Читать книгу Jetzt spinnen wir um die Wette, Henriette! - Andrea Charlotte Berwing - Страница 30

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Das Päckchen

„Hier, ich habe etwas für Herrn Hochsommer abzugeben.“

Der Postbote vor dem Gartenzaun wedelt mit einem Päckchen.

„Aha“, Henriette sitzt als Einzige schon mit einem aufgebrühten Kaffee am kleinen runden Tisch in der Sonne.

Schnell hängt sie sich ihr Tuch über die Schultern und läuft zum Tor.

„Ich bin seine Tochter, danke schön.“ So nimmt sie das Päckchen entgegen.

Jetzt Babett zu rufen und die schöne Ruhe zu stören, da nimmt sie schon lieber einen falschen Namen an. Fängt an Spaß zu machen. Warum kompliziert, wenn’s einfach geht. Henriette unterschreibt mit Sommer, nur eine halbe Lüge. Beschwingt läuft sie in die Küche und legt das Päckchen auf den Tisch, da brummt es. Ihr Handy. Grün blinkt das kleine Nachrichtenfeld auf. Dann tippt sie.

„A H A“.

Na klar, alles klar, ihr Herz beginnt böse zu schlagen. Erst mein Leben voll in Beschlag nehmen und alles bestimmen wollen und jetzt bei meiner Mutter feiern gehen. Klar. Wo sonst. Keine eigenen Freunde? Keine eigene Familie? Arschloch. Und umgekehrt? Nur Feindseligkeiten, seitens seiner Familie aus dem goldenen Westen; ist auch nicht alles Gold, was dort glänzt. Nur Vorurteile, weil ich im Osten geboren bin. Die Attacken der Schwiegermutter sind im Gedächtnis verblieben, auch die abschätzenden Blicke und ihre sich ständig verziehenden Mundwinkel, wenn sie miteinander redeten. Und ihr Sohn? Henriettes Gedächtnis ist wie das eines Elefanten, der sich noch nach Jahren seiner Peiniger erinnert. Ihn, ihren stillen Mann hat sie auch nicht vergessen, wahrscheinlich denkt er genauso wie seine Mutter, sonst würde er sich ja auch mal einmischen und sich für sie einsetzen, oder? Es gibt doch gar keinen Grund dafür, dass sich die Wessis über die Ossis stellten. Was soll das? Haben sie vergessen, dass die Ossis den Krieg bezahlt haben, jedenfalls den größten Teil. Die Russen haben alles abgebaut, jede Schiene, jede Maschine. Jede Schraube, die noch was halten konnte, haben die bekommen. Abgezahlt. Bezahlt. Ende der Diskussion.

Aber dann heute bei meiner Ossimutter seinen Geburtstag feiern, die feine Gesellschaft, Herr Kaminsky. O Mann, bin ich sauer.

Ich denke, bei mir ist alles so schrecklich. So tut er jedenfalls immer, mein Mann.

Bei meiner Mutter. Bei meiner Mutter. Bei meiner Mutter. Dann nimmt sie sich eine Zigarette. Am frühen Morgen. Am frühen Morgen? Nee, dazu bekommt der mich nicht. Sie legt die Zigarette zurück. Nur Luxusrauchen, nur mit Wein oder Champagner. Nicht aus Ärger, ganz wichtig, denkt Henriette. Kleine wichtige Lebensbestandteile. Grundlagen, um nicht zu schnell alt und hässlich zu werden. Komisch, dass man sich darum Gedanken macht, wenn man am schönsten aussieht.

Modeschau, drei Frauen. Gelächter. Ladylike. Der Tag ist zu schön, baden, grillen, Modeschauen, viele Witze. Zu schön, um wahr zu sein. Babett schießt Fotos, abwechselnd setzen sie sich Sonnenbrillen auf oder wackeln mit ihrem Hinterteil und versuchen verschiedenste Posen. Mal elegant, mal zum Schreien. Um Mitternacht stehen auf dem kleinen Gartentisch mehrere Flaschen Prosecco, Tarotkarten sind durchweicht, der Tau legt sich auf die Reste von Kaviar, leckerem Brot und Erdbeersoufflé. Babett bemerkt das Päckchen erst am späten Nachmittag. Einen Tag später. Schrauben für einen Bekannten von ihrem Mann, für sein Flugobjekt, das er bauen lassen will.

„So so, das hätte er auch schlauer machen können. Beschäftigung für die Frau. Sich in Erinnerung bringend, der Gatte. Gratis. Kommst du mit, heute Abend bring ich es dem Schmied?“, wendet sie sich an Henriette, die willigt ein.

