Читать книгу Jetzt spinnen wir um die Wette, Henriette! - Andrea Charlotte Berwing - Страница 27

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Tod in der Wüste

Der alte Tuareg ist misstrauisch. Lange schon hatte er Wesensveränderungen der Mutter seiner Frau bemerkt. Dieser einst so fröhlichen, aufmerksamen Frau. Die sich durch nichts unterkriegen zu lassen schien. Die immer hart arbeitete, anpackte, abends stundenlang dem Sonnenuntergang zusah. Bernadette, die ihrem Namen Ehre machte. Bernadette, die Bärenstarke, Bernadette, die Mutige. Ein französischer Name. Sie war ihm an sein verwittertes Herz gewachsen, dachte er doch damals, sie würde ihn, den Tuareg, niemals annehmen und als Schwiegersohn akzeptieren. Er wusste selbst nicht, warum es ihm Nana angetan hatte. Die eher unscheinbar war, ein stilles anspruchsloses Wesen, die zwar die Schönheit von Bernadette geerbt hatte, jedoch nicht ihren Stolz und ihre Willenskraft. Vielleicht genau deshalb. Vielleicht hätten der Tuareg und Bernadette als Mann und Frau – nur mal angenommen –, sich die Schädel eingehauen. Ein dominanter Part reicht. Und Nana hatte sich ihm von Anbeginn an vorsichtig unterworfen. Und war dabei sanft und beständig. Vielleicht war es das. Seine Schwiegermutter dagegen erschien ihm oft wie eine Prüfung, die nie aufhören wollte. Es hat Jahrzehnte gedauert, bis er dieses stille Einverständnis ihrerseits mit ihm spürte. Frieden. Bis sie loslassen konnte, ihre Zweifel ihm gegenüber, ob er auch ja ein guter Mann für ihre Tochter sei. Geschlagen jedenfalls hat er seine Nana und auch Lea nie. Er musste andere Wege finden, seine ihm gottgegebene Dominanz zu repräsentieren, und das war eine Herausforderung für ihn. Die ihm mit der Zeit sogar Spaß machte und einen gewissen Schalk in seine ernsten dunklen Augen spielte. Und je älter er wurde, umso dankbarer war er Bernadette für diese Aufgabe. Hätte er sich an seinen Vater gehalten, wäre er einfach herrisch gewesen und hätte verlangt, ohne dafür geben zu müssen. So spürte er einen Ausgleich, der ihn zufrieden stimmte. Geben und Nehmen. Darauf bestand Bernadette und wenn es das Letzte war, wofür sie eintrat.

Und so, wie er Bernadette kannte, würde sie auch von Kleopatra mehr verlangen, als nur Feinde vom Hause fernzuhalten. Sie würde mehr verlangen, das wusste der Tuareg. Sie würde mehr verlangen. Diese Gedanken ließen ihn nicht mehr los. Sie würde. Der Tuareg beobachtete von nun an Kleopatra und Bernadette ganz genau. Er stellte fest, dass Bernadette verschiedene Spielarten probierte, um die Schlange zu provozieren. Als wären Kleopatras fetten Jahre vorbei. Nur wozu? Wozu?

Nach einer langen dreimonatigen Reise kommt der Tuareg heim. Auf den Kamelen Einkäufe für die Familie. Eine kleine Karawane, seine. Er sieht Nana schon von Weitem das Feuer anzünden und auch die Farben Kleopatras sind aus der Ferne nicht zu übersehen. Nur eine Frau fehlt. Eine fehlt. Es fehlt ihre Silhouette, ihr allabendlicher Blick in die untergehende Sonne. Der Tuareg braucht noch zwei Stunden. Lala zieht ihren Schritt wie immer, wenn sie die heimatlichen Gefilde riecht, wieder an. Ihre Nüstern blähen sich auf und saugen die heiße Luft ein. Dem Tuareg wird es mulmig. Er fürchtet sich. Er weiß, er wird bald etwas erfahren, was er nie erfahren wollte. Nie. Nie. War es ein Fehler, das mit Kleopatra?

