Читать книгу Jetzt spinnen wir um die Wette, Henriette! - Andrea Charlotte Berwing - Страница 18
ОглавлениеSusanne
Henriettes Mutter kommt ins Zimmer gerannt, es ist Mitternacht. Die überraschte Henriette schafft es nicht einmal mehr, die Taschenlampe unter der Bettdecke verschwinden zu lassen, doch das ist der sonst so gestrengen Mutter egal.
„Susanne ist krank, deine Schwester.“
Henriette hört zu und merkt, wie sie auf einmal müde wird. Bleiern. Fred, Madleen, die fehlenden alten Freunde, Tschibi und jetzt Susanne. „Sie sieht doch gesund aus“, entgegnet sie der Mutter.
Dann fängt die Mutter an zu weinen. Von nun an kommt Henriette immer öfter am Wochenende zu ihrer Tante, die ein paar Kilometer weiter weg mit ihrem Mann in einer Datsche wohnt. Ein Apfelbaum wächst dort im Schrebergarten, außerdem gibt es Kaninchen. Einer Häsin bindet die tierverliebte Henriette eine blaue Schleife um, die soll nicht geschlachtet werden, sagt sie ihrer Tante. Die Tante nickt.
Die Datsche hat einen Eigengeruch, den Henriette nicht einordnen kann, es ist eine Datsche aus Pappe, wie sie bemerkt. Als sie mit dem Finger gegen die Wand der Datsche pocht, klingt es so wie die Luftballons, die sie in der Schule mit nassem Papier beschichten, um Gesichter zu basteln. Und vielleicht riecht sie auch ein bisschen nach Klebstoff. Die Wand.
Die Welt bleibt für Henriette übersichtlich. Klein. Mit Fred, ihrem besten Freund. Der für einen Rauhaardackel ziemlich stark nach Urin riecht. Nach dumpfem Hund, doch das stört sie nicht. Nach Hause mitbringen darf sie ihren Freund nicht. Und wenn sie mit ihm draußen war, besteht die Mutter darauf, dass sich Henriette im Bad die Hände wäscht.
Für weitere Abwechslung sorgt der Intershop, an dem sie oft vorbeiläuft. Manchmal sind sie mehrere Kinder, die dort vorbeilaufen und den Geruch von Kinderschokolade und Kaffee neugierig in ihre kleinen Riechorgane einsaugen. Es riecht nach Limonenseife, vermischt mit nussigen Komponenten. Nach Riesenüberraschung. Nach Kakao. Nach geheimnisvollem, raschelndem Papier. Aus den Reisebussen, die an der Grenze stehen, werden manchmal ungefragt Nimm Zwei-Bonbons geworfen und Schokolade. Am besten schmeckt Henriette die Schokolade aus den Kinderüberraschungseiern. Die zunehmende Sorge der Mutter um ihre Schwester tangiert sie nicht. Sie kann nichts sehen, nichts fühlen. Kranke Menschen sehen anders aus, befindet Henriette.
„Was hast du denn? Mutter sagt, du bist krank“, fragt sie eines Nachmittags, als sie zusammen Mensch-ärgere-dich-nicht spielen.
Susanne ist gerade dabei, zu gewinnen; sie hat schon ein Haus voll. Gelb und rot ihre Farben, Henriette spielt mit den grünen und blauen Männchen. Henriette würfelt zwei Sechsen und platziert ein grünes Männchen zielsicher im Haus, dann bewegt sie eines auf dem Feld vier Plätze weiter.
„Nichts.“
Henriette ist erstaunt.
„Wie nichts?“
Susanne zwirbelt ihre dunklen Locken und wippt mit dem rechten Fuß.
„Na, nichts. Mutter denkt, ich bin ein bisschen blöd, kann nicht gut rechnen und schreiben. Jetzt macht sie fast alles für mich. Mir soll‘s recht sein.“
Henriette ist jetzt schlauer als vorher. Susanne kam ihr noch nie blöd vor. Eher manchmal petzerisch, weil sie der Mutter brühwarm alles von ihrer Schwester erzählt, was sie weiß. Henriette findet Zettel mit Nachrichten wie diesen: „Henriette hat die ganze Schokolade aufgegessen.“, „Henriette hat laut Musik gehört.“, „Henriettes Freundin war hier.“ Und das auch noch ungefragt. Sie hat nie gehört, dass die Mutter Susanne dazu aufgefordert hätte.
Und Susanne wusste Jahr für Jahr, Monat für Monat, Stunde für Stunde immer weniger, weil Henriette ihr nichts mehr erzählte. Fast nichts. Erzählen wollte. Nicht aus ihrer Welt.