Читать книгу Jetzt spinnen wir um die Wette, Henriette! - Andrea Charlotte Berwing - Страница 26
ОглавлениеLügen, Notlügen
„Frag doch mal Susi, die hat einen Schrebergarten in der Nähe von Potsdam!“, ruft Babett begeistert.
„Hey, ja, super Idee, ich ruf sie gleich an.“
Vier Minuten später.
„Babett, hast du Lust mitzukommen. Susi ist auch dabei. Ein oder zwei Wochen Ferien in ihrem Haus! Mit Steg zum See, Champagner und Grillen und Modeschauen laufen, Karten legen, baden, lesen, das wäre schön.“
Henriette klingt begeistert, der Urlaub ist gerettet.
„Ja, klar, klingt gut. Ich bin dabei.“
„Toll, bis in einer Woche, ich freue mich. Ich muss auflegen.
Wunderbar. Tschüüüüß!“
Henriette drückt auf ihr Handy und sinkt aufs Bett zurück.
Welch Glück im Unglück.
Die Tage bis zu ihrem Abreisedatum vergehen schnell. Sie sind gefüllt mit Einkäufen, Essen kochen, Wäsche waschen, Fußnägel lackieren, Diskussionen mit den Kindern und dem Räuspern ihres Mannes. Dazwischen werden Hausbesuche mit Frauen geschoben, Vor- und Nachsorgetermine, endlose Telefongespräche mit Müttern über Stillprobleme und wunde Babypopos. Manchmal kann sie die Gespräche über die Konsistenz der Babykacke nicht mehr hören. Dann rollt Henriette mit den Augen und steckt in unbeobachteten Augenblicken die Zunge raus. Wie öde. Ob nun grün oder ocker oder braun. Gefleckt, mit Streifen oder besprenkelt mit weißen Tupfern. Ob nun angemalt mit Blümchen oder Zuckerwatte. Business as usual, also hält sie durch. Dann schaufelt sie die nächste Woche frei von Terminen. Und die Übernächste auch noch. Was soll‘s. Es ist dringend nötig. Feierabend. Schluss. Ab und zu geht Henriette auch einen Kaffee in der Kollwitzstraße trinken. Für sparsame 1,40. Tomas beäugt sie. Er hat jetzt auch frei.
Am Abreisetag regnet es in Strömen. Henriette hat ihren roten Koffer gepackt. Es ist sechs Uhr morgens und sie wird langsam nervös.
„Weißt du, wann der Flug in Hamburg losgeht?“, fragt Tomas. Er sitzt bereits am Küchentisch ohne reingepinkelten Kaffee.
„Ja, um zwölf Uhr fünf.“
Und du willst erst um neun Uhr losfahren, du musst mindestens um sieben Uhr losfahren.“
Henriette überlegt. „Ja, stimmt! Bringst du mich dann noch zum Auto? In einer halben Stunde bin ich so weit. “
Komisches Muster, denkt Henriette verzweifelt, wenn ich auf dem Abflug bin, kümmert er sich plötzlich. Sonst kann ich mich abmurksen, ist ihm scheißegal. Geht ihm sonst wo vorbei. Ich bin‘s so satt, so leid. Sie spürt eine Art Ernüchterung, die sich dann doch wieder mit dem Schmerz vermischt. Genau in der Mitte. Stumm bringt Tomas Henriette zum Auto. Ein bisschen winkt Tomas noch, als sie das Auto startet, dann verzieht er den Mund. Es sollte wohl ein Lächeln sein. Denkt Henriette. Dann fährt sie links hoch, biegt rechts in die Kolmarer Straße ein, um dann wieder in die Knaackstraße zu fahren. Schnell geradeaus über die Straßenbahnschienen. Verboten. Unsanft nach links. Die Lenkstangen stöhnen. Oh Mann. Was für ein Stress. Dann parkt sie vor Babettes Haus in der Winsstraße. Kleine Tropfen fallen auf die Frontscheibe. Tippt Babettes Nummer in ihr Handy ein, niemand nimmt ab. Vergeblich hofft Henriette auf einen Rückruf, sie stellt auf laut. Der Nieselregen ist in heftigen Regen übergegangen. Es pladdert fette Tropfen auf das Autodach. Sie holt sich schnell die rote Wolldecke vom Rücksitz, die sie letztes Jahr auf dem Kollwitzmarkt gekauft hat und wickelt sich damit ein.
Hatte sie wirklich gehofft, er würde noch was sagen? Sie zurückhalten? Liebevoll?? Ihr war nicht mehr zu helfen. Niemand soll ihre Tränen sehen. Sie dreht den Vorderersitz in Liegeposition und rückt ihn ganz nach hinten. So liegt sie über eine Stunde auf dem Sitz. Das Wasser pladdert nur so vom Himmel. So ist sie jetzt nach Hamburg unterwegs. Bald geht der Flieger. Denkt sie. Denkt ihr Mann. Ihr Noch-Mann.
Nach einer halben Stunde wählt sie noch mal Babetts Nummer.
„Ich komme jetzt!“
Babett muss noch arbeiten, sie fährt vor. In dem Laden, in dem sie Suppe kocht, serviert und putzt, trinken sie Champagner und essen Suppe. Dann atmet Henriette tief durch. Urlaub.