Читать книгу Du darfst nicht sterben - Andrea Nagele - Страница 14
ANNE
ОглавлениеWährend der Nacht hat es geschneit, und es gibt nichts Herrlicheres, als durch die weiße Pracht zu schwingen. Meine Skier sind neu, ebenso Schuhe, Dress und Helm. So fit und gut drauf bin ich selten. Alles stimmt. In meinem Kopf wummert immer noch die Musik von gestern Abend.
Das Leben ist wunderbar.
Es war wohl die so ziemlich beste Idee seit Langem, hierherzufahren. Ich möchte mich nicht unbedingt als Leidtragende aufspielen, aber in erster Linie ging es mir dabei darum, meine Schwester aus ihrer Lethargie zu holen.
Lili.
Sie war und ist unser Sorgenkind – meines und das unserer Eltern. Sogar Julia, Lilis Arbeitskollegin und Freundin, macht sich so ihre Gedanken. Manchmal ruft die Gute mich an, labert mich voll und bittet dann um Diskretion. Pikanterie am Rande, ich bin eine mitfühlende Schwester, also halte ich mich an ihre Bitte und schweige.
Lili führt das Leben einer Greisin, und das ohne sichtbaren Anlass. Weder ist sie krank, noch hatte sie einen Unfall, und dass sie immer noch unter Omas Tod leidet, okay, sie stand ihr näher als ich, doch es kann nicht ewig als Ausrede für ihre Bequemlichkeit herhalten. Und warum um Himmels willen verunstaltet sie sich wie eine Mumie?
Nun, denke ich und schwinge einen beachtlichen Bogen, Mumie ist nicht das richtige Wort, denn Mumien sind gewickelt und geschnürt. Lili hingegen ähnelt eher einem dieser unglücklichen Kinder, die bei Schulfesten in einen kratzigen Kartoffelsack gehüllt um die Wette hüpfen, um sich gegenseitig vor die Füße zu plumpsen.
Mein Gott, was sind das für hässliche Vergleiche. Es ist doch Sorge, die mich umtreibt, nicht Gemeinheit.
Ich liebe meine Schwester.
Auf diesen Kurzurlaub habe ich sie eingeladen, um sie aus ihrem Alltagstrott zu reißen. Es ist nicht das erste Mal. Gut, ich verdiene mehr als sie, also macht es mir finanziell nichts aus, aber auch mit etwas weniger in der Tasche muss man sich nicht so gehen lassen, wie sie es tut. Was macht sie normalerweise anderes, als zu lange zu schlafen und sich weder zu schminken oder die Haare zu richten, um dann, angetan mit eigenartigem Gewand, um einiges zu spät und wie ein junger Hund hechelnd in ihrer Arbeitsstelle aufzutauchen?
Gleichgültigkeit, so nenne ich das.
In der verstaubten Bibliothek wird sie schließlich sehnlichst von Julia, der zweiten verpeilten Seele erwartet, um sich mit ihr bei Kräutertee über die Ereignislosigkeit ihrer beider Dasein zu unterhalten. Nach dieser Schwerstarbeit und dem notwendigen Kauf eines bestenfalls biologischen Fertiggerichts geht es zurück ins traute Heim, auf die Couch, vor den Fernsehapparat.
Wann meine Schwester zum letzten Mal aus war, ein Date hatte, ich kann es nicht sagen. Und das liegt nicht etwa an Lilis Verschwiegenheit, ich konnte immer wie in einem offenen Buch in ihr lesen, sondern an der ernüchternden Tatsache, dass sie kein Interesse an einer Beziehung hat.
Da läuft es bei mir anders.
Selbst hier im Berghotel genieße ich das Angebot in vollen Zügen, gehe in die Disco und verbringe den ganzen Tag auf der Piste. Gerade mal zwei gemeinsame Essen haben meine Schwester und ich bisher geschafft. Allein bin ich dennoch nie. Bereits am ersten Abend habe ich ein Mädchen aus Schweden kennengelernt, das mit seiner Clique schon einige Male in diesem Hotel war.
Mir fällt es nicht schwer, Kontakte zu knüpfen, im Gegenteil, es macht mir Spaß. Und ehrlich, es dauert nie lange, bis ich im Mittelpunkt stehe. Auch wäre es gelogen, zu behaupten, dass mich das stört.
So früh wie heute ist in der Schlange, die sich vