Читать книгу Jetzt spinnen wir um die Wette, Henriette! - Andrea Charlotte Berwing - Страница 23

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Sonnenallee – Arabische Straße

Lea schaut hinter sich. Die rote Tür pendelt leise hin und her. Dahinter das dunkel schimmernde Licht. Wie kam sie hierher, wie konnte das nur passieren? Lea läuft zur U-Bahn. Gesichter, Gesichter, Gesichter.

Abends sitzt sie im Hinterhofgarten, vor sich ein Glas Wein. Sie hört den Specht gegen einen Baum klopfen, folge deinem Herzen, sagt er ihr. Soll das ihr Herz sein? Wenn sie das ihrer Mutter erzählte, an ihren Vater darf sie gar nicht denken. Niemals sollten sie dies erfahren. Niemals. Wie crazy eigentlich. Sie mit ihrer romantischen Seele, ihrem zarten Herzen, hat sich heute zum zweiten Mal vorgestellt. Sie schaut die Fenster des Hofes hoch. Die meisten haben keine Gardinen. Auch keine schwedischen. Sie fühlt sich so kriminell, so schrecklich kriminell. Alle Menschen um sie herum würden sie verachten, wenn sie das wüssten, da ist sie sich ganz sicher. Auweia. Auweia. Auweia. Dann fällt ihr Blick wieder auf die Fenster. Die Wohnung dahinter ist unbezahlt. Noch ein Monat, dann fliegt sie raus. Und wie soll es dann weitergehen? Obdachlos, unter Brücken schlafen, bei Freunden ab und zu, die dann auch nicht mehr lange ihre Freunde sein würden.

Morgen wird sie anfangen, außerdem hat sie sich ja das Beste rausgesucht. Geführt von einer Frau, sie kann nein sagen, sie kann durch den Vorhang schauen, ob die Männer, die hereinkommen und in den Empfangsraum gebeten werden, ihr zusagen. Und selbst, wenn sie sich vorstellt und ihr der Mann nicht zusagt, kann sie der Hausdame Bescheid sagen, dass sie den nicht wollen würde. Die Hausdame regelt das dann mit dem Gast. Außerdem stellen sich ja mindestens noch zehn andere vor, das heißt noch lange nicht, dass der sie dann auch nimmt.

Lea atmet tief durch, wenn sie die zwei rückständigen Mieten bezahlt hat, dann macht sie ganz ruhig. Dann ist das Erste geschafft. Die Steuernummer ist besorgt, für Massagen. Und alles ist geschützt. Nie ohne Kondom, weder oral noch so. Sie zuckt bei dem Gedanken oral zusammen. Was ist das für ein schreckliches Wort. Das würde sie sowieso nicht machen, auch wenn es in ihrer Beschreibung steht, genauso wie anal. Wie ekelig. Das ist nur zum Anlocken, bei den Männern findet viel mehr im Kopf statt, als in Wirklichkeit. Das ist doch Wahnsinn. Was für eine Welt. Was für eine Welt, in die sie da hineingeboren wurde. Warum eigentlich muss, soll man das Leben meistern müssen? Wofür? Sie könnte sich doch auch einfach aufgeben. Genau heute. Jetzt. Einfach sterben, nicht mehr atmen. Nie mehr. So allein und verlassen hat sie sich schon lange nicht mehr gefühlt. Von der Wüste in den Puff. Lea muss lachen. Welch Farce. Wie absurd. Oder ist es was anderes?

Sie erinnert sich an die Worte ihrer Großmutter zu ihrer Mutter, sie hatten sich ihr eingebrannt, waren sie für das sanfte Wesen Bernadettes doch ungewöhnlich:

„Manchmal denke ich, du bist zwar eine schöne Frau, doch irgendwie, wo ist das Feuer? Warum so normal? Auch ich war einmal schön, doch auch rebellisch und natürlich, musste ich dafür bezahlen. Teuer. Doch wo ist dein Feuer? Immer den Ball flach halten, klein bleiben, normal. Ängstlich. Wie öde, Nana, wie öde.“

Nein, öde wollte sie nicht sein, aber ist das der richtige Weg?

Ist nicht eigentlich so gut wie alles falsch, egal wie herum man etwas macht? Oder ist irgendwie alles richtig, weil es nur falsch sein kann. Die Erde rund oder flach, egal.