„Ja, schön, machen wir.“

Henriette genießt den Tag, sie schwimmt um die Wette mit den Enten, es gibt Kaffee am Steg, saure Gurken und gegrillte Würstchen. Dann geht sie duschen, zieht ihr schönes schwarzes Kleid mit hübschen Spitzen am Untersaum an. Selbst fürs Dorf mach ich mich schön, ich hab schließlich Urlaub, denkt sie. Dann düsen sie los; Henriette fühlt sich pudelwohl in ihrer Haut, ausgeruht und irgendwie erleichtert. Das Kleid schmiegt sich an ihren Körper wie eine samtweiche, leicht glänzende, schöne Haut. Immerhin halb Baumwolle, halb Seide. Diesen Materialmix wird sie in Zukunft favorisieren. Babetts Auto ist ein alter weißer Ford, auf Gas umgestellt. Für Henriette ein Rätsel. Benziner auf Gas. Es riecht nach altem Öl und ein wenig nach den vielen Zigaretten, die Babett wie nebenbei inhaliert. Henriette kurbelt ihr Fenster herunter und atmet genüsslich die laue Sommerluft ein. Es riecht nach Rosenduft und weißen Lilien, ab und zu mischen sich Schwaden von Benzingeruch darunter. Selbst das. Lecker. Ein Käfer krabbelt über die Frontscheibe. Henriette beobachtet ihn und ist verwundert, dass er nicht einfach runtersaust, bei dem Wind und dem Tempo. Sie fahren über die Dörfer und halten irgendwann an einer alten Schmiede. Henriette, tiefenentspannt, würde am liebsten weiterfahren, weiter, immer weiter, ohne Kindergeschrei, einfach allein.

Sie parken vor einem alten Haus, das an morsche Ostbungalows erinnert mit dem nicht zu vernachlässigenden Unterschied, dass hier und da ein Anbau aus rotbraunen Ziegelsteinen hervorlugt. Die beiden Frauen laufen auf einem Sandweg um das kleine Häuschen herum, aus dem kleine vertrocknete Grasbüschel um ihr Leben kämpfen. Ein kleiner schwarzer Spitz kläfft ihnen entgegen und verrät den unangekündigten Besuch. Sie laufen um die Ecke, da kommt ihnen schon ein Mann entgegen, um die sechzig, mit verschmitzt wirkenden Augen.

„Hereinspaziert!“, mit einer ausladenden Geste winkt er die Frauen herein.

„In mein bescheidenes Heim!“, ruft er lachend.

Henriette fällt sofort ein dunkelhaariges Mädchen auf und neben ihr der große Mann. Er rückt sofort ein Stück von dem Mädchen weg, als er die zwei Frauen sieht, die da hereinkommen.

„Was wollt ihr trinken? Kaffee? Bier?“

„Naja, erst mal Kaffee.“

Henriette ist schnippisch. Irgendwie ist die Situation kurios. Das Mädchen, bei näherem Hinsehen wirkt sie um die dreißig, eigentlich auch älter, das machen die Augenringe aus, die sich schon sichtbar unter ihre hellen Augen gelegt haben. Zu enge Leggins, billiges Top. Auf dem Tisch stehen Wodka und Bier. Der Schmied geht in das Haus und kommt mit zwei Kaffeetassen zurück, einer kleinen Flasche Sahne und einer halbvollen Kaffeekanne. Henriette schaut die junge Frau neugierig an.

„Der hat hier `nen Dorfpuff, die Frauen hat er bei einem anderen aus dem Nachbardorf abgezogen.“

„Was?“

Henriette streicht sich eine Haarsträhne hinters Ohr und ist verblüfft. „Und was nimmst du für `ne Stunde?“, fragt sie unverblümt die dunkelhaarige Frau. Groß und schlank.

„Dreißig Euro!“ Jetzt bemerkt Henriette auch den Akzent und ganz helle kommt sie ihr auch nicht vor.

„Das ist doch viel zu wenig!“

Henriette ist erbost, dreißig Euro für das schönste Geschenk, das eine Frau einem Mann machen kann?

