Читать книгу Jetzt spinnen wir um die Wette, Henriette! - Andrea Charlotte Berwing - Страница 21

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Der Drache lebt

Der alte Tuareg schaut in den Sternenhimmel, er hält Leas Hand.

„Hier ist viel passiert in der Zeit, in der du nicht da warst. Unsere Stämme können nicht mehr Hirse durch die Wüste bringen, die Weißen haben viel zerstört. Durch Einmischung. Selbst der Fluss hat das nicht ausgehalten und uns überschwemmt. Die Geister sind böse mit dem, was mit unserem Land passiert.“

Er wirkt nachdenklich und ruhig. Sein Augenweiß glänzt im Licht. Er neigt seinen Kopf, wie um seine Sinne gen Himmel zu richten, von der Seite sieht es so aus, als wären seine Augen riesig. Rund und eindringlich in das Universum gerichtet.

„Die Überschwemmungen haben viel kaputt gemacht, viel zerstört. Wie gut, dass du in Sicherheit warst. Bist du doch unsere Zukunft. Unser Glück. Unser Schatz. Und jetzt sprichst du die Sprache deiner Großmutter und hast unsere vergessen?“

So hatte ihr Vater noch nie mit ihr gesprochen. Wie mit einer Erwachsenen. Er wirkt hart, die Sorgen haben seine ohnehin von Wüstensand gegerbten Züge noch tiefer in sein stolzes Gesicht gegraben. Seine Augen scheinen zu lächeln. Lea spürt die Wärme über den Händen des Vaters, als sie sie kurz berührt. Als hätte er die Wärme der Wüste in den letzten vier Jahren für Lea gespeichert. Nur für sie.

„Ich habe nichts vergessen“, antwortet sie leise. Der Vater hat für die Familie ein neues kleines Haus gebaut. Auf Sand. Lange schliefen sie wie Reisende an den Ufern des sich immer mehr ausdehnenden Wassers. Das alles von Menschenhand Gestaltete unter sich begrub. Immerhin haben sie überlebt, die Flut überraschte sie nicht in der Nacht. Auch wenn Nana mit allem hadert. Das Jammern Nanas überdeckt die geschäftige Betriebsamkeit der ganzen Familie, menschliches Leben zu erhalten und die täglichen Bedürfnisse für die biologischen Vorgänge des Körpers zu gewährleisten. Obwohl Bernadette sich ein anderes Leben als das, das sie lebt, gar nicht vorstellen kann, staunt sie. Über die Wüste und so viel Wasser. Das hatte sie noch nicht gesehen in all den Jahren. Und es waren viele Jahre, die ihre Haut gegerbt und ihre Zweifel mit der Zeit zerstreut hatten. Zweifel an ihren Entscheidungen, die damals so klar waren, um dann doch in den schweren Zeiten der mühsam aufgebauten Sicherheit zu weichen. Und den vielen Gedanken. Zu viele Gedanken. Zu viel Sand und zu viel Wasser. Zu viel Wind. Zu viel Sonne. Zu viel Licht, zu viel Erleuchtendes. Die Höcker der Kamele einzig ragen prall in die Luft. Die veränderten Umstände sind ihnen nicht anzusehen. Gleichmütig schauensie in die Ferne und mahlen mit ihren großen Zähnen.

„Kleopatra?“

Lea schreit laut angesichts der fünf Meter großen Schlange vor dem Haus.

„Ihr habt sie nicht weggebracht? In die Wüste? Das habt ihr doch versprochen?“

Ungehalten stürmt sie auf ihren Vater zu und trommelt mit ihren Fäusten gegen seinen beigefarbigen Umhang und spürt seinen drahtigen kräftigen Körper. Ihr ist mulmig zumute. Dann geht sie zu ihr und setzt sich vor das große mächtige Tier. Der alte Tuareg setzt sich neben sie.

„Deine Großmutter wollte sie um jeden Preis behalten. Deinetwegen!“

„Du lügst!“

Lea weiß es sofort.

„Nein, ich lüge nicht. Vielleicht verschweige ich etwas, weil ich es selbst nicht weiß. Du kannst nur noch Bernadette fragen. Nur noch Bernadette. Ich weiß, es ist ungewöhnlich. Die Leute reden über uns. Schwarze Magie sollen wir machen, wir seien Todgeweihte, so heißt es. Niemand würde je einer Schlange vertrauen. Jedoch, Lea, manchmal tun wir Dinge, die verstehen wir selbst nicht. Und doch wir müssen sie tun. Wir müssen, Lea.“

Mit diesen Worten steht er auf und geht zu den Kamelen, die hinter dem kleinen neuen Haus einen eigenen Weidegrund haben. Lea weiß, mehr gibt es nicht zu sagen. Die Großmutter sieht Lea und dem alten Tuareg, ihrem Schwiegersohn, aus der Ferne zu. Nachts streicht sie Lea wie früher über die Stirn.

„Sie hat genug zu fressen, Lea, genug. Das weiß sie. Sie ist eine Göttin.“

Das Wort grausam behält sie für sich. Zu genau hat Bernadette zugesehen, wie Kleopatra ihre Opfer verschlang Bei lebendigem Leib und ganz langsam, Stück für Stück. Manchmal wunderte sich Bernadette selbst über sich, dass sie die Opfer beneidete. Nicht um die Art und Weise des Todes, den sie starben, sondern um den Tod an sich. Das Ende. Das unendlich schön sein müsste.

Bernadette spürt in sich eine unheimliche Müdigkeit. Bleiern hat sie sich auf sie gelegt und will nicht weichen. Sie kann nicht mehr. Sie kann einfach nicht mehr. Allein der Anblick Kleopatras reißt sie aus der Monotonie des Lebens, der Mühsal, die das menschliche Leben mit sich bringt. Und das fängt mit der morgendlichen Wäsche an, dem Essen, dem Trinken, dem Besorgen von allem. Wäsche waschen, aufhängen. Feuerholz besorgen. Abwaschen. Essen zubereiten. Die Toilette. Saubermachen. Betten reinigen. Die immer müderen alten Hände. Das Gefühl, langsam auszutrocknen. Und das ist nicht nur ihre Haut. Nicht nur die müden Knochen. Nicht nur der Rücken, das Gedächtnis, das immer mehr von der Vergangenheit weiß und sich immer weniger für die Zukunft zu interessieren scheint. Auf sich achten. Und dann wieder von vorn. Immer wieder alles von vorn. Sie ist einfach nur noch müde. Und sie liebt diese Schlange. Kleopatra. Diese grausame geheimnisvolle Schönheit. Stille. Ihre Erlösung.

Jetzt spinnen wir um die Wette, Henriette!

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