Читать книгу Jetzt spinnen wir um die Wette, Henriette! - Andrea Charlotte Berwing - Страница 20
ОглавлениеAn der Mauer Berlins
Henriette schaut sich Berlins Mitte an. Die altbekannte Mauer, deren Löcher sie grau in grau die letzten zwei Jahre begleiteten. Fred trottet neben ihr her. Die Aufmerksamkeit Henriettes hat er nicht. Ab und zu wirft der temperamentvolle Rauhaardackel ein paar warme Blicke hoch zu seiner inzwischen geliebten Freundin. Heute hat sie sich in der Schule eine Fünf eingefangen. Ihr Schulatlas ist verschwunden. Einfach so.
Sie läuft am Grenzübergang vorbei, an dem Busse stehen. Sie läuft weiter. Vorbei an ihrer Schule, an der Tierversuchsstation. Viele Bassets tummeln sich dort. Das sind die Favoriten für die Medizin. Geduldig und lieb lassen sie alles über sich ergehen. Henriette hat immer gemischte Gefühle, wenn sie dort vorbeigeht; am liebsten würde sie alle Hunde retten, mit nach Hause nehmen. Wer weiß, was hinter den dicken Mauern und den Fenstern mit Gitterstäben davor so passiert. Nichts Gutes bestimmt. Fred zerrt an der Leine und winselt. Henriette bleibt stehen. Sie versteht nicht, was dort hinter den Mauern mit den verrosteten Gitterstäben abgeht. Und vor allen Dingen, was soll das für einen Sinn ergeben? Sie weiß nur, dass es ihr einen Stich direkt in ihr Herz versetzt, was dort sein könnte. Im Namen der Wissenschaft. Sie läuft weiter zur Friedrichstraße hoch und läuft und läuft. An der Spree entlang. Etwas ist passiert, sie spürt es. Dann bleibt sie auf einer Brücke stehen und schaut auf das Wasser hinunter. Es wirkt friedlich, sanfte Wellen lassen die durchkommenden Sonnenstrahlen und das helle Licht sanft funkeln. Es weiß nichts von dem, was Menschen machen. Es glitzert und schwappt dann ans Ufer. Dunkel und unsichtbar. Eine Schallmauer aus kleinen Molekülen. Henriette erinnert sich an ein Gespräch mit ihrer Klassenlehrerin.
„Die Plastiktüte mit der Marlboro-Werbung hat hier nichts zu suchen, das ist verboten“, fordert diese streng.
Keine Widerrede. Ihr eiserner Blick sagt alles. Werbung mit dem Cowboy auf dem sich aufbäumenden Pferd. Der Westen und der Osten. Für Henriette ein Traum; der von Weite und Freiheit. Der Westen hinter der Mauer, hinter Polizisten, kleinen Häusern, in denen nur ein Mann saß. Umgeben von Glas. Die Spree und die Moleküle. Hier hat sie jedenfalls nicht ständig die Mauern der Grenze vor dem Gesicht. Fred hat es aufgegeben, einen Blick von Henriette zu erhaschen. Sie dreht sich um und läuft den Weg mit Fred zurück. Im Park leint sie Fred noch mal ab, doch er hat die Lust jetzt vollends verloren. Bedrückt und enttäuscht bleibt er sitzen und schaut Henriette an. Mit zuckersüßen braunen Dackelaugen.
„Mann, los, lauf doch!“ Henriette beugt sich zu ihm herunter und umarmt ihn.
Der Hundegeruch gräbt sich in ihr limbisches System. Rauhaardackelmännchen. Irgendwie ein herber Geruch. Fred wedelt ein bisschen mit dem Schwanz, doch bleibt er eisern bei ihr sitzen.