Читать книгу Jetzt spinnen wir um die Wette, Henriette! - Andrea Charlotte Berwing - Страница 6

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Der alte Mann über dem Neubau

Der Fahrstuhl fährt höher als das Haus, in dem Henriette wohnt, Stockwerke hat. In den dreizehnten Stock. Die Tür geht auf und ein alter Mann steht vor ihr. Henriette wagt es, einen Schritt auf ihn zuzugehen. Sie bewegt ihr rechtes Bein über den Spalt, der die wackelnde Fahrstuhlkabine vor der rettenden festen Etage trennt. Der Raum ist in weiches Licht getaucht. Licht, das den sakral wirkenden Raum noch größer erscheinen lässt. Und auch den Mann vor ihr. Groß und hager wirkt er, irgendwie mächtig. Er schaut Henriette sehr ernst an. Und murmelt Worte, spricht mit dem kleinen vorsichtigen Mädchen. Henriette nimmt an den Seiten antike Säulen und alte, wie mit Mehl befüllte Säcke wahr. Sie beschleicht ein Gefühl wie aus einem Märchen. Sie befindet sich in einer anderen Zeit, kann es nicht in Worte fassen und auch nicht in Gedanken. Staunend spürt sie hier das Verschmelzen von Zeit und Raum. Er könnte ihr Großvater sein; so hätte sie ihn sich vorgestellt. Er wirkt, als käme er aus einer anderen Welt zu ihr.

Dann wacht Henriette auf. In ihrem Bett. Das Kopfkissen ist unter ihren Bauch gewühlt, die Beine sind angezogen wie in einer Embryostellung. Gelbe Vorhänge hängen vor den kunststoffumrahmten Fenstern. Dahinter ist es dunkel. Kein einziges Sternenlicht zeigt sich. Henriette schläft wieder ein. Der gelbe Wellensittich neben ihr im abgedeckten Käfig, die kleinen knopfförmigen dunklen Augen verschlossen, ist ganz still. Das weiße Tuch bewegt sich nicht. Kein Luftzug bewegt sich in dem Betonzimmer. In einem Neubau gebaut in den Siebzigern. In Halle.

Am nächsten Morgen liegt eine Feder auf ihrem Kopfkissen; sie ist gelb, wie das Federkleid von Tschibi, ihrem Wellensittich. Sie öffnet den Käfig und hängt ihm einen Hirsekolben hinein. Der Stiel ist widerspenstig und zerbricht bei dem Versuch, ihn zwischen die dünnen Käfigstäbe zu flechten. Tschibi flattert aufgeregt hin und her. Henriette hält dem Wellensittich ihre kleine Hand vor den weichen gelben Bauch, Tschibi hackt einmal mit dem Schnabel in die Hand, wie um sich zu vergewissern, ob sie auch echt ist. Dann setzt er sich darauf. Die kleinen Krallen bohren sich in Henriettes Haut. Es piekst. Sie spürt das Gewicht von Tschibi und wundert sich, wie leicht er ist. Eigentlich nicht existent. Und wie sehr sich so ein kleiner Vogel in ihr Herz hineinkatapultiert hat.

Bevor ihr Vater, der nur jedes zweite Wochenende nach Hause kam, eines Abends erst den Käfig bedeutsam aus Zeitungspapier auswickelte und dann eine kleine Pappschachtel mit Löchern, in dem der kleine Vogel sitzt, aus seiner schwarzen Aktentasche hervorzauberte, versuchte Henriette selbst Eier auszubrüten. Sie stahl ihrer Mutter Hühnereier aus dem Kühlschrank, legte sich diese im Bett vorsichtig zwischen ihre Oberschenkel. Bevor sie sich für die Schule zurechtmachte, wickelte sie die Eier in ihren Schal und ihre Mütze. Sehr gespannt lief sie nach der Schule zu den Eiern, nur noch dieser eine Gedanke. So konnte sie es kaum erwarten, nach Hause zu kommen. Doch nie, nie krabbelte auch nur ein Küken heraus. Sie hielt die Eier an ihr Ohr, horchte, Stille. Sie befühlte sie, die glatte Oberfläche, kein Schnäbelchen pochte von innen an die dünne Wand. Die weißen Eierschalen starrten sie nur leer an. Doch die Vorstellung von einem eigenen Küken aus dem Ei bewahrte sich Henriette tapfer.

Henriette nimmt Tschibi nun vorsichtig mit ins Bad und setzt den kleinen Vogel dort auf die Spiegelablage. Dann wäscht sie sich zuerst das Gesicht und schaut in den Spiegel. Es klingelt an der Tür; Henriette hört, dass ihre Mutter zur Sprechanlage geht. Es brummt und knirscht laut, als sie sie bedient.

„Kommt Henriette runter?“ Lena, ihre blonde Freundin steht unten und möchte auf den Spielplatz gehen. Henriette erkennt ihre helle Stimme sofort.

„Nein, es ist doch noch viel zu früh, Henriette darf erst ab 11.00 Uhr raus!“ Die Mutter lässt den Knopf los und geht in die Küche. Ihre Schritte sind sehr fest für so eine kleine zierliche Person. Henriette schaut sich weiter im Spiegel an; sie hat blaue Augen, stellt sie immer wieder fest. Nicht so schöne braune wie Lena.

Jetzt spinnen wir um die Wette, Henriette!

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