Eigentlich wollte sie mal studieren. Hätten doch ihre Pflegeeltern es nicht vergessen, den Termin beim Notar vor sich hergeschoben. Immer und immer wieder. Im vollsten Vertrauen, das es Zeit gäbe. Noch. Genug Zeit. Ihr Erbe, das versprochene Testament, so gewonnen wie zerronnen. Sie traf keine Schuld, weder Bernd noch Iris noch sie. Der Tod kam zu überraschend, sie dachten, sie hätten noch Zeit, alles zu regeln. Sie hat sie doch gepflegt, erst Bernd, mit Iris zusammen, und dann Iris. Gewaschen, gefüttert, zum Klo gehievt, die Kacke, die danebenfiel, aufgesammelt, Würgkrämpfe unterdrückend. Die Hände gehalten, in liebende traurige Augen geschaut und alles Ekelige sofort wieder vergessen. Lea atmet tief durch und gießt sich noch ein Glas ein. Dann trinkt sie einen Schluck. Und dann das. Einfach vergessen. Und wirklich vergessen. Da kann keine Bosheit dahintergesteckt haben, Iris und Bernd haben bestimmt nicht gewollt, dass der Staat, den sie nie mochten, ihr Geld bekommen würde. Bestimmt nicht. Sie haben es einfach vergessen. Erst Bernd und dann Iris. Dann sie selbst. Wir haben es vergessen. Es war keine Zeit mehr, zum Schluss ging alles zu schnell. Erst mit Bernd und dann mit Iris. Das Sterben; der Tod kam unverhofft und plötzlich. Das Bessere ist der Feind des Guten. Der Tod, er nahm sich erst Zeit mit den beiden, als würde er es auskosten wollen, das Leid und die Traurigkeit des Abschiednehmens. Als hätte er seinen Spaß daran. Als fände er es lustig. So, als würde er sich dafür rächen wollen, dass sich Iris und Bernd wirklich geliebt haben und auch viel Spaß in ihrem Leben hatten. Wie viel haben sie miteinander gelacht, wie lustig war es hier immer. Lea kullern die Tränen die Wangen herunter. Und jetzt das. Dann ging es Schlag auf Schlag. Merde. Der Puff. Immerhin haben sich Bernd und Iris jetzt wieder, gemeinsam im Himmel. Die nächste Reise. Das war immerhin ein Trost, auch wenn er ihr jetzt nicht weiterhilft. Vielleicht sollte sie sich auch so was wie Kleopatra halten. Hier.

Vor dem Sofa würde sie dann liegen. Die Deutschen würden durchdrehen. Schwarze Magie. Nee, die hätten ganz andere Mittel parat. Wahrscheinlich tausend Ämter, hunderttausende Untersuchungen, schreckliche Journalisten. In der Bild würde stehen:

„Wüste bringt Giftschlange mit.“ Mit einem Riesenbild von ihr. Dann könnte sie gleich einpacken. So ein Mist, das mit dem Erbe ist doch verrückt, so war es doch abgesprochen. Dann hätte sie wenigstens in dem ganzen Dilemma Kohle. Money. Auch egal.

Sie gießt sich noch ein Glas ein. Der Abend ist lau, doch jetzt fröstelt sie etwas. Schnell trinkt sie das Glas aus, um sich eine Zigarette anzuzünden. Lucky Strike, das Glück streikt. Dann noch eine. Und noch ein Glas. Stößt sie den Rauch genüsslich aus ihren Lungen? Sie weiß es nicht. Wird es ihre Letzte sein? Bestimmt nicht. Für Gott ist sie zu schlecht. Das Leid geht weiter. Nie mehr wird irgendetwas gut. Nie mehr.

Am nächsten Morgen weiß Lea nicht mehr, wie sie die Treppen hochgekommen ist, oder besser gekrochen. Die Kippen tummeln sich um den Aschenbecher und die Flasche ist leer.

Bevor sie zu ihrer neuen Arbeitsstelle geht, räumt sie nichts mehr weg. Ihr ist so schlecht, dass ihr zu schlecht ist. Zu schlecht, um schlecht zu sein. Zu schlecht, um zu denken. Zu schlecht, zu schlecht, zu schlecht. Nicht zu schlecht, um aufgeregt zu sein. So viel kann ich gar nicht trinken, um zu vergessen. Weil sie jetzt Prostituierte ist oder besser sein wird. Bald. Heute noch. Welch schwarzer Tag! Oder müsste sie nicht denken, welch weißer Tag? Von den Gedanken, schmerzt ihr Kopf wieder. Ihre Nerven liegen blank, viele spitze Pfeile schwirren in ihrem Kopf herum. Und stechen hier und dort. Schwarz war sie ja schon, wenn auch nicht pechschwarz. Und verlassen dazu. Und geprellt. Und allein. Und pleite. Und jetzt auch noch das. Das Tageslicht schießt durch die Augen in ihren Kopf und lässt ihr einen minutenlangen Schmerz. Merde! Merde! Merde! Nichts wird mehr gut. Was soll‘s. Egal. Dann wühlt sie in ihren schwarzen Unterwäscheklamotten herum. Wo waren noch mal die Strapse?

Jetzt spinnen wir um die Wette, Henriette!

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