Читать книгу Jetzt spinnen wir um die Wette, Henriette! - Andrea Charlotte Berwing - Страница 22

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Geheimnisse der Grenze

Sie hört es flüstern. Erwachsene haben Geheimnisse. Immer wieder, fortwährend. Henriette liegt im Bett und sieht das Licht vom Flur durch die Ritzen der Tür schimmern.

„Mit einem Schwan?“, jetzt kann sie die unterdrückte Stimme der Mutter hören.

„In den Westen. Und jetzt in Bautzen, im Knast.“

Sie scheint jemanden zu wiederholen.

„In den Westen mit einem Schwan, schiefgegangen.“

Die Mutter scheint sich zu wiederholen. Dann wieder flüstern. Flüstern. Stille. Leise atmet Henriette den Sauerstoff ein, um nichts zu verpassen. Sie wagt es nicht aufzustehen, das Rascheln der Bettdecke könnte wertvolle Worte verschlucken. Sie versucht, ihre Ohren in Richtung Tür zu öffnen. Es ist ganz ruhig. Irgendwann hört sie den Hörer auf das Telefon klacken. Henriette denkt nichts. Es ist alles so weit weg. Am nächsten Morgen geht sie wie immer zur Schule. Sie bemerkt dunkelrote Ränder unter den Augen der Mutter.

Dann geht alles ganz schnell. Umzug nach Friedrichshain, dort wo Lenin auf dem Platz vor einem Hochhaus steht. Ein S- und ein U-förmiger Neubau schlängelt sich durch die Stadtlandschaft. Nicht weit weg eine Kaufhalle, über die Straße der Volkspark Friedrichshain. Dort, wo sie bald Tschibi vergräbt. An einem Samstag nach einem Freitag, dem dreizehnten. Um Tschibi weint sie, ihr Vater ist weit weg. Weit weg. Unerreichbar. Sie weiß nicht, wo er ist. Die Mutter redet nicht. Henriette soll funktionieren. Nach der Schule kommt das Rührei in die Pfanne, die Pfanne wird abgewaschen. Die verglaste Durchreiche, die die Miniküche mit der Stube verbindet, wird in der Woche nur zum Frühstück und zum Abendbrot benutzt. Sie wohnen jetzt zu dritt in anderthalb Zimmern, das Zimmer der Mutter ein Durchgangszimmer; Henriette funktioniert. Und wie. Beinahe.

Morgens jedoch läuft sie in den Keller, dort liegen eine zerfledderte Jeans und gefärbte Jacken sowie ihr schwarzes Stirnband. Dann geht sie in die Schule. Nach der Schule wieder der Weg in den dunklen Keller. Henriette hat Angst. Dort unten. Es muss sein. Einen kleinen Lichtblick muss es geben. Eine schöne Seele braucht auch eigene Sachen. Udo Lindenberg, Ideal, Konstantin Wecker. Ihr Weihnachtsgeschenk, das sie sich heimlich mit in ihr Zimmer nimmt, sendet nachts unter ihrem Kopfkissen. Musik aus dem Westen. The Doors, The Cure, The Scorpions. The Beatles. The Clash. Doch sie funktioniert. Planvoll. In der Schule und zu Hause. Susanne wird weiter und noch mehr verschont. Henriette hat die Verantwortung. Besprochen werden Frühstück, Essen, Einkaufen gehen, Freunde, die sie nicht mit nach Hause bringen darf.

Der Nachbar wirkt freundlich, eine Familie mit drei Kindern. Zu freundlich. Oft versucht er Henriette auszufragen. Er trägt den Vornamen des Vaters nur als Nachnamen an der Tür.

Sie kann sich der Freundlichkeit nur schlecht entziehen. Manchmal, wenn sie zu lange mit dem Schlüssel im Türschloss herumstochert – im Flur ist es immer dunkel –, reißt er freundlich die Tür auf. Als würde er auf Einbrecher achten. So ein Quatsch, denkt Henriette, die kommen doch eher durch das Fenster. Sie wohnen im Erdgeschoss. Henriette könnte nachts heimlich aus dem Fenster klettern und um die Häuser ziehen. Doch es ist niemand da und Susanne, die im hinteren Teil des Zimmers von einem Vorhang von Henriettes Bett getrennt schläft, petzt.

Träume wiederholen sich. Sie läuft durch den Hausflur und Verfolger heften sich an ihre Fersen. Die Verfolger kann sie nicht sehen. Sie ist wie gelähmt. Das fühlt sich schrecklich an, sie spürt, wie die Verfolger sich ihr nähern. Und kann nicht weglaufen, die rettenden Treppen vor sich.

Dann wacht sie auf. Drei Feinde auf dreißig Quadratmeter Wohnraum. Wenn andere Menschen ihren Müll im Hausflur durch die Müllrohre schicken, poltert es. Wie Klabautermänner. Viele Klabautermänner. Über Henriette hört jemand leise Konstantin Wecker – „Genug ist nicht genug“.

Es gibt keine Zeit. Und doch befreit sich der Schmetterling aus seinem Kokon, um zu fliegen und die Blüten dieser Welt zu bestaunen. Aus Mädchen werden junge Frauen. Aus Jungen Männer. So wie die Zeit den Wind vor sich hertreibt, der den Samen vor sich bespielt und fallen lässt, verwandeln sich Geschöpfe. Die Zeit, nicht existent, ein mystischer Verwandlungskünstler in der Unendlichkeit.

Jetzt spinnen wir um die Wette, Henriette!

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