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Kapitel 9 Geballte Pädagogik

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Ich habe Hanna schon immer bewundert. Vier Kinder, einen Mann, beide berufstätig. Das alles schaffte sie mit links, so schien es. Ihr Mann Georg – sie nannte ihn Schorsch – war stets an ihrer Seite.

Als sie mich in den Osterferien fragte, ob ich Lust hätte auf ein paar Tage Bayern, da zögerte ich zunächst. Hohe Berge, schwieriger Dialekt und vier Kinder in einer Zeit, in der ich mich normalerweise ausruhte? Aber die Neugier siegte. Wie machte Hanna das alles? So leicht? Und immer gut gelaunt. Ich sagte kurzerhand zu.

Schon die Anfahrt war ein Abenteuer, denn ich hatte den Zug genommen. Das letzte Stück bis Lindau war eine reine Augenweide. Obwohl ich mehr das Wasser liebe, waren die sich an beiden Seiten auftürmenden Berge von gigantischer Schönheit.

Lindau entpuppte sich als eine wunderschöne kleine Märchen-Insel im Bodensee.

Hanna, Schorsch und alle vier Kinder holten mich vom Bahnhof ab. Emma war gerade mal sechs Wochen alt und fühlte sich in ein Tuch gewickelt an Mamas Körper sichtlich wohl. Die Zwillinge Mia und Sophia waren drei und liefen schon herum, immer in Sichtweite von Schorsch. Paul war schon fünf und wurde von Mama mit beaufsichtigt. So hatte jeder seine Aufgabe.

Ein leichter Farbgeruch empfing mich, als wir das Haus betraten. Schorsch hatte mit ein paar Freunden gerade den Fußboden im Wohnzimmer neu gemacht. Holzfußboden, selbst verlegt und mit biologischem Lack versiegelt. Und weil Hanna gerade 30 geworden war, hatten sie sich eine neue Ledergarnitur gegönnt, ganz in weiß. Dazu einen Fernseher, LCD, 80 cm Durchmesser. „Strahlt weniger als Plasma“, raunte mir Hanna ins Ohr. Sie fürchtete sich seit Jahren vor Elektrosmog.

Die ersten Tage waren mal ganz etwas anderes als in meiner Familie. Jeder machte immer irgendetwas und stets ohne Geschrei oder Drohungen. Alle Mahlzeiten wurden zunächst in der Riesenküche zubereitet, von allen zusammen, außer Emma. Die schlief meistens. In der Küche wurde geschnitten, aufgedeckt, gelöffelt, zuweilen auch gepanscht und rumgeschmiert, und nach den Mahlzeiten räumten alle alles wieder auf. Immer fröhlich, ohne Widerworte. Bemerkenswert.

Es war der letzte Morgen für mich, als ich schon früher als gewohnt erwachte. Ich wollte gerne noch zum Hafen gehen und die Schiffe fotografieren.

Als ich nach unten kam, hörte ich im Wohnzimmer Geräusche. Ganz leise trat ich ein und beobachtete einen ganz in Arbeit versunkenen Paul auf der Erde sitzend. Als ich ihm vorsichtig über die Schulter sah, bemerkte ich, dass er mit einem kleinen roten Schweizer Kindermesser ein Schiff in den neuen Parkettboden ritzte. Er war schon fast fertig. Dann glitt mein Blick auf die neue Couch, die an der Lehne einen fachmännisch gelegten Schnitt auswies. Es sah wie ein Stern aus. Tadellos.

Entsetzt entfuhr mir: „Paul, warum hast Du das gemacht?“ Er schaute mich ohne Schuldbewusstsein an und antwortete mit einem Achselzucken: „Was hätte ich denn sonst machen sollen?“

Nun war ich doch gespannt auf die Reaktion von Hanna, die, von unseren Stimmen angelockt, gerade die Treppe hinunter kam.

Ich überlegte mir, ob sie ihn anschreien oder ohrfeigen, oder vielleicht sofort ins Bett zurück schicken würde. Aber Hanna kniete sich vor ihren Sohn auf Augenhöhe hin und erklärte ihm, wie lange Papa und seine Freunde für den Fußboden gebraucht hatten. Wie viel Arbeit es gewesen war. Sie erläuterte ihm, dass die Couch ihr Geburtstagsgeschenk gewesen sei und nun einen Sternen-Schlitz hatte. Danach offenbarte sie ihm folgende Lösung:

„Papa und seine Freunde werden in den Ferientagen noch Zeit finden, die Stelle am Boden zu reparieren. Für die Couch findest Du selbst eine Lösung. Du hast eine Woche Zeit.“

Auf der Heimfahrt war ich nun doch mehr als neugierig, was daraus werden würde. Völlig ohne Zorn, auch nicht verstellt oder unterdrückt, hatte sie mit Paul gesprochen, ihm erklärt, dass sie traurig sei, aber dass solch ein Schaden repariert werden könne. Wenn einem Menschen etwas zustieße, dann sei das viel schlimmer. Aber auch Paul müsse bei dem Schaden helfen, ihn wieder gut zu machen.

Am Ende der Woche konnte ich es nicht mehr aushalten. Ich rief Hanna an und fragte, welche Lösung Paul gefunden hatte.

„Er hat von seinem Taschengeld in der Apotheke weißes Pflaster sensitiv gekauft und es auf die Stelle geklebt. Und nicht nur auf die Stelle. „Sonst sieht es so aus, als ob da was kaputt war“, erklärte er voller Überzeugung. Er hat die ganze Couch mit Pflaster beklebt, insgesamt an 17 Stellen. Dann war das Pflaster aufgebraucht. Wir fanden die Idee gut und es sieht auch irgendwie wie Kunst aus.“

Zu Weihnachten schenkte ihnen Schwiegermutter eine neue Couch. IHR Kunstverständnis war wohl ein anderes.

Die dreizehn Fenster

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