Читать книгу Du darfst nicht sterben - Andrea Nagele - Страница 21
LILI
ОглавлениеDie Zeit zieht wie ein Wintermärchen an mir vorbei.
Oft holt Paul mich nach der Arbeit von der Bibliothek ab, und wir gehen essen oder ins Kino, und er ist auch weiterhin für Überraschungen gut. Daher überlege ich mir vor dem Schlafengehen genau, was ich am nächsten Morgen anziehe. Aufdonnern muss ich mich bei ihm nicht, es gefällt ihm, wenn ich mich leger kleide und ein wenig mädchenhaft.
Generell ist er ein Meister der Komplimente. Klar weiß ich, dass er mir schmeicheln will, dennoch höre ich sie für mein Leben gern. Keiner meiner bisherigen Freunde hat so mit mir gesprochen. Ihm fallen lauter Kleinigkeiten auf, die ihn an mir begeistern. Vor einigen Tagen hat er ein Muttermal an meinem Hals entdeckt, das ihn entzückt, und er kann nicht aufhören, seine Finger durch mein Haar gleiten zu lassen.
»Wie feinste chinesische Seide«, sagt er und sieht mich in einer Weise an, die mich glücklich macht.
Anne darf ich nichts davon erzählen, sie würde schallend lachen oder eine böse Bemerkung machen. Aus irgendeinem Grund scheint sie Paul zu hassen.
Unsere Gespräche sind ohnehin selten geworden. Noch seltener kommt es zu einem Treffen. Und wenn, dann klammern wir Paul weitgehend aus unserer Unterhaltung aus.
Julia ist da ganz anders. In erster Linie ist sie daran interessiert, zu erfahren, wie weit wir schon miteinander sind. Und das ist eine berechtigte Frage, denn die Antwort darauf kenne ich selbst nicht so genau. Sind wir ein Paar? Haben wir eine Beziehung? Ist es etwas Ernsthaftes? Wir küssen uns, halten Händchen, und im Kino kuschle ich mich eng an ihn. Ein wenig fühlt es sich an wie damals als Teenager. Langsam nur werden unsere Schmusereien stürmischer, und im Kopf male ich mir unser erstes Mal aus. Ich stelle es mir verträumt und romantisch vor, mit vielen Kerzen ums Bett herum und einer Flasche gutem Wein. Wenn dann auch noch Schneeflocken vom Himmel rieselten, vorzugsweise außerhalb unseres Zimmers, wäre das Bild perfekt.
Dabei hat Paul meine Wohnung noch kein einziges Mal betreten. Natürlich brenne ich darauf zu hören, wie sie ihm gefällt, ob er meinen Geschmack teilt. Sicherheitshalber ist mein Zuhause zurzeit außergewöhnlich sauber und aufgeräumt, denn es kann jederzeit so weit sein.
Als ich Julia davon erzähle, lacht sie.
»Rein auf Verdacht die Bude aufräumen? Das gibt es bei mir nicht. Ist ja paranoid.«
Aber sie hat leicht reden. Nach ihrer letzten Beziehung ist sie schon einige Zeit Single, und Carl, der Typ, für den sie momentan schwärmt, macht keine Anstalten, sich ihr zu nähern. Praktisch, aber unspektakulär arbeitet er als Teilzeitkraft in der Bibliothek.
Doch zurück zu Paul. Meine Gedanken kreisen ständig um ihn. Häufig ertappe ich mich dabei, wie ich einfach nur so in mich hineingrinse.
Hin und wieder muss er länger arbeiten, dann hole ich ihn in dem eleganten Autosalon, in dem er Geschäftsführer ist, ab. Immer wieder erstaunt mich die Zärtlichkeit, mit der seine Hände über den Lack der ausgestellten Modelle streichen. Und er mag es, wenn seine Kollegen mich anerkennend mustern.
Mein Leben ist wunderbar, es könnte nicht besser sein.
Anhaltendes Klingeln dringt in mein Bewusstsein.
Ein Blick auf mein Smartphone verrät mir, dass es knapp vor Mitternacht ist.