Nana schaut ihn nicht an, doch bemerkt er ihr verweintes Gesicht und die fahrigen Bewegungen. Ihre Hände zittern beim Schneiden des Ziegenfleisches und des Brotes. Dann will er in das Haus und erstarrt. Sie muss sie so liegen gelassen haben, Bernadette scheint unter dem heiligen Baum in einen tiefen Schlaf gefallen zu sein. Ihre weiße Haut, die sie immer vor der Sonne zu schützen versuchte, glänzt wächsern. Die Augen, noch offen, gen Himmel gerichtet. Die weißen Haare. Schnell tritt der Tuareg zu ihr und streicht ihr über die Augen. Dann erst bemerkt er die drei Einstiche in Nanas Unterarm. Es ist der Abdruck Kleopatras. Der ihrer spitzen Zähne. Er weiß es sofort. Und er weiß auch sofort, warum Kleopatra vor Bernadette liegt. Und nun weiß er auch, warum Nana die Augen ihrer Mutter nicht selbst verschlossen hat. Wegen Kleopatra. Ihrer Königin. Als wolle die Schlange die Daseinsberechtigung der alten Frau immer noch beweisen. Als würde sie darum bitten, nur zu beschützen und nicht, wofür Bernadette sie auserkoren hatte. Als Wegbereiter in den Tod. Als wolle sie der alten Frau sagen, dass der Tod nicht ihre gottgegebene verfluchte Bestimmung ist. Dass sie sich dem Plan der Schöpfung nicht unterwirft. Auch wenn Bernadette ihren Willen auf sonderbare Weise umgelenkt hatte, die Giftzähne in ihr Fleisch und für sich den schon lang ersehnten Tod, die Erlösung. Überfällig. Es ist passiert.

Wenn der alte Tuareg etwas wusste und ahnte, dann das. Und er hatte schon viel gesehen. Schon als Kind begegnete er dem Tod in den verschiedensten Gestalten. Nicht alle Gesichter des Todes waren schön. Doch das hier ist etwas Besonderes, ein Augenblick, der sich ihm ins Leben zeichnete. Das hier würde er nie vergessen. Nie. Nie. Tränen steigen in seine dunklen Augen. Jetzt wusste er, warum er Nana auserwählt hatte. Er verbeugt sich vor Kleopatra, geht zum Feuer und gibt ihr das Fleisch, das sie sogleich gierig verschlingt.

„Wir bringen dich zurück in die Wüste. Ich kenne einen guten Ort für dich. Sonst werden sie dich umbringen!“, sagt er mit einem Blick hin zum Dorf.

Dann erst bemerkt er die Schönheit und geheimnisvolle Würde beim Anblick der alten Frau und der Schlange. Erstaunt hält er einen Moment inne. Wie ineinander verschlungen auf geheimnisvollen Wegen. Ihre Körper ergeben zusammen eine neue Landschaft. Als er Bernadette in die Wüste bringt, folgt Kleopatra. Er sieht Bernadettes noch immer weißen Zähne. Wie Perlen aus den Tiefen eines dunklen Leibes und einer noch geheimnisvolleren alten Seele. Er weiß die Sandberge, die sich vor ihm erheben und immer wieder erheben einzuordnen. Er weiß ganz genau, wo er sie hinbringen wird. Dort, wo ihr Körper für immer seinen Frieden haben wird. Und dorthin, von wo aus Kleopatra neu beginnen wird müssen. Sie wird jagen lernen müssen. Sie wird es lernen. All diese Gedanken begleiten den alten Tuareg, die Großmutter Bernadette im Arm und hinter ihm die Schlange. Hinter ihm die Ewigkeit, vor ihm die Ewigkeit, in ihm die Ewigkeit. Genau in diesem Moment des Einklangs mit allem, was das Schicksal vorgesehen hat, legt er Bernadette in eine Kuhle. Stunden sind vergangen. Kleopatra legt sich augenblicklich neben sie, ihr Blick in die Ferne gerichtet. In die Ferne, die nur aus einem blauen Himmel und der jetzt versinkenden Sonne bestand, die teilweise die Wüste mit einem rötlichen Licht bewarf, als würden die sanften Berge zu Blut. Der Sand gibt etwas nach, als hätte die Wüste schon lange gewartet. Gewartet auf eine alte Frau.

Langsam geht er zum Dorf zurück. Er weiß, bevor er Bernadette die letzte Ehre erweist, muss er noch etwas erledigen. Kleopatra wird solange auf Bernadette aufpassen, auch wenn er nie wieder zurückkäme. Sie würde nie diese Frau verschlingen.

Das Telefon klingelt. Das ist untypisch. Seit Bernd und Iris unter der Erde sind, klingelt hier gar nichts mehr. Die Menschen vergessen schnell. Lea hat mit den Freunden der beiden auch nicht so viel am Hut. Sie ging bei den Erwachsenengesprächen weg, als Kind liebte sie es bei offener Tür dem Gemurmel zu lauschen, ohne auf die Bedeutung zu achten. Dann fühlte sie sich bei Iris und Bernd so geborgen wie in der Wüste. Eingetaucht in menschliche Stimmen, deren Nähe. Doch jetzt leben die früheren Gefährten ihrer Zieheltern in ihren eigenen Welten. Schotten sich immer mehr ab. Während bei ihnen alles kleiner wird, dehnt sich die Welt für Lea aus.