„Sie muss mir nur eine kleine Zimmermiete zahlen!“

Der Schmied wirkt bemüht, sich keinen schlechten Ruf einzufangen: „Ich hab hier auch einen Hengst für Frauen, die mal wieder einen Mann brauchen!“

Henriette lacht. „Mein Gott, was für ein Leben! Nee, danke, kein Bedarf!“

Der Schmied und der andere Mann am Tisch bemühen sich, ihre gerade frisch eingetroffenen weiblichen Gäste zu bewirten. Bier wird eingeschenkt, die polnische Frau, irgendwie von den beiden Männern plötzlich links liegen gelassen, geht in den kleinen roten Ziegelanbau.

„Komm, ich zeig‘s dir, unser kleines Paradies“, sagt der Schmied und winkt Henriette zu sich.

Henriette läuft mit dem Schmied durch das Haus, er zeigt ihr die Zimmer.

„Hier schau, ist eine Dusche, sollen es ja gut haben die Mädels hier. Du machst so was nicht, bist viel zu schön dafür!“, droht er Henriette mit dem Zeigefinger.

„Haha! Eine Idee ist das schon, vielleicht geht es den Frauen ja viel besser als mir!“, denkt sich Henriette, frei zu sein und trotzdem Sex und trotzdem Geld. Nur das mit dem Wodka schon nachmittags auf dem Tisch, hm. Doch einem Mann Kinder schenken und ständig in ein mieses Gesicht zu sehen, ist auch die Härte, es reicht irgendwie alles. Ihr. Es reicht, es reicht, es reicht. Und der sie ja auch betrogen hat, gleich zu Beginn der Beziehung schon. Warum kann man sich nicht schneller umdrehen als Frau und einfach gehen. Doch, man kann, man tut es nur nicht, wegen der Hoffnung. Doch Hoffnung, was ist das schon, irgendein Ding, ohne dass man glaubt, nicht leben zu können. Ein Wort mit H, mehr nicht.

Henriette geht zu Babett und dem großen Mann zurück, der sie sehr interessiert und neugierig anschaut. Biere werden auf den Tisch gestellt, Gläser auch olle, schmuddelige Gläser, was soll‘s, die Party beginnt. Spät abends tanzen Babett und Henriette mit dem Schmied und dem großen Mann, der sich Frank nennt, in der Werkstatt. Zwischen alten Autoreifen, Werkzeugen an den Wänden, Öl und dreckigen Lappen. In Windeseile hatten die beiden Lautsprecher aufgestellt und das Licht gedimmt.

„Echt witzig“, befindet Henriette ob der plötzlichen Geschäftigkeit von Frank und dem Schmied.

Absurd, absurd, denkt Henriette nach dem ersten Wein; Frank gefällt ihr immer besser, beim Abschied gibt er ihr seine Telefonnummer. Er wirkt so ehrlich und nachdenklich dabei. Auch Henriette ist neugierig geworden. Gut gelaunt treten sie den Heimweg an.

„Erzähl das bloß nicht meinem Mann!“

Babett schaut Henriette an.

„Ich doch nicht.“

Welch Misstrauen, denkt Henriette, ich sitz doch in der Kacke und nicht sie. Oder? Sie auch?

Abends fällt Henriette in einen tiefen Schlaf. Definitiv hat sie zu viel getrunken. Henriette fährt Straßenbahn. Ihre rote Tasche liegt auf einem kleinen Sims, das Portemonnaie guckt dort heraus. Sie begibt sich zu ihrer Freundin. Eine andere Frau steigt mit ihrem Kind ein und setzt sich auf Henriettes Platz, die irgendwie nichts dabei findet. Und auch nicht ihre Tasche holt. Plötzlich muss Henriette aussteigen. Aus einem unerfindlichen Grund denkt sie, dass sie später an einer anderen Haltestelle wieder einsteigen wird und die Tasche dann immer noch dort liegen würde. Mit dieser Gewissheit geht sie nach Hause. Dort überfällt sie die nackte Angst. Wie kann das sein? Sie rast zur übernächsten Haltestelle, keine Bahn, keine Tasche, kein Portemonnaie, keine Frau, kein Kind. Ihr wird klar, dass das alles weg ist. Panik und Angst vor Verlust macht sich breit. Sie wundert sich im Traum, dass sie so denken konnte. Die Bahn später einzuholen. Zeit existiert nicht.

Am nächsten Morgen sieht sie, wie kleine Ameisen den Weg auf den Tisch gefunden haben, wie, bleibt Henriette rätselhaft. Sie findet keine Spur, keine Fährte. Dann setzt sie Wasser auf, sie muss sich einen Kaffee machen, über ihren Traum nachdenken.

Jetzt spinnen wir um die Wette, Henriette!

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