Desorientiert springe ich auf und stolpere über den Krimi, den ich vor dem Einschlafen gelesen habe. Kurz klammere ich mich an den Rahmen des Türstocks, versuche mein jagendes Herz zu beruhigen, dann taste ich mich weiter. Das Klingeln, für einen Moment verstummt, setzt wieder ein, heftiger noch als zuvor.
Hatte Anne einen Unfall? Ist unseren Eltern etwas passiert?
Mit vom Schlaf heiserer Stimme frage ich in die Gegensprechanlage: »Wer ist da?«
»Jetzt mach schon auf. Ich erfriere hier draußen.«
Das ist Paul. Mein Herz, kaum dass es sich beruhigt hat, beginnt wieder wild zu pochen.
»Paul! Ist etwas geschehen?« Meine Stimme klingt dünn.
»Erkläre ich dir, wenn ich oben bin. Beeil dich, mein Schatz.«
Ich drücke auf den Summer, drehe den Schlüssel und pralle zurück, so heftig drückt er von außen gegen das Holz. Sein Haar ist feucht, und im Bart glitzern Eiskristalle. Er riecht nach Winter.
Wild presst er mich an sich. Er steckt in einer groben Jacke, deren harte Knöpfe gegen meine Brust drücken.
»Interessante Aufmachung.« Grinsend hält er mich ein Stück von sich weg. »Hast du dich, seit wir uns zuletzt gesehen haben, in eine Ente verwandelt?«
Spielerisch wandern die Spitzen seines Zeige- und Mittelfingers über die rote Minnie-Mouse-Figur auf meinem Shirt, umkreisen meine Brustwarze, um danach zur anderen zu wandern. Ich spüre trotz eisiger Umarmung, wie mein Körper auf seine Berührungen reagiert. Sanft streichelt seine Hand mein zerzaustes Haar, versucht, die Strähnen zu glätten. Jetzt erst wird mir bewusst, wie ich aussehe. Die vom Schlaf zerknitterten Wangen, das Shirt, meine wilde Haarpracht und unter meinen Augen die verwischten Reste schwarzer Wimperntusche.
»Gib mir fünf Minuten«, bitte ich verlegen und gieße ihm in der Küche einen Scotch ein.
»Für mich bist du nahezu perfekt. Komm her.«
Er leert das Glas in einem Zug und sieht sich aufmerksam um.
»Paul, lass dir die Wohnung zeigen, du warst ja noch nie bei mir. Ich bin durcheinander, wenn man mich mitten im Träumen aufweckt. Dann stehe ich völlig neben mir«, brabble ich und lächle ihn dabei an.
»War’s wenigstens ein schöner Traum?« Wieder zieht er mich an sich. Mit einem heiseren Laut vergräbt er sein Gesicht in meinem Haar und murmelt Unverständliches in mein Ohr.
Sein Bart kratzt über meine Haut. Dann lässt er mich so plötzlich los, dass ich taumle. Mein Mund wird trocken. Unbeholfen taste ich nach den scharfkantigen Knöpfen seiner Jacke. Er schält sich aus dem rauen Stoff. Wie nebenbei wandert seine Hand unter mein Shirt.
»Du hast kein Höschen an, schlimmes Mädchen.«
Ich mache mich los, ziehe ihn hinter mir her ins Schlafzimmer.
Was, wenn er mich nicht will? Was, wenn das bloß ein Spiel ist?
Gemeinsam fallen wir auf mein Bett. Dann ist Paul über mir, immer noch bekleidet, und ich bewege mich unter ihm.
Unentwegt flüstert er meinen Namen und streicht dabei mit gleichmäßigen Bewegungen über meine Haut, bis ich es kaum mehr aushalte. Ungestüm greift er in mein Haar und zieht mich heftig an sich. Sein Kuss gleicht einem Biss, und ich schmecke Blut. Als seine Zunge die Konturen meiner Lippen nachfährt, schmelze ich und vergesse den kurzen Schmerz. Mein Gesicht versinkt in der Wolle seines Pullovers.
Müde liegen wir nebeneinander. Mein nackter Körper glänzt vor Schweiß. Schwach fällt das Mondlicht durch das geöffnete Fenster.