Lea hebt ab. Ihr Vater ist dran.

„Vater?“, schreit Lea auf, als sie seine Stimme hört. Sie weiß, das muss ein schlechtes Omen sein. Ihr Vater würde nie, aber auch nie, in Berlin anrufen. Nie, und wenn sie tausendmal seine Tochter wäre. Nie, nie, nie. Ihr wird schwarz vor Augen.

„Such dir etwas zu sitzen, Kind“, murmelt er.

Es dauert, Lea sucht mit ihrer Hand den Stuhl, der sich rechts neben dem Telefonschränkchen befinden muss. Ihre Finger suchen vergeblich, dann bekommt sie ihn zu fassen, ohne die Strippe des Schnurtelefons zu sehr zu belasten.

„Okay, Vater, ich sitze.“

„Kleopatra hat Großmutter getötet. Deine Großmutter wollte es so. Sie hat es auf vielen Wegen versucht. Sogar hungern hat sie sie lassen. Doch Kleopatra wollte sie nicht. Irgendwann hat sie gebissen.“ Lea weicht das Blut aus den Adern. Unwillkürlich muss sie anfangen zu schluchzen.

„Mein Kind, deine Großmutter wollte es so. Es war ihr auserwählter Tod. Kleopatra wollte sie nicht fressen, dann hat sie es auf diesem Wege getan. Es gibt Schamanen, die gehen in Höhlen mit Schlangen, werden sie nicht gebissen, sind sie heilig. Deine Großmutter ist so eine. Heilige. Sie hat Kleopatra ausgetrickst, sie kann nichts dafür. Sie ist eine Göttin. Wir werden Kleopatra weit weg von hier bringen, noch weiter als da, wo du sie gefunden hast. Damit sie wieder frei ist. Vielleicht war es eine gute Idee von dir, sie hierherzubringen. Vielleicht auch nicht. Das wird nur Allah allein wissen. Dein Gott, mein Gott. Lea, ich liebe dich. Deine Großmutter sieht so schön aus. Und Kleopatra bewacht sie, bis wir sie heute Nacht in der Wüste verbrennen. So hat sie es sich gewünscht. Komm uns bald besuchen. Ich leg jetzt auf.“

Lea legt ganz langsam den Hörer auf. Sie kann nicht mehr. Das kann man doch niemandem erzählen. So hat sie es sich nicht vorgestellt. Dass ihre Großmutter ging. Nun konnte sie auch die Blicke der Großmutter auf Kleopatra einordnen. Ihr wird schlecht. Sie bricht zusammen.

Lea wacht auf. Sie schreibt einen Brief an die Hausverwaltung. Hat sie sich so vorgenommen. Nachdem sie einen Briefumschlag und das Papier vor sich hingelegt hat, steht sie auf und mahlt Kaffee. Das Geräusch der immer lauter werdenden Kaffeemühle und der Kaffeegeruch beruhigen sie. Dann macht sie das Radio an. Frau Merkel. Der Islam gehört zu Deutschland. Wie bitte? Wie soll denn das gehen? Dann mahlt sie weiter. Drückt immer und immer wieder auf den Knopf. Als würde die Maschine dann schneller mahlen. Oder intensiver. Feiner. Tut sie aber nicht. Dann schaut sie aus dem Fenster. Draußen regen sich grad ein paar Türken auf. Hamdudelchallah, das sind Leas Lieblingssilben. Sie stehen vor einem Zeitungsladen, der auch Kaffee ausschenkt. Ob Iris und Bernd sich hier noch wohlfühlen würden. Ganz Istanbul ist bald hier, hatte Bernd manchmal gewitzelt und dabei frech Lea angegrinst.

„Du, meine Kleine, gehörst zur Familie. Und wir liegen niemandem auf der Tasche, merk dir das Lea, das macht den Unterschied. Hier kommen Migranten, die Frau putzt, der Mann arbeitet. Das Amt kommt für sie nicht infrage, die gehören zu uns. Doch nicht die, die mit Zweit- und Drittfrauen ihre Kinder von uns Steuerzahlern bezahlen lassen und ihr schwarz verdientes Geld dann nach Arabien oder in die Türkei oder sonst wohin schaffen. Das hat keinen Charakter, keine Ehre, das hat keinen Respekt verdient. Geh mal zum Sozialamt, du wirst keinen Chinesen oder Japaner dort finden. Die haben eine andere Klasse. Und die Deutschen, die dasitzen, um die müssen wir uns kümmern, das sind unsere Landsleute. Und die, die hier mit uns arbeiten wollen. Ich hab immer gearbeitet, immer!“

