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V

Als der Schwarzhaarige den Leichnam der Frau auf den Rücken drehte, hielt Sanguis den Atem an. Pochenden Blickes versuchte er in dem geschwollenen Gesicht die Züge seiner Schwester zu erkennen. Doch schon nach kurzer Zeit hörte der Barde namens Veit, der sich dem Söldner nach seiner Rettung vor dem Strick angeschlossen hatte, wie sich das Leder an Sanguis‘ Hand entspannte. Er schüttelte den Kopf.

»Das war die Letzte«, sagte der Musikant.

Wortlos drehte sich der Kreuznarbige zur Türschwelle. Er griff nach einem Krautstängel, um ihn mit der Glut in der Keramik an seinem Gürtel zu entzünden. Mit dem ersten Zug tauchte er durch den Qualm ins Morgengrauen.

Über die niedergebrannten Reste eines Hofes kletterte gerade die frostige Wärme der Sonne. In ihrer kühlen Blässe begann die Verwüstung weiche Schatten zu werfen. Wie bei den Toten, die sich wie Schlafende im gefrorenen Dreck betteten. Der Katze, die an abgeschlagenen Köpfen Zuneigung suchte. Oder den Frauenschenkeln und bloßen Busen, die im fahlen Licht um Aufmerksamkeit kokettierten. Da schien es einem alten Hahn angemessen, inmitten knisternder Glut zur gewohnten Geschäftigkeit zu mahnen.

Sanguis, den die Gewissheit, dass seine Schwester nicht unter den Opfern war, eigentlich erleichtern musste, stapfte harsch zur Schmiede des Dorfes, das auf den Namen Arbach hörte. In kokelnden Schutt gelegt, markierte sie das Zentrum der Verheerung. Denn hier lagen die meisten Bewohner; zu einem unheimlichen Reigen dahingestreckt. Es musste Spuren geben, dachte sich der Söldner. Irgendetwas, das ihm weiterhelfen würde. Doch im Zentrum der geschauten Grausamkeit bot sich ihm eine nur schwer lesbare Handschrift. Obgleich man in Mord und Tod eine im Kern simple Sache vermuten mochte, war das in Starre gegossene Entsetzen so vielfältig und rätselhaft wie jede andere Regung der Natur. Trotzdem musste man irgendwo anfangen.

Also stampfte Sanguis gegen den besprenkelten Kies, der die vom Rot rund geschliffenen Ränder des Bodens säumte. Durch den Tritt und die plötzliche Verdichtung des angefrorenen Untergrunds platzte die spröde Kruste auseinander, weswegen sie winzige Splitter vereisten Blutes aus dem Verborgenen spuckte. Bohrte Sanguis mit seiner Stiefelspitze tiefer, förderte er noch mehr der rostfarbenen Flüssigkeit zutage. So viel, um zu bestätigen, was heiße Glut und kalte Asche bereits zuvor hatten mutmaßen lassen: Nämlich, dass der Überfall auf das Dorf am frühen Morgen des gestrigen Tages erfolgt sein musste. Genug Zeit also für das Blut vor dem nächtlichen Frost so tief durch die schwere Erde zu sickern.

Weniger dieser Erkenntnis, als vielmehr seiner Vorstellungskraft geschuldet, sog Sanguis so langsam an seinem Kraut, dass er bald sein Herz schlagen hörte. Denn nur so konnte er den polternden Hufen jener Pferde lauschen, deren Spuren sich überall in Arbach tummelten. Allein dadurch und indem der Braunhaarige seine Augen kniff, ergab das Wirrwarr an Abdrücken einen Sinn. Einen solchen, der nicht nur von Herkunft und Verschwinden, sondern auch von Anzahl und Wesen der Reiter kündete. Zunächst nämlich führten die im Bodenfrost verewigten Hufe an den Punkt am Horizont, wo man die Abendsonne vermuten konnte. Aber sie waren gegenläufig. Die Angreifer waren demnach aus dem Westen aufgetaucht und auch wieder in diese Richtung entschwunden. Zu sechst, vielleicht auch zu siebt. In jedem Fall aber waren sie schnell gekommen. Und ungewöhnlich lang geblieben.