Jetzt erst bemerke ich, wie kühl es im Zimmer geworden ist. Zitternd schmiege ich mich an Paul, der immer noch mit Pulli und Jeans bekleidet ist. Schwer atmend legt er seine Hand auf meinen Po und fährt spielerisch mit den Fingern meine Wirbelsäule entlang. Ich hülle mich in die Daunendecke und schlinge ein Bein um Pauls Hüfte. Sein Arm greift über mich, findet sofort, als wäre er schon viele Male hier gewesen, meine Nachttischlampe und knipst sie an.
Von jäher Helligkeit geblendet, schließe ich die Augen. »Bitte lösche das Licht.«
Angenehme Dunkelheit umfängt mich. Die wohlige Entspannung kehrt zurück.
»Und? Hat es sich ausgezahlt, gewartet zu haben?« Ich lächle Paul schläfrig an.
»Das musst du selbst beurteilen.«
»Für mich schon. Und für dich?« Ich richte mich ein wenig auf, lehne am Kissen.
Paul hebt den Kopf, sodass das Mondlicht sein Gesicht umrahmt. Er sieht mich mit einem rätselhaften Ausdruck an. »Vielleicht ist das hier doch ein klein wenig zu schnell gegangen.«
Es ist, als hätte er mir einen Schlag versetzt. Ich drehe mich weg.
Er packt mich grob an den Schultern. »Wenn du fragst, musst du auch die Antwort aushalten.«
Mir ist flau im Magen. Das schöne Gefühl von vorhin hat sich in Luft aufgelöst.
»Ich möchte verstehen«, sage ich.
»Lili, wenn du beinahe sofort mit jemandem ins Bett steigst, bist du für alle leicht zu haben. Das wirkt auf mich so, als wäre ich nur einer von vielen.«
Empört ziehe ich die Luft ein. »Aber du warst es doch, der um Mitternacht vor meiner Tür stand und Sturm geläutet hat.«
»Das eine hat mit dem anderen nichts zu tun. Hältst du mir jetzt auch noch vor, dass ich dich unbedingt sehen wollte?«
Ich fühle mich, als hätte sich eine Kluft zwischen uns aufgetan. Es dauert lange, bis ich neben ihm einschlafe, und meine Träume sind unruhig.
Als ich am nächsten Morgen aufwache, hält Paul mich so fest umschlungen, dass mir das Atmen schwerfällt, im Schlafzimmer herrschen arktische Temperaturen.
Vorsichtig schäle ich mich aus seinen Armen und verschwinde im Bad. Nach einer sehr heißen Dusche fühle ich mich gewappnet, dem Tag zu begegnen.
Aus dem Bestand meines Kühlschranks bereite ich uns ein Frühstück. Getoastete Roggenbrötchen, Butter, Honig, Marmelade, ein Stück Käse und Eier auf Speck.
Unruhig setze ich mich und warte. Als Paul schließlich auftaucht, gieße ich Kaffee in die Tassen.
»Warst du im Supermarkt?«, fragt er.
»Nicht nötig. Ich kann zaubern.«
»Das sehe ich.« Er isst gierig, greift dann aber nach meiner Hand. »Sei mir nicht böse wegen gestern. Ich weiß selbst nicht, was manchmal in mich fährt, doch ich kann die Vorstellung nicht ertragen, dass du vor mir schon andere Männer hattest.«
»Paul«, wehre ich ab, lasse seine Hand dabei aber nicht los, »du tust gerade so, als wären es unendlich viele gewesen. Ich kann dich beruhigen. Außer Harry hatte ich nur zwei kurze Affären.«
Paul zieht seine Hand so heftig zurück, dass der Kaffee in meinem Becher hochschwappt. »Harry. Der hat mit dir hier gewohnt?«
»Nein. Ich war bei ihm. Erst nach der Trennung habe ich diese Wohnung gefunden.«
So schnell sein Zorn hochloderte, so schnell ist er wieder verschwunden. Er steht auf, beugt sich zu mir und küsst meine Stirn. »Willst du meine Antwort immer noch hören?«
Einen Moment lang überlege ich, was er meint.
»Ja, es hat sich ausgezahlt, gewartet zu haben«, sagt er ernst.
Wenn Paul für Überraschungen gut ist, dann bin ich es auch. Ich hatte eine Idee, sie flog mir quasi zu, als ich Neuerscheinungen in die Regalreihen der Bibliothek sortierte.
