Читать книгу Jetzt spinnen wir um die Wette, Henriette! - Andrea Charlotte Berwing - Страница 13

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Autowüste

Die Großmutter hat sich um sämtliche Papiere für Lea gekümmert. Das Visum von der deutschen Botschaft, der Nachweis über die Gelbfieberimpfung und Flugpapiere. Iris und ihr Mann Bernd aus Deutschland haben eine Bürgschaft für Lea telegrafiert. Lea versucht in letzter Zeit immer, die Geschäftigkeit der Großmutter zu ignorieren. Die Schlange hat nun einen Namen. Kleopatra. Auch die Großmutter scheint sich zunehmend für Kleopatra zu interessieren. Stundenlang schaut sie ihr zu, wie sie sich durch das Gras windet, an den kleinen Wassernischen sich entlangschlängelt, nach kleinen Insekten schnappt. Sie empfindet etwas für dieses kleine kalte Wesen. Blaues Blut wird ihnen nachgesagt, ein Reptil, Schuppenhaut und doch lebendig. Ob sie ein kaltes Herz hat, ein grausames? Wie kann ein Lebewesen ohne Gefühle leben? Existieren? Das fasziniert die Großmutter, es fesselt sie. Die grausame Schönheit der Schlange steigert sich mit jedem gewachsenen Zentimeter. Grandios. Bernadette ist fasziniert. Lea bemerkt kleine Veränderungen an ihrer geliebten Großmutter. Der Blick wird manchmal, beim Betrachten des Schlangenbabys, so nennt Lea sie manchmal noch, fast starr. Als würde das heranwachsende Gift eine hypnotische Wirkung entwickeln, eine bisher nicht gekannte Magie von einem Fluch, getarnt in majestätischem Gewand. Und je mehr diese Magie von der Großmutter Besitz ergreift, umso mehr beginnt die nun misstrauische Lea Kleopatra instinktiv abzulehnen.

Einen Monat nach dem Aufbruch des Vaters in die Wüste bringen die Großmutter und Nana sie zum Flughafen. Der Lastwagen, mit dem sie zum Flughafen fahren, kommt mit einer Stunde Verspätung vor der Post mit quietschenden Reifen zum Stehen. Staub wirbelt auf. Der Abschied von Nana und der Großmutter ist kurz. Im Flugzeug riecht es komisch. Lea fliegt von Bilma nach Niamey mit einem klapprigen Zweimannflieger. Von dem sandbedeckten unbefestigten Landeplatz holt sie ein Flugbegleiter ab und bringt sie in eine große Halle. Der nächste größere Flieger geht über Casablanca nach London, dort bringt der Flugbegleiter das kraushaarige Mädchen in einen Zwischenbereich; er hat eine kleine Matratze und eine Decke mitgebracht. Sechs Stunden später fliegt sie direkt nach Berlin.

Berlin, eine Stadt, in die sie nicht will. Das fremde Land betritt Lea allein. Die Stimmen von vielen Menschen überfordern das Kind zeitweilig, bis sie sich vorstellt, es sind die Grillen aus der Wüste. Die vielen künstlichen Lichter schmerzen zuerst in ihren Augen, dann gewöhnt sie sich daran. Nicht gewöhnen will sie sich an die vielen fragenden Blicke. Sie überlegt sich, ob es wohl daran liegen könnte, dass sie aus einem dunkleren Haus schaut als die anderen. So ist es bestimmt der Großmutter ergangen, als sie als einzige Weiße mit ihrem Mann in Bilma blieb. Je näher Lea Berlin entgegenfliegt, umso mehr fürchtet sie, wird ihr dunkles Gesicht sehr einsam in viele weiße Gesichter schauen. Sie denkt an Kleopatra, die sie zurücklassen musste und die irgendwie einen Platz in der Familie einnimmt, den sie in ihrer kindlichen Gemütsverfassung nicht einordnen kann. Eine Schlange, ein Haustier?

Lea tritt auf die an das Flugzeug herangerollte Treppe und schaut in die Ferne. Die bietet der Flughafen Tegel im ersten Moment. Sie kann das weiße flache Flughafengebäude nicht so recht von dem Hintergrund des Himmels unterscheiden, die Sonne blendet sie. Ihre Augen haben sich so sehr an das künstliche Licht in den Flugzeugen gewöhnt. Intuitiv läuft sie den anderen Menschen hinterher. Es wird schon so richtig sein. Die Stewardess, die sich sehr freundlich um sie im Flugzeug gekümmert hatte, ist nicht mehr da. Immer lächelte die Stewardess sie während der Stunden im Flugzeug an, während sie kleines Gebäck und Getränke an die anderen Gäste austeilte.

