Читать книгу Jetzt spinnen wir um die Wette, Henriette! - Andrea Charlotte Berwing - Страница 11

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Der alte Tuareg

Bevor ihr Vater geht, tritt er noch zu Lea und wiegt das sich schlängelnde Tier, das sich streckt, als es in den großen Händen des Vaters liegt. Um sich dann blitzschnell wieder zusammenzukringeln. Er stellt fest, dass das Reptil ein Weibchen und schon größer geworden ist, schneller als der Vater dachte. Er runzelt die Stirn. Lea beobachtet ihn gespannt. Sie spürt die Achtung des Vaters gegenüber ihrem Findling, auf dessen Rücken sich schon gezackte Linien bemerkbar machen. Rot und schwarz. Und Gelb. Der Vater klappt den Kiefer der kleinen Schlange auseinander und befühlt die kleinen Zähne. Er drückt auf die seitlichen spitzen Zähne, aus denen sich eine Flüssigkeit absondert. Die zerreibt er zwischen seinen kräftigen Fingern. Dann legt er die kleine Schlange vorsichtig in Leas Hände, die sie schnell in der kleinen Kiste verschwinden lässt. Der Vater dreht sich um und geht. Lea sieht ihn zu seinem Kamel laufen, die Silhouette seines großen Körpers harmoniert beeindruckend mit der Größe seines Kamels Lala. Er reitet es seit vielen Jahren. Sie vertrauen sich ohne viel Tamtam. Nie lässt ihr Vater Lala in der Sonnenhitze stehen, so wie es viele andere Besitzer mit ihren Kamelen machten, bis sie durchdrehten und verzweifelt wegrannten oder ihre Besitzer bissen.

Nie bindet der Vater seinem Kamel die Beine zusammen. Immer steht in einem Eimer Wasser für Lala bereit und immer auch getrocknetes Gras und sogar Brot. Lala dankt es dem alten Tuareg mit Sanftheit und Gutmütigkeit. Und auf langen Ritten durch die Wüste mit Hartnäckigkeit und Härte gegen die gleißende Hitze. Sein Kamel kann sich durchschlagen, Sandstürmen trotzen, lange Durststrecken überwinden. Es ist zäh. Schön und zäh in der Wüste. Der Tuareg weiß, von ihm hängt dort in der gelben Unendlichkeit der Welt sein Leben ab. Und das seiner Familie. Überlebenskampf. Um nichts in der Welt würde er sein Leben tauschen wollen. Nicht mit der Moderne, nicht gegen Geld, nicht gegen Liebe. Seine dunklen Augen sind wie die eines Wolfes, sie glühen durch die Nacht, sein Blick ist dann feindselig. Und so manch ein nächtlicher Reiter durch die Wüste wagt es nicht, sich zu diesem düster und konzentriert wirkenden Mann ans Feuer zu setzen. Dann achtet der Tuareg nur auf mögliche Gefahren, auch seine Ohren nehmen jedes Geräusch wahr. Und jeder Fremde oder auch vermeintliche Freund kann hier schnell zum Feind werden. Das sagen ihm die unzähligen Geschichten, die sich die Einheimischen erzählten. Sie haben sich in den langen Nächten von Jahrzehnten, Jahrhunderten an den Feuern in der Wüste erhalten. Tagsüber arbeitet er hart, Handel betreiben, Tiere pflegen, das kleine Haus flicken. In den Fältchen seiner Haut immer den Wüstenstaub, der ewige Begleiter dieser Wildnis.

Unbezähmbar wirkt auch der sanfte, stolze Blick Lalas mit stets hoch erhobenem Kopf. Lea dankt dem Kamel oft, wenn es ihren Vater heil von den langen Touren wiederbringt, mit einer Extraportion Hirse, die sie sich selbst heimlich vom Munde abgespart hat. Manchmal gibt Nana etwas dazu. Lalas regelmäßiges Kauen nimmt sie als Danksagung. Oft auch nimmt sie eine alte verrostete Stahlbürste und kämmt das von der Sonne verblichene und struppige Fell. Es fühlt sich strohig an, trotzdem liebt es Lea, ihm geduldig durch das Fell zu streichen. Und Lala genießt es. Die langen Wimpern haben es Lea besonders angetan, stundenlang schaut sie sie an und versinkt in den sinnlichen Tiefen der dunklen großen Augen. Sie wusste, was das Kamel wusste.

Das Wüstenmädchen bemerkt, dass der letzte Blick des Vaters dem Familienradio mit dem Generator gilt. Auch sonst fällt es dem beeindruckenden Tuareg schwer, Abschied zu nehmen. Zu gerne hört er mit seiner Frau Nana und der Großmutter während der Mittagshitze Radio. Unvergesslich die Momente für Lea, wenn sich die Luft wie eine zweite Haut über alle legt und die Stimmung einen sanften Frieden verbreitet. Im Hintergrund die fröhlichen Stimmen aus dem blechernen Ding. Nun werden sie sie allein hören müssen. Mit der kleinen Schlange.

Lea schaut ihrem Vater noch lange hinterher, wie sich sein Kamel mit der Salzkarawane in der Wüste wiegt.

Jetzt spinnen wir um die Wette, Henriette!

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