Julia hat ihren freien Tag, und die Halbtagskraft, in die sich Julia verguckt hat, arbeitet mit mir.
Carl ist ein richtiger Nerd. Wenn man ihn fragt, wo etwas abgelegt ist oder wer diesen oder jenen Roman geschrieben hat, verhält er sich wie ein wandelndes Lexikon. Der Computer ist lediglich sein kleiner Assistent, der bestenfalls von ihm lernen darf. Vielleicht ist es das, was Julia so anziehend an ihm findet. Ich kann das bestens nachvollziehen. Paul ist ebenfalls klug, er verfügt über eine Allgemeinbildung, wie sie mir bisher kaum untergekommen ist. Mir scheint, dass er seinen bestens gefüllten Denkspeicher nur kurz streifen muss, und schon spuckt er die abenteuerlichsten Dinge aus.
»Jahrelanges Training«, erklärte er mir einmal augenzwinkernd und fügte etwas zweideutig hinzu: »Ich für meinen Teil beneide dich um deine impulsive Naivität.«
»Willst du das Buch klauen?«
Carl steht neben mir. Jetzt erst wird mir bewusst, dass ich einen der neuen Romane schon minutenlang in den Händen halte und bewegungslos aus dem Fenster sehe. Ich lache und enthalte mich eines Kommentars, denn eben ist mir diese famose Idee gekommen.
Draußen fällt Schnee und lässt den Himmel hellgrau auf die Stadt sinken. Die Bäume sind mit einer dicken weißen Schicht bedeckt. Bald schon wird es wärmer werden und dieser Schnee schmelzen.
Also wenn nicht jetzt, wann dann?
»Paul«, spreche ich kurz darauf ins Handy, »ich wünsche mir vom Herzen, mit dir am Wochenende für einen Tag auf den Berg zu fahren, dorthin, wo wir uns kennengelernt haben. Wir könnten im Hotel essen und einen Winterspaziergang machen. Was meinst du?«
»Grandiose Idee. Wann soll es losgehen?«
»Samstag um neun Uhr in der Früh. Holst du mich ab?«
»Nichts lieber als das.«
Die Vorfreude lässt mich strahlen. Ich tätige noch einen weiteren Anruf und kann es danach kaum erwarten, dass endlich Samstag wird. Den Freitag verbringe ich mit Arbeit und den notwendigen Einkäufen.
In der Nacht schlafe ich kaum, ich frage mich, ob mein Plan klug ist, ob mein Vorhaben scheitern könnte.
Bereits eine Stunde, bevor der Wecker klingelt, sitze ich geduscht, geschminkt und winterlich gekleidet am Küchentisch und warte. Als es endlich läutet, schrecke ich hoch und muss mich zwingen, die Tür nicht aufzureißen.
»Es wird allmählich Zeit, dass ich einen Schlüssel zu deiner Wohnung bekomme.« Mein eigenes Abbild steht vor mir und grinst mich erwartungsvoll an. »Normalerweise«, fährt Anne fort, »kann ich so spontan nicht disponieren. Aber diesmal bin ich erst für Montag wieder gebucht. Du hattest also Glück.«
Ich bitte meine Zwillingsschwester in die Küche und schenke Kaffee ein, so wie sie ihn mag, ungesüßt und ohne Milch.
»Frage jetzt nicht«, bitte ich sie, »und warte kurz in meinem Schlafzimmer, bis ich dich hole.«
Sie sieht mich erstaunt an, öffnet den Mund, fügt sich dann aber doch ohne ein weiteres Wort.
Keine zehn Minuten später befreie ich sie.
Anne marschiert erwartungsvoll in die Küche – und prallt zurück. »Du?«
Auch Paul, der inzwischen die Wohnung betreten hat, wirkt alles andere als begeistert. »Welch gelungener Reinfall«, kalauert er zornig. »Zwei auf einen Streich.«
Böse mustert er meine Schwester. Die fixiert stur die Spitzen ihrer Fellstiefel, dann sieht sie hoch.
