Читать книгу Jetzt spinnen wir um die Wette, Henriette! - Andrea Charlotte Berwing - Страница 28
ОглавлениеFreiheit
Der Urlaub kann beginnen. Henriette fährt von Pankow nach Berlin-Mitte. Friedrichstraße findet sie sofort einen Parkplatz, Dussmann und Lafayette, das sind ihre Favoriten. Mindestens ein Urlaubsbuch, Nagellack und vielleicht ein schönes T-Shirt, das muss drin sein. Beschwingt öffnet sie die Fahrertür, steigt aus und läuft zum Parkscheinautomaten. Wäre schon ungünstig, wenn von heute und auch noch mit der aktuellen Uhrzeit ein Strafzettel nach Hause flattert, wo ich doch längst in Hamburg im Flieger sitze. In Wirklichkeit. In was für einer Wirklichkeit? Sie spürt ein Lächeln in sich aufsteigen. Wie crazy ist das denn, wer bin ich überhaupt? Habe ich mich selbst verlassen? Oder einfach die alte Henriette. Irgendwo gibt es sie noch, irgendwo. Vielleicht ist sie einfach zu Hause geblieben und beschützt heimlich von niemandem bemerkt die Kinder. Damit die andere Henriette auch leben kann, atmen kann, mal ein paar freie Momente, Stunden, Tage hat. Eine Stunde gehört ihr, mit vier Euro hat sie sich das bei den modernen Wegelagerern erkauft.
Eine Stunde. Rituale müssen sein. Sie läuft zum Auto und legt das Ticket gut lesbar hinter die Scheibe. Die Tür klappt zu, dann hält sie inne und läuft noch mal zum Parkscheinautomaten zurück. Ein Impuls. Dort greift sie in den schmalen Schacht, in dem sie manchmal auch böse Dinge vermutet. Kaugummis und so. Doch sie spürt eine Münze, betastet sie vorsichtig mit ihren sensiblen Fingerspitzen, greift sie, nimmt sie raus und staunt: „Türkiye Cumhuriyeti“, murmelt sie vor sich hin. Wirklich ein Wunder.
Das wird mein Beweis sein, dass ich in der Türkei war, ist ihr nächster Gedanke und sie dreht die Münze in ihrer Hand um. 50 Kurus 2009 mit dem türkischen Emblem auf der anderen Seite zieren den Taler. Ihre bedrückte Stimmung wandelt sich. Es soll wohl alles so sein. Es ist richtig so. Dann seufzt sie erleichtert auf, als würde der Taler zu ihr sprechen. Dann bin ich nicht verdammt, mit dem, was ich tue.
In den Fluss springen, ohne zu wissen. Den Ort des Ankommens. Das rettende Ufer. Wo würde das sein? Gibt es diesen Ort? Eigentlich mutig. Doch nur eigentlich. O je, o je. Sie seufzt, ihr Grübchen über dem rechten Mundwinkel gräbt sich dabei tief ein. In die Haut. Manchmal ertappt sich Henriette dabei, diese tiefer werdende Falte trotzig zu beobachten, fast ein wenig feindselig. Alt werden kündigt sich genau dort an. Dann tastet sie immer wieder in ihrer Hosentasche nach der Münze, Magie, das Leben darf manchmal auch eine Lüge sein, eine einzige Lüge, und die auch noch vom lieben Gott unterstützt. Lacht er mit ihr und weint er auch mit ihr? Und wird er auch immer da sein, wenn sie ihn braucht?
Henriette lächelt, die Menschen auf der Straße lächeln mit, erwidern Henriettes Blick. Ja, sie ist eine schöne Frau, hätte sie es doch nur eher gewusst. Bei Annette – sie fährt die Straßen durch Potsdam vor –, auf dem Grundstück staunt sie nur noch. Was ist das denn? Das kleine schmucke Häuschen ist nur durch einen Steg von einem See getrennt. Oder nein, umgekehrt. Das Häuschen ist mit einem Steg zum See mit ihm verbunden. Mit dem Wasser. O Mann, Klasse! In Berlin waren der Tag und die Woche wolkenverhangen, doch hier scheint die Sonne. Schnell räumen die Frauen den Kühlschrank ein und bereiten den Grill im Garten vor, stellen die Stühle und den Holztisch raus, der Sekt kommt kurz in den Tiefkühler, dann beginnt der angenehmste Teil. Nacheinander springen sie in das kühle Nass. Baden und danach auf dem Steg Sekt trinken, die Beine im Wasser baumeln lassen. Welch überwältigender Luxus.
„Schön hier in Türkiye!“
Henriette grinst. Die Frauen lachen. Spät in der Nacht kuschelt sich Henriette, und ohne sich streiten zu müssen, seit Langem ruhig und friedlich in das schmale Bett in einem kleinen Zimmer neben der Eingangstür. Sie ist froh, so weit weg von Tomas, Berlin und den Vampirkindern zu sein. Frieden. Gnade. Frieden.
„Mehr brauch ich nicht!“, murmelt sie in den dunklen Raum hinein.