Das verrieten Sanguis nicht zuletzt die unzähligen Pferdeäpfel. Zwar rangen sie ihm auch wegen der nun einschätzbaren Verweildauer und Anzahl der Reiter ein dankbares Lächeln ab. In erster Linie machten ihn die Kotbälle aber deshalb schmunzeln, weil sich in ihnen ganz wunderbar die Abdrücke von Hufeisen tummelten. Das war Hinweis genug, um sowohl Marodeure als auch schwere Reiterei ausschließen zu können. Denn während die einen über weniger und selten beschlagene Pferde verfügten, waren die eisernen Konturen für die anderen zu ausgeprägt und damit nicht tief genug für ein gepanzertes Beritt. Letzteres ergab auch allein deswegen keinen Sinn, weil der Frontverlauf inzwischen gut zwei Tagesritte weit entfernt sein mochte. Die gezogenen Kreise der Spuren und der Umstand, dass es Sanguis möglich war, sie durch scharfe Beobachtung auseinanderzuhalten, verriet noch etwas anderes. Dass die Reiter ordentlich geführt worden waren und Disziplin kannten.

Obgleich der Kreuznarbige mit der Stichhaltigkeit seiner ersten Beobachtungen zufrieden war, so sehr beunruhigten ihn die bisherigen Erkenntnisse. Etwas in ihm begann zu rumoren, ja Vorhaltungen zu machen: Dass er zu spät war. Und dass seine Schwester, wenn schon nicht unter den Toten, so doch in den Händen derart organisierter und bemittelter Männer unerreichbar sein konnte; in einem Land, das einstmals Sanguis‘ Heimat, heute vielmehr die Fremde war. Dieses Eingeständnis ließ ihn die Mundwinkel verziehen. Aber es veranlasste ihn auch dazu, freihändig zu rauchen, weil er sich abhocken und den ersten Leichnam umdrehen wollte. Denn die Toten, so schweigsam sie auch waren, dokumentierten den Überfall auf eine besonders akribische Weise. Es war Zeit, sie wortwörtlich zu einer Aussage zu bewegen. Auch wenn schon die erste Leiche, die Sanguis anrührte, so steif war, dass sich der Kopf nur schwerlich bewegen ließ. Dafür aber entschädigte sie den Söldner auf ihre ganz eigene Art: mit der Qualität einer mörderischen Handwerkskunst, die ihm selbst zu eigen war.

»Astrein«, gestand der Söldner anerkennend.

Der Schlag, zweifelsohne von einem Morgenstern, war wie die anderen Hiebe, die er überblickte, einwandfrei geführt worden. Und viel mehr als das lag in der Wucht, die einen Großteil des Gehirns offengelegt hatte, neben Präzision auch Kraft und Wille. Wären es Räuber, unerfahrene Soldaten oder Plünderer gewesen, so hätte es mindestens eine dieser Komponenten vermissen lassen. Mit diesen Wundmalen indes und dem hochwertigen, aber beschränkten Waffenarsenal zeichnete Sanguis‘ Vorstellung das Bild eines kampferfahrenen Streiters vor sein geistiges Auge. Einer der zu töten wusste, gehorsam, willentlich und vollkommen ungehemmt vom Wesen seiner Opfer.

Sanguis klopfte sich die Hände an der Hose ab. Um die letzten Züge seiner berauschenden Leidenschaft noch genießen zu können, setzte er sich auf den Schleifstein der Schmiede. Von hier aus konnte er das Massaker noch einmal überblicken. Nachdem aber die Toten auf ihre – zugegeben eigene – Weise gesprochen hatten, zwang ihn die Stille zum Nachdenken.

Arbach, der Ort seiner Kindheit, lag in Schutt. Und mit seinen Bewohnern würden auch die Erinnerungen verschwinden. Jene Erlebnisse und Erfahrungen, von denen Sanguis nur noch zwei Fetzen geblieben waren. Ausgebleicht, rissig und doch nicht fortgewaschen wie die anderen, vielleicht viel Schöneren. Den einen Schnipsel in seinem Gedächtnis hatte er jüngst auf See so intensiv wie nie zuvor erlebt. Vom anderen, der ihn vor neun Wintern in die Ferne gezwungen hatte, fehlte jede Spur. Ihn hatte der Braunhaarige eigentlich bereits erwartet. In dem Moment, in dem er sein Pferd angehalten und dem Glatzkopf die Stirn geboten hatte.