Ihre Stimme klingt hart. »Ein Ausflug zu dritt? Das kann nicht dein Ernst sein, Lili.«
Nun, ich bin ja selbst davon ausgegangen, dass die beiden nicht begeistert sein werden, aber dass sie so heftig reagieren, hätte ich nicht gedacht, immerhin haben sie sich damals auf dem Berg ganz gut verstanden. Ich will erklären, dass es an der Zeit ist, das Eis zwischen ihnen zum Schmelzen zu bringen, doch ehe ich antworten kann, nimmt Paul meine Hand. Ich könnte ihn dafür umarmen.
Er schaut meine Schwester spöttisch an. »Warum nicht? Wenn ich genauer darüber nachdenke, ist Lilis Idee vortrefflich. Findest du nicht auch? Was bringt es, Krieg zu führen, wenn man ihn nicht gewinnen kann?«
»Danke, Paul.« Ich küsse ihn und bewundere dabei seine blitzenden Augen.
Anne aber zieht die Luft scharf in ihre Lungen, und ich erwarte heftige Flüche.
Ich weiß genau, was sie antreibt. Das erste Mal ist es so, dass nicht sie, sondern ich das große Los ziehe, und das kann sie mir nur schwer verzeihen. Dennoch sieht sie mich auf eine Art an, die mich irritiert. Zorn kann ich in ihrem Gesicht erkennen, eine Form von unterdrückter Wut, die ich an ihr bisher nicht kannte, und noch etwas. Ist es Mitleid?
Endlich gibt sie sich einen Ruck. »Dir zuliebe, Lili, nur dir zuliebe fahre ich mit. Aber verschone mich in Zukunft mit solchen Überraschungen«, knurrt sie zwischen zusammengepressten Lippen hervor und würdigt Paul dabei keines Blickes.
Kurz schließe ich die Augen vor Dankbarkeit und versichere mir, dass alles gut werden wird.
Wider Erwarten verbringen wir einen schönen Tag. Wir streifen durch den Wald, stapfen über verschneite Wiesen und beschließen schlussendlich, essen zu gehen.
Anne und ich unterhalten uns angeregt, und manchmal erzählt Paul eine Geschichte von seiner Arbeit. Das Gespräch miteinander vermeiden die beiden, nur einmal, als ich von der Toilette zurückkomme, habe ich den Eindruck, in einen wüsten Disput zu platzen. Kaum nehmen sie mich wahr, versiegen die Stimmen.
»Was ist denn los?« Verunsichert schaue ich von einem zum anderen.
Paul steht höflich auf und rückt meinen Stuhl zurecht. Sanft streift seine Hand über mein Haar. »Deine Schwester befürchtet, ich wäre nicht gut genug für dich.«
»Blödsinn«, fahre ich Anne an. »Paul ist das Beste, was mir je passiert ist. Finde dich damit ab.«
Wieder presst Anne die Lippen zusammen, wieder sehe ich in ihren Augen Wut lodern. Und Paul? Er küsst mich liebevoll auf die Wange.
Mit sichtlicher Anstrengung wendet meine Schwester sich ab. »Wir sollten los, bevor die Straßen zu eisig werden«, zischt sie.
Wie auf der Hinfahrt sitze ich im Auto vorne neben Paul. Auf dem Rücksitz hat Anne es sich gemütlich gemacht. Im Moment scheint sie zufrieden zu sein, denn sie plaudert angeregt mit mir, als hätte es die Spannungen vorhin überhaupt nicht gegeben. Auch Paul wirkt gelöst, er zwinkert mir mehr als einmal zu und drückt meine Hand.
Ohne erkennbare Pausen zwitschert meine Schwester vor sich hin, ich habe längst auf Durchzug gestellt. Meine Gedanken kreisen angenehm um die Ereignisse der letzten Wochen. Was für eine wundervolle Zeit, was für ein großes Glück, Paul getroffen zu haben. Glücklich schließe ich die Augen.
Als ich sie wieder aufschlage, hat sich die Stimmung im Wagen grundlegend geändert.
Vor mir glitzert die schneebedeckte Straße in der kalten Spätnachmittagssonne. An den Rändern hat sich der Schnee zu weißen Wällen getürmt, die uns von der Tiefe trennen.
Und Paul fährt für meinen Geschmack viel zu schnell.
»Kann man deine Schwester auch abstellen? Oder wenigstens die Lautstärke regeln?«
Sein Ton ist genervt, in seinen dunklen Augen blitzt Zorn.
