Читать книгу Du darfst nicht sterben - Andrea Nagele - Страница 13
LILI
ОглавлениеIch sitze am Rand des Schwimmbeckens und lasse meine Füße ins Wasser baumeln. Es dauert einige Zeit, bis ich ihn bemerke. Während er schwimmt, ist sein Gesicht von mir abgewandt. Sein Rücken hebt und senkt sich in einem schnellen Rhythmus. Ein wenig erinnert er mich an einen Delphin, der über die Wellen springt. Dann dreht er sich um und liegt einen Moment lang bewegungslos auf dem Wasser. Sein nasses Haar schimmert rot, und auch über seinem Gesicht liegt ein bronzener Schatten. Trotz des Bartes gefällt er mir. Er sieht verdammt gut aus.
Obwohl ich mich für meinen Körper nicht genieren muss, ziehe ich meine Beine hoch und lege die Arme fest um die Knie. Aber er scheint mich ohnehin nicht wahrzunehmen.
Wieder dreht er sich, taucht kurz unter und durchquert dann mit kräftigen Zügen das Becken. Das Wasser perlt auf seiner leicht gebräunten Haut wie Champagnerbläschen.
Es befinden sich noch weitere Hotelgäste im Pool, er aber beachtet niemanden, verhält sich, als wäre er allein. Die anderen scheinen die natürliche Autorität, die er ausstrahlt, zu akzeptieren und machen einen Bogen um ihn. Es ist, als gehöre das große Hotelbecken ihm ganz allein.
Hinter der breiten Glasfläche liegt wie das Bild einer Ansichtskarte die Winterlandschaft. Das Weiß strahlt atemberaubend. Abermillionen von Eiskristallen im frisch gefallenen Schnee fangen die Sonnenstrahlen ein und glitzern wie Diamanten.
Wäre da nicht der interessante Mann im Becken, ich könnte mich von dem Anblick der Natur nicht lösen. So pendelt mein Blick zwischen dem Winterwunder und dem Schwimmer hin und her.
Ich glätte mein nasses Haar, drehe es zu einem Dutt und verknote die langen Strähnen am Hinterkopf. Das Handtuch, auf dem ich sitze, ist inzwischen triefnass, und mir wird kalt. Ich sollte los. So anfällig, wie ich seit jeher für Verkühlungen bin, hole ich mir sonst eine Blasenentzündung. Dennoch stehe ich nur widerwillig auf, falte langsam das Badetuch und steuere die Umkleidekabine an.
Ob er mich wohl bemerkt hat?
Neugierig schaue ich über die Schulter und begegne seinem trägen Blick unter halb gesenkten, dichten Wimpern. Seine Augen sind tiefbraun.
Schnell sehe ich weg.
In der Kabine schäle ich mich aus meinem feuchten Bikini. Auf Armen und Beinen hat sich bereits Gänsehaut gebildet. Nackt stehe ich vor dem Spiegel und mustere mich kritisch. Ich bin mittelgroß, schlank, fast schon mager, aber meine Rundungen sind an den richtigen Stellen. Trotzdem verhülle ich mich gern. Meine Pullis sind meistens eine Nummer zu groß, T-Shirts und Jeans gehören zu meinen Standard-Outfits. So fühle ich mich am wohlsten.
Warum das so ist, kann ich nicht genau sagen. Oder vielleicht doch.
»Anne ist der strahlende Stern, neben dem Lili als Sternschnuppe verglüht.« Eine Freundin meiner Zwillingsschwester hatte diesen Vergleich während unserer Schulzeit gezogen und mich damit unweigerlich auf den Platz der ewigen Zweiten verbannt. Selbst jetzt, mit Anfang dreißig, wirkt er noch nach, und ich stehe in Annes Schatten.
Meine geröteten Wangen heben sich von meinem blassen Gesicht ab. Sie haben heute jedoch weniger mit meinem mangelnden Selbstwertgefühl zu tun als mit der Tatsache, dass mir seit Längerem mal wieder jemand gefällt. Erneut spüre ich dieses aufgeregte Flattern in meinem Bauch.
Ist der Blick vorhin nicht ein Flirt-Signal gewesen?
Anne könnte so etwas instinktiv richtig einschätzen, wo zum Teufel steckt sie überhaupt die ganze Zeit? Seit wir vor vier Tagen in dem luxuriösen Sporthotel in den Bergen angekommen sind, habe ich sie kaum gesehen. Im Unterschied zu mir ist sie eine begeisterte Skifahrerin, ich hingegen genieße es, Zeit für mich zu haben, im Liegenstuhl zu faulenzen und die Sonne auf meinem Gesicht zu spüren oder, wie heute, ausgiebig zu schwimmen. So weit, so gut. Seit meine Schwester ihre Zeit aber zunehmend mit ihren neuen Pisten-Bekanntschaften statt mit mir verbringt, verschlechtert sich meine Laune.
Typisch Anne, zuerst überredet sie mich zu einem gemeinsamen Urlaub, und dann lässt sie mich sitzen.
So ist meine Schwester, so war sie schon immer. Und obwohl ich es besser weiß, bin ich ihrer Einladung auch diesmal gefolgt.