Читать книгу Die dreizehn Fenster - Andrea Lieder-Hein - Страница 12

Kapitel 10 Anno 1971

Оглавление

„Wie wäre es, wenn Du mal auf den Pfänder fährst, mit der Gondel. Das hilft Dir bei Deiner Höhenangst, Clara.“

Es war Helmut, ihr Mann, der ihr diesen Rat gab, denn er litt am meisten unter ihrer Höhenangst. Helmut liebte die Berge und sie konnte bei all’ seinen Touren immer nur in der näheren Umgebung des Hotels bleiben, denn auf Helmuts schmalen, steilen Pfaden wurden ihre Knie schnell weich.

Helmut plante ihre Urlaube stets mit Atlas und Internet. Dieses Mal hatte er die Region um Bregenz ausgesucht. Er liebte Österreich, wohl auch, weil Jann, ihr Sohn dort seit einigen Jahren studierte.

Bregenz. Claras Gedanken wanderten zurück in das Jahr 1971.

Sie ging mit Ulli in eine Klasse und beide verbrachten jeden Nachmittag zusammen. Ulrich, oder Ulli, wie sie ihn nannte, war genau wie sie 10 Jahre alt, als seine Eltern beschlossen, ihn auf eine Privatschule in der Nähe von Bregenz zu schicken. Es war ein von Mönchen gegründetes ehemaliges Kloster und nun schon lange ein Internat. Ullis Eltern hatten genug Geld, nicht aber genug Zeit für ihre drei Kinder. Das Internat bot eine bequeme und gute Lösung für Kinder und Eltern.

Auf dem Dachboden suchte Clara nach ihrem alten Poesie-Album. Sie öffnete es und schaute versonnen auf ein etwas zerknittertes schwarz-weiß Foto. Dort waren zwei Kinder abgebildet, ein Mädchen, nämlich sie, und ein Junge, Ulli.

Es war Spätsommer und beide standen neben einem Heuschober, Hand in Hand.

Seine kurzen braunen Haare waren immer strubbelig, seine braune Jacke zu groß und die kurze Hose würde heute albern wirken, aber damals war er der schönste Junge auf Erden. Clara seufzte.

Es war ein heißer Tag, als Ulrich ihr den Finger auf die Lippen legte und „psssst“ sagte. „Weine nicht, Clara, irgendwann sehen wir uns wieder, ich verspreche es“, waren seine letzten Worte an sie. Clara mochte die Worte nicht so recht glauben, denn Ulli war aus gutem Hause und seine Eltern schickten ihn auf ein Internat nach Österreich, für Jahre.

Und nun, 40 Jahre später, ein geplanter Urlaub ganz in der Nähe des Internats. Heimliche, fast verbotene Erregung stieg langsam in ihr hoch. Sie freute sich auf Österreich, die Berge und natürlich würde sie mit der Pfänder-Bahn fahren. Trotz Höhenangst.

*****

Kaum zu glauben, aber trotz Spätsommer lag etwas Schnee auf dem Pfänder. Sie kühlte damit ihren Puls, denn die Gondelfahrt war doch ziemlich stressig gewesen. Aber sie hatte es geschafft. Augen zu und durch.

Als sie wieder unten war, dachte sie an Helmut, der eine zweitägige Klettertour gebucht hatte, natürlich ohne sie. Sie stieg in den Volvo, den er ihr gelassen hatte und fuhr zum Internat. Das ehemalige Kloster lag majestätisch inmitten einer sonnenbeschienenen grünen Fläche. Als sie ein paar zaghafte Schritte auf das Internat zu machte, sprach sie ein Mann an, nein, eher ein Herr. „Suchen Sie etwas?“, fragte er. Clara drehte sich um und sah in das Gesicht von Ulli. Er hatte sich nicht verändert, älter ja, ein paar Falten, graue Haare, aber es war Ulli.

Auch in ihm schien die Erinnerung etwas gefunden zu haben. „Kennen wir uns? Clara? Du bist doch Clara! Komm her, Mädel, ich habe es immer gewusst.“ Und mit diesen Worten schlang er seine Arme um sie und zerquetschte sie fast.

„Weißt Du, dass ich Dich jahrelang gesucht habe? Ihr ward plötzlich völlig wie vom Erdboden verschwunden.“

*****

Bei einem Verlängerten und einem Obers gespritzt tauchten sie ein in ihre Jugend und das danach. Ulli war tatsächlich in Österreich geblieben, der Mentalität wegen. Er gehörte zum Lehrkörper des Privatgymnasiums und unterrichtete Informatik und Spanisch sowie Italienisch als Wahlpflichtgegenstand.

Gegen Abend verabschiedeten sich beide und Clara fuhr singend in ihr Hotel zurück.

*****

Um die Weihnachtszeit kamen nicht nur Jann, sondern auch Tochter Saskia mit ihrer Familie vorbei. Das war jedes Mal eine besonders schöne Zeit mit den Kindern und den Enkeln Jonas, Maya und Mia.

Während der letzten Wochen waren Claras Gedanken oft abgeschweift, hin zu Ulli nach Österreich. Er hatte nie geheiratet, und gut sah er aus, mit seinem dichten grauen Haar und der runden Brille. Genau so eine hatte er schon damals getragen. „Wie Harry Potter“, lachte sie in sich hinein.

Die Weihnachtspost sortierte diesmal Jann, und er war es auch, der Clara den Brief brachte, den Brief von Ulli. Sie öffnete ihn mit etwas zittrigen Fingern und las:

Liebste Clara,

lange Jahre habe ich Dich gesucht und nicht gefunden. Und nun, wo ich die Suche aufgegeben hatte, stehst du plötzlich vor mir, schön wie immer. Gerne würde ich den Rest meines Lebens mit Dir verbringen, hier in Österreich, oder auch in Deutschland, wenn Du es so möchtest. Meine Eltern sind vor über drei Jahren bei einem Auto-Unfall ums Leben gekommen. Mein Erbe lässt mich auch zu zweit sehr gut über die Runden kommen, den Internats-Job brauche ich dazu nicht. Bitte überlege es Dir. Ich habe mich so gefreut, Dich wieder zu sehen.

Ulli

Während des Lesens kullerte eine Träne über Claras Wange. Ihr Blick klebte förmlich an den Zeilen, dann aber , mit einem heftigen Ruck, zerriss sie den Brief und ging in die Küche, um Tee zu kochen, Tee für ihren Mann, für Jann, für Saskia und die Enkel Jonas, Maya und Mia.

Als sie den Tee servierte, schaute sie liebevoll auf Helmut. Er war es wert, zu bleiben. Sie bereute ihren Entschluss nicht. Aber das kleine Bildchen von Ulli und ihr, das von 1971, das wollte sie behalten.

Die dreizehn Fenster

Подняться наверх