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Kapitel 1 Die dreizehn Fenster

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Die Sonne blendete ihre Augen, als Jule missmutig über den großen Platz stapfte, vorbei an den 13 Pferdeställen, dem Unterstand für die Trecker und dem großen Scheunentor. „Mistikack“, zischte sie zwischen ihrer großen Zahnlücke hindurch, „ immer diese Langeweile.“


Jule war schon fast sechs, und sie freute sich riesig auf die Schule. Da würde sie endlich Freunde haben. Hier in Stockum gab es nur drei Bauernhöfe und nirgendwo ein Kind, nur sie.


Mit ihren viel zu großen Stiefeln wanderte sie zum Graben, der den Hof an der rechten Seite bis hin zur Straße begrenzte. Dort lag ein großer Stein, den sie so liebte. Dort war ihr Ponyhof.


Sie setzte sich auf den Stein, zog ihre Stiefel aus und schaute auf ihre nackten, dreckigen Zehen. Die Socken hatte sie vorhin in einer Pfütze verloren, als ihre Stiefel plötzlich im Matsch stecken geblieben waren.

Vorsichtig holte Jule einen alten durchfeuchteten Bindfaden aus ihrer Hosentasche und band an seine Enden jeweils alle fünf Zehen ihrer beiden nackten Füße fest. Nun hatte sie zehn Pferde. Jedes hatte einen Namen, das war klar. Die beiden dicken Zehen, ihre Kaltblut-Gäule, hießen Luzi und Adele. „Hü!!!“, schrie sie, „links, langsamer, hott“, bis die hereinbrechende Dunkelheit ihr zeigte, dass sie nur noch wenig Zeit hatte, an diesem Tag etwas Besonderes zu machen. Sie wollte Zielwerfen üben.

Noch barfuß, aber ohne Faden an den Zehen, schleppte sie mühselig Stein für Stein auf einen Haufen. Endlich hatte sie dreizehn zusammen. Das wusste sie, denn bis siebzehn konnte sie schon zählen.

Gegen die Dunkelheit ankämpfend nahm sie einen Stein nach dem anderen in ihre kleinen Händchen und schleppte sie zu den Pferdeställen. Dann holte sie mit ihrer rechten Hand aus und versuchte, die kleinen Stallfenster zu treffen. BUM, geklappt. Einmal nur verfehlte sie ihr Ziel und musste erneut werfen, danach waren alle dreizehn Fenster kaputt.

Noch während sie ihr Werk bestaunte, kam die Bäuerin aus dem Haus gelaufen, laut schreiend und gestikulierend. Neben ihr Jules Mutter.

Jule ahnte, dass sie etwas Falsches gemacht hatte, als die Worte ihrer Mutter sehr leise aber wie ein Messer an ihr Ohr drangen: „Jule, Du gehst jetzt sofort auf Dein Zimmer und wartest auf mich.“


Was das genau bedeutete, hatte Jule bereits mehrfach zu spüren bekommen: Popo nackt, über die Bettkante legen und dann bekam sie mit der Hundeleine von Akki „Dresche“. Danach konnte Jule tagelang kaum sitzen.


Im Flur stellte sie vorsichtig ihre dreckigen Stiefel neben die Tür. In ihrem Zimmer zog sie langsam ihre Hose aus und auch den Schlüpfer. Mit Tränen in den Augen bettete sie ihren Oberkörper quer über ihr Bett und streckte ihren nackten, ungeschützten Po ihrer Mutter entgegen, die gleich kommen würde. Akki, der schwarze Pudel, schaute sie mit großen braunen Augen an. Sie war also nicht alleine, ihr Freund war bei ihr.

Als ihre Mutter das Zimmer betrat, fluchte sie plötzlich laut vor sich hin. Während Jule noch ganz doll in die Bettdecke biss, damit die Dresche erträglicher war, hörte sie einen Tritt und das schmerzhafte Winseln von Akki, der bis in die Ecke geflogen war.


Vorsichtig schaute Jule sich um und sah, wie ihre Mutter eine in lauter kleine Stücke zerbissene Hundeleine in der Hand hielt. „Danke, Akki“, dachte Jule ganz leise. „Du bist ein echter Held. Das mit dem Fußtritt mach’ ich wieder gut.“

*****


Heute, 43 Jahre später, blickte Jule verträumt in die braunen Augen ihres Golden Retrievers. Und während ihr eine kleine Träne über die Wangen kullerte, kam es ihr vor, als flüsterte er: „Jule, ich hätte das genauso gemacht, für Dich, damals!“


Die dreizehn Fenster

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