Lea versteht kein Englisch, kein Deutsch; nur Französisch, und das spricht hier niemand. Sie verständigt sich mit gelegentlichem Nicken und ihren Augen. Die freundliche Stewardess fehlt ihr jetzt, wo sie verloren vor dem Gepäckband steht. Sie wartet und wartet, die Koffer ploppen auf das Band. Ab und zu wird sie von den schnell zum Gepäckband laufenden Reisenden angeschubst, die wohl Angst haben, ihr Koffer würde von jemand anderem weggeschnappt. Dann endlich fällt ihre prall gefüllte grüne Tasche auf das Band. Sie hat die Strapazen der Reise ebenfalls unbeschadet überstanden. Lea freut sich, einen vertrauten Gegenstand zu sehen. Vor zwei Tagen hielt ihre Mutter Nana die Tasche noch in der Hand und ihre Großmutter streichelte ehrfurchtsvoll und wie bittend über den festen Nylonstoff. Ihr Vater erstand die Tasche von einem der Händler auf dem Markt, er gab dafür einen Teil der kostbaren Hirsevorräte der Familie. Dann läuft sie wieder den Menschen hinterher zum Ausgang. Merde, denkt sie. Sie geht auf die geöffnete Doppeltür zu; das Licht dahinter, eine neue Welt. Eine andere, fremde Welt. Merde, ich will zurück. Merde, hier bleib ich nicht.

Ein großes Schild, von einem kleinen dicklichen Mann gehalten, fällt ihr ins Auge. LEA in großen roten Buchstaben ist darauf gemalt. Neben dem Mann steht eine ebenfalls etwas rundliche Frau, die Haare zu einem Dutt zusammengerollt, mit freundlichen Augen. Die Augenbrauen sind etwas zu stark nachgeschminkt und um den Mund herum lässt sich ein schlecht wegrasierter Damenbart vermuten. Lea fällt das Maskenhafte an ihren Zügen sofort auf. Sie geht auf die beiden zu. Der Mann streckt ihr zuerst die Hand entgegen.

„Ich bin Bernd und das ist Iris.“ Iris umarmt Lea sofort herzlich und fest.

„Merde“, sagt Lea und bleibt zurückhaltend, die Tasche fest in der Hand, als wolle sie sofort umkehren.

Iris und ihr Mann schauen sich vielsagend an.

„Komm!“ Iris nimmt das erschöpft wirkende Mädchen an die Hand; dann gehen sie an vielen Menschen vorbei durch die großen Glastüren, die sich automatisch öffnen zum Parkplatz.

So viele Autos hat Lea noch nie gesehen. Glitzernde bunte Dächer reihen sich endlos aneinander, fast bis zum Horizont. Jetzt wird sie neugierig. Sie staunt. An einem roten Citroen bleiben die drei stehen. Bernd hält den Schlüssel in der Hand, es piept, die Autolichter blinken, dann öffnet er zuerst den Kofferraum. Dorthinein verschwindet der grüne Nylonbeutel. Dann öffnet er die rechte Beifahrertür und für Lea die hintere rechte. Lea sitzt hinten. Zu ihrer Verwunderung fährt Bernd nicht in die Stadt, sondern bald auf einer großen Straße in immer einsamer besiedelte Landstriche. Sie sind bestimmt eine Stunde unterwegs. Bald hält Bernd vor einer Dorfkirche. Draußen ist es kalt. Iris schnappt eine kuschelige Strickjacke, die neben Lea liegt, und gibt sie ihr. Die Strickjacke ist pinkfarben. Lea zieht die Jacke an, sie passt perfekt. Die Farbe ist für das Wüstenmädchen fremd, doch sie gefällt ihr. Bernd steigt zuerst aus, öffnet daraufhin den beiden die Tür. Aus dem Kofferraum holt er zwei Körbe heraus.

Bernd trägt die mit Brot und Käse, Saft und Milch befüllten Körbe, die Frauen laufen neben ihm her. Über Wiesen, angelegte Wege, Kieselsteine. Die Wiesen sind feucht, die Luft ist schwer. Die Sonne arbeitet sich gerade durch den Frühnebel. Bernd steuert auf ein kleines Waldstück zu, ein kleiner Weg schlängelt sich dorthin. Jetzt müssen sie hintereinander laufen.

Abrupt wird der kleine Weg zu einem Steg, der am Ufer eines Sees gebaut ist. Kleine hübsche Bänke sind auf dem Steg angebracht. Auf dem See ruhen sich Wildgänse aus, ihr Geschnatter erfüllt die Luft. Wenn Lea vorher lediglich erstaunt war, so ist sie jetzt begeistert. Sie beobachtet fasziniert die Wildgänse, die sich jetzt mit einem Ruck aus dem Wasser erheben und in verschiedenen Schwärmen hoch zum Himmel fliegen. Manche Wildgänse wirken verloren und füllen eilig schnatternd die Lücken in den eigenen Reihen. Lea fühlt sich im Moment wie diese Wildgänse: Schnell, einsam, aufgeregt, den Anschluss verloren, eine Lücke füllend. Nur welche?

Jetzt spinnen wir um die Wette, Henriette!

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