durch den Kragen seines Gewandes, bis er nur noch in feiner Unterwäsche dastand.

»Prinz Albrich«, warf der Ritter in brüskiertem Tonfall ein, »was habt Ihr vor?«

Der Bauer kratzte sich verlegen am Kopf und blickte zu Boden. Einzig der braunhaarige Reiter blieb gelassen und ohne Anzeichen einer Reaktion.

»Ohne Hilfe lässt sich das Fuhrwerk nicht bewegen«, stellte der Entkleidete zu Walters Überraschung fest, »dass Ihr, Dethard von Vallon, das von Eurem hohen Ross nicht erkennt, steht außer Frage.«

Der Zurechtgewiesene verzog seinen Mund, ehe er das Helmvisier sprachlos herunterklappte. Der gefallene Name indes ließ in Walter etwas klingeln. Von Vallon, das war jener Ritter, der damals schon in Gotenburg an der Seite des Prinzen gekämpft hatte und dies anscheinend auch heute noch tat. Auch wenn, daran erinnerte sich Walter zwangsläufig, dessen Sohn in Gotenburg einen unrühmlichen Tod durch Söldnerhand gestorben war. Vielleicht angesichts dieser Erinnerung, jedenfalls aber wegen des Ungemachs, das ihm der Prinz durch Dethards Zurechtweisung bescherte, spielte Walter die Sache herunter.

»Ihr beschämt mich, Eure königliche Hoheit«, japste der Bauer, doch der Blondschopf klatschte entschlossen in die Hände.

»Ihr habt mir einst Euren Schwertarm geliehen, jetzt leihe ich Euch im Gegenzug den Meinen«, verlautbarte der robust gebaute Regent, indem er sich platschend in den Schlamm beförderte.

»Waffenmeister«, adressierte er den helmlosen Reiter, der mit einer höfischen Floskel seinen Gehorsam ausdrückte.

Während der Prinz so an der Seite des Bauern zum Fuhrwerk watete, lenkte der Krieger sein Pferd an die gebrochene Deichsel. Mit einigen behänden Griffen gelang es ihm das Zaumzeug am Holz zu befestigen. Anschließend stemmte sich der kräftige Kerl mit seinem beeindruckend breiten Kreuz gegen den Wagen. Gleichsam und unter den Augen des pikierten Edelmanns zogen und schoben die Männer schließlich das Fuhrwerk aus dem Dreck und über die Straße.

»Euer ergebenster Diener«, bedankte sich Walter kniefallend, nachdem sie zu den Pferden zurückgefunden hatten.

Der Prinz, mit Schlammklecksen im weichgezeichneten Gesicht und braungefärbter Wäsche, nickte auf eine freundliche Weise, ehe er sich wieder bekleidete. Als er sich endlich den Ring angesteckt hatte, suchte er den Blick des Buben.

»Ich entbinde Euch Eurer Aufgabe, Leon, Hüter der Krone«, entgegnete er dem begeisterten Jungen auf ehrsalbende Weise.

Dieser nickte und versuchte sich an einer wackligen Verbeugung.

»Kannst du fangen, Prinz?«

Der Wolf der Wölfe

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