Bis sein Radius immer kleiner wurde, Bernd baut ab. Der Mann, den sie kannte, der immer alles getan hat, im Haushalt, außerhalb des Haushalts, geschleppt, gebuckelt, gearbeitet, wurde immer durchsichtiger. Ein bisschen schien es so, als würde seine materielle Essenz sich vergeistigen. Substanzverlust. Das Feste wurde ätherisch. Wie Lava aus einem Berg, so verging seine Lebenskraft und sie verging glühend. Es kam so, wie Bernd es voraussah. Gefühlt. Nicht nur. Klein Istanbul hat Lea jetzt vor ihrem Fenster der Wohnung, für die sie jetzt die Miete im Puff verdienen muss. Richtig, Ratenzahlung. Das wollte sie ja jetzt vereinbaren. O Mann. Lea lässt sich auf das Sofa fallen, sie atmet und atmet tief durch.

Trotzdem nimmt die Panik in ihr, hinter ihrem Sternum nicht ab, dann schaltet sie den Fernseher ein und das Radio. Die Stimmen verdoppeln und verdreifachen sich. Ob sie untervermietet? Lieber nicht. Wenn die das rauskriegen, fliegt sie gleich raus. Wie soll sie unterschreiben. Mit Lea Tuareg oder Iris oder Bernds Unterschrift. Aber die sind ja schon gestorben. Das wäre Urkundenfälschung. Doch jetzt, wo sie sowieso im Bordell arbeitet, ist das doch auch egal oder eher nicht? Nicht noch mehr Schlamassel, sie muss es regeln. Lea spürt, dass ihr Herz zu rasen beginnt. Gleichzeitig zittern ihr die Hände, o schreckliche Bürokratie. Sie packt den Briefumschlag und das fast leere Blatt Papier weg. Prokrastination. Richtig, ich prokrastiniere, dann wird es sich schon von selbst regeln. Der Briefkasten quillt auch schon über. Einmal die Woche holt sie die Post raus, die dann in einer Schublade verschwindet. Schon der Anblick der ungeöffneten Briefe raubt ihr den Atem.

Sie kann gerade mal so ihre Wäsche waschen und Essen einkaufen. Um davon der Hälfte beim Vergammeln zuzusehen. Sie versteht auch nicht, wie die Mädels im Puff sich Essen bestellen können. Sie ist viel zu aufgeregt dafür. Und wenn sie einmal runtergehen würde, um sich was zu kaufen, würde sie gleich weglaufen. Ganz weit weg. Und ganz schnell. Und nie wiederkehren. Die Mädels sind da ganz cool. Ich geh mal rüber zu Netto, will jemand was? Dann ziehen sie die Strapse aus, Jeans drüber und kommen nach einer Viertelstunde ganz easy wieder. Wie geht das? Würde sie auch irgendwann easy werden? Oder bleibt die Panik für immer in ihr? Wann würde sie wieder vertrauen können? Sich. Sich. Sich. Warum haben wir nur nicht das Geld als Bargeld hier gebunkert? Bares ist Wahres, hatte Bernd immer gesagt. Und Iris zustimmend genickt. Der Staat, der sollte nichts kriegen. Hatte der es ihnen doch immer schwergemacht. Keine Adoption, weil Iris an Rheuma erkrankt war. So eine Scheiße, Lea hört Bernds Stimme wie früher durch die Wohnung schallen. Warum haben wir es nicht mehr geschafft? So ein Testament aufzusetzen? Als würde Bernd jetzt noch durchs Jenseits schreien. Weil alles andere wichtiger war, die Attacken, die Krankheit hatte alle in Atem gehalten. Atemnot, Schwindel, Sprachstörungen, Schluckbeschwerden, immer die Schippe in der Hand. Körperflüssigkeiten geliebter Menschen entsorgen. Wenn du planst, bringst du Gott zum Lachen, hatte Iris Lea oft zwinkernd gesagt.

„Erst als ich gar nicht mehr glaubte, so einen wundervollen Menschen wie dich großziehen zu dürfen, dann erst, dann erst ist das Wunder geschehen.“

Gott, Gott, Gott. Und wo war er jetzt? Wo legte er jetzt die Kohle für sie hin. Wunder, o Wunder. Ja, merde. Jetzt hat sie den Salat. Sie geht wieder ins Bett, ohne sich den Kaffee aufzubrühen, und mummelt sich warm ein. Einfach schlafen, forever. Am liebsten forever. Kleopatra, Bernadette, ihre Großmutter

„Geht weg, geht weg“, murmelt sie beim Einschlafen, „das verkrafte ich nicht.“

Jetzt spinnen wir um die Wette, Henriette!

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