»Des Goldes wegen«, zitierte er seine eigenen Worte, die eine Enttäuschung waren. Und freilich eine Lüge. Aber eine, die besser zu verkraften war als jene Wahrheit, die ihn vertrieben und heuer wieder heimgeholt hatte. Diese Erkenntnis ließ Sanguis vor Selbstschneid schmunzeln.

Plötzlich aber begann etwas in seinem Kopf zu reifen, was man für Hoffnung hätte halten können. Vielleicht, redete er sich ein, lebte seine Schwester gar nicht mehr hier. Womöglich konnte er sie und die ausstehende Erinnerung deshalb nicht finden. Nach einigen Gedankenspielen schaute er nickend zu Boden. Ja, redete er sich ein, seine Schwester konnte nicht hier geblieben sein. Nicht nach all dem, was geschehen war.

Sanguis blickte erst wieder auf, als Veit die Straße kreuzte, um die gegenüberliegende Hütte zu durchsuchen.

»Da ist nichts«, rief der Söldner zu ihm herüber.

Sein Begleiter aber verschwand schulterzuckend im Gebäude, wo ihm das nervtötende Klingeln seiner Glöckchen am Schuh nachhallte. Seit gefühlten Ewigkeiten hörte Sanguis die Quälgeister nun schon von jenseits der Schmiede Tritt und Schritt des Musikus kommentieren. Dass sich bisweilen weder Ratten noch Krähen an die Leichen getraut hatten, musste nach Sanguis‘ Einschätzung ihr Verdienst sein. Der Gezeichnete seufzte, weil er die Eifrigkeit, in einem anderen Leben herumzuwühlen und dabei so einen Krach zu machen als befremdlich empfand. Bis er aber irgendwann einmal die kleinen Peiniger in seine Finger bekommen würde, tröstete sich der Kreuznarbige damit, dass an Veits betagten Stiefeln nur noch wenige dieser Klingeln hingen.

Als die Sonne die Baumwipfel zu überragen begann, zog der Braunhaarige am letzten Rest verqualmenden Tabaks. Es war Zeit, sich auf den Weg zu machen. Welcher auch immer das war. Seufzend schnippte er den verbliebenen Stummel in den Dreck und setzte, wie gewohnt, mit dem Schuhwerk zum Ausdrücken nach. Dass deswegen unter ihm dünnes Metall knirschte, hätte ihn nicht weiter gestört, wenn beim Heben des Fußes nicht eine goldene Kugel schellend in die nächste Kuhle gerollt wäre.

Sanguis blinzelte nicht bloß, er bückte sich. Dann schon bargen Daumen und Zeigefinger ein rot getupftes Glöckchen. Ein solches, wie es an Veits Schuhwerk hing, aber eben nicht hätte hier sein dürfen. Denn seit ihrer Ankunft im Dorf hatte Veit den Bereich der Schmiede gemieden. Wenn er diesen also in Sanguis‘ Beisein nie betreten hatte, aber Glöckchen von seinem Schuh abgefallen waren, musste Veit jüngst schon einmal hier gewesen sein. Vielleicht sogar zum Zeitpunkt des Überfalls.

Augenblicks, da Sanguis den Braten roch, bleckte er die vom Speichel glänzenden Eckzähne, welche ihm seinen tierischen Namen verliehen. Vor Grimm trampelte er die Schelle in die Vergänglichkeit und hetzte dem Barden hinterher. Unerwartet und noch während Sanguis im Lauf begriffen war, drangen Schreie und das Rumpeln von Gegenständen aus der Hütte. Es klang nach einer Rauferei. Jemand also drohte dem Söldner zuvorzukommen. Ein Umstand, den der Kreuznarbige noch weniger dulden konnte.