Aber Anne, einmal in Fahrt gekommen, quasselt weiter. Es passt ihr ganz und gar nicht, gemaßregelt zu werden.
»Paul, nicht so schnell!«, schreit sie plötzlich und beugt sich zwischen den Sitzen nach vorne. »Du fährst uns noch in den Abgrund.«
»Immer mit der Ruhe, kleine Lady. Ich passe schon auf, dass nichts passiert. Seit Kurzem steht eine von euch unter meinem persönlichen Schutz.« Er lacht und blinzelt in meine Richtung, aber statt das Tempo zu drosseln, legt er noch einen Zahn zu.
Ich entschließe mich, den Mund zu halten, dabei hat Anne ja recht.
Als könnte er meine Gedanken lesen, wendet sich Paul mir zu und lächelt verwegen. »Wollen wir deiner Schwester ein kleines Zusatzprogramm bieten, damit sie tatsächlich etwas zum Meckern hat?« Sein Grinsen wird breiter, doch ich bemerke, dass es seine Augen nicht mehr erreicht. Wie Murmeln aus braunem Glas liegen sie in ihren Höhlen.
»Pass auf«, flüstere ich, »und schau auf die Straße.« Doch Paul sieht weiter zu mir.
Er reißt am Lenkrad. Kreischend drehen die Räder auf dem eisigen Schnee durch. Anne und ich schreien auf. Wieder verdreht Paul das Steuer, diesmal in die entgegengesetzte Richtung, und bringt den Wagen zum Schleudern. Entsetzt sehe ich die aufgeblendeten Lichter eines größeren Autos auf uns zukommen.
»Vorsicht!« Ich bedecke mein Gesicht mit den Händen, als könnte ich damit Schlimmeres verhindern. »Der rammt uns gleich frontal!«
Dann sind da nur noch das Quietschen von Reifen und Annes Schreie. Ein heftiger Ruck, und wir donnern gegen die seitliche Mauer aus grellem Weiß. Die Motorhaube bohrt sich ein Stück weit in die Schneewand hinein, und einen Moment lang sehe ich deutlich, wie wir sie durchstoßen und in den Abgrund stürzen.
Endlich kommt der Wagen zum Stehen, die eintretende Stille ist ohrenbetäubend. Von vorne läuft der Fahrer eines Range Rovers auf uns zu und klopft sich mit der Hand heftig gegen die Stirn. Außer sich vor Wut reißt er die Fahrertür auf. »Ich sollte Sie anzeigen. Um ein Haar wären wir alle die Felsen hinuntergestürzt. Sind Sie nicht ganz bei Trost, Sie Narr?«
Als er Annes und mein leichenblasses Gesicht sieht, beruhigt er sich etwas und geht kopfschüttelnd weg.
Ich werfe Paul einen vorsichtigen Blick zu. Er grinst noch immer. Erst als er merkt, dass ich ihn beobachte, neigt er leicht seinen Kopf. »Tut mir leid, der Wagen ist ins Schleudern geraten«, sagt er, aber in seinem Tonfall liegt nicht der Hauch eines Bedauerns.
Den Rest der Fahrt verbringen wir schweigend. Zuerst liefern wir Anne ab, die grußlos das Auto verlässt und die Wagentür hinter sich zudonnert, dann fahren wir zu mir. Zu Hause nehme ich ein langes heißes Bad und brauche zusätzlich Pauls sanfte Rückenmassage, bis ich mich von dem Schock erhole.
»Ich dachte, es sei unser Ende.«
»Schatz, verzeih mir. Es lief ein klein wenig aus dem Ruder. Ich wollte doch nur deine vorlaute Schwester zum Schweigen bringen, und das ist mir, glaube ich, auch gelungen. Dass sich unser Verhältnis dadurch verbessert hat, wage ich jedoch zu bezweifeln, und das bedaure ich sehr.«
Sanft streichen seine Hände bei diesen Worten über meinen Rücken, und ich beschließe, mich in seinem Namen bei Anne zu entschuldigen.
Woher aber, überlege ich fast schon im Schlaf, wusste er eigentlich, wo Anne wohnt? Soweit ich es mitbekommen habe, hat er weder sie noch mich irgendwann nach ihrer Adresse gefragt.