Mit einem kraftvollen Satz preschte der Braunhaarige, dessen Narbe wie oft in solchen Momenten zu glühen begann, nach Erreichen der Hütte durch die Tür. Es dauerte keinen Wimpernschlag, da hatte er Veits schwitzende Gestalt tatsächlich an die Wand genagelt. Sein unbekannter Angreifer aber gluckste bereits mit messerbespicktem Schädel aus dem Leben.

»Du mieser Bastard«, keifte Sanguis dem Schwarzhaarigen entgegen, »du bist schon einmal hier gewesen. Gestern. Dann als das Dorf überfallen wurde.«

Der Barde, dessen Augen keine Erschütterung zeigten, schnappte nach Luft. Er machte Anstalten, sich zu rechtfertigen. Deshalb wohl bewegte er den Kopf.

»Sie ist hier gewesen«, japste Veit.

Dabei hatte er den Blick nicht nur auf seine schwerlich erhobene Hand gerichtet. Darüber hinaus lotste er Sanguis‘ unbehagliche Aufmerksamkeit auch dorthin.

Was dem Kreuznarbigen sofort ins Braun seiner Augen stechen musste, war eine kaputte Halskette. Sie bestand aus den beiden losen Enden einer ledernen Schnur, an deren Scheitelpunkt ein metallisches Ornament baumelte. Es lief spitz zusammen und hatte die Form eines Löwen, dem man den Unterleib abgetrennt hatte. Keine Frage, Sanguis erkannte es sofort.

»Ist es das, was ich denke?«, keuchte der Schwarzhaarige.

Sanguis aber riss ihm das Schmuckstück aus den Fingern. Mit dem Ellbogen drückte er gegen Veits Adamsapfel, um den niedergestreckten Fremden aus den Augenwinkeln zu überfliegen. Und um nüchtern festzustellen, dass die womöglich heißeste Spur, seine Schwester zu finden, tot war.

»Warum hast du ihn umgebracht?«, schnauzte der Söldner, Speichel in Veits Gesicht spritzend.

Der Barde aber, dessen verlogene Glöckchen ausnahmsweise einmal mucksmäuschenstill waren, antwortete nicht. Weil das jemand anderes für ihn tun sollte. Jemand, der unbemerkt geblieben wäre, hätte der Musikus nicht mit einem Fingerdeut zur Tür gezeigt.

»Weil du das auch getan hättest«, erklärte der mysteriöse Unbekannte, der den Toten, bevor er sich zu erkennen gab, mit einem Tritt auf den Rücken stieß. »Oder etwa nicht?«

Ob Sanguis es wollte oder nicht, seine an den Tag gelegte Inbrunst erreichte ein noch größeres Ausmaß. Dann nämlich, als er auf den verrußten Rockschößen des Toten einen goldenen Löwen erkennen musste. Das königliche Wappentier.

Vor Wut schäumend packte der Kreuznarbige Veits Gesicht. Hätte ihn nicht plötzlich eine Hand an der Schulter berührt, hätte er dem Barden im nächsten Augenblick mit Sicherheit das Genick gebrochen.

»Schön dich wiederzusehen, Sanguis, mein alter Freund«, brummte eine Stimme, die beim Umdrehen einen graumelierten Mann preisgab, dem Haare und Bart auf eine bekannte Weise zu Zöpfen geflochten waren.

»Harras«, erwiderte der Kreuznarbige mit hochgezuckten Brauen.

Die Überraschung stand ihm ins Gesicht geschrieben.

»Von einem freudigen Wiedersehen kann man bei ihm hier nicht sprechen, was?«, gab der stämmige Neuankömmling in Söldnerkluft mit einem weiteren Tritt gegen den Leichnam zu verstehen.

Zum Trost, aber auch als Ausdruck der Freude fielen sich die beiden Männer rückenklopfend in die Arme. Auch wenn Sanguis‘ Blick dadurch einmal mehr an den Umrissen des Löwen kleben bleiben musste.

Seinen gegen Harras‘ Wange gespannten Gesichtszügen nach zu urteilen, graute Sanguis etwas, das nicht bloß eine Vermutung war.

»Er ist auf dem Weg?«, fragte er zögerlich.

»Er ist auf dem Weg.«

Der Wolf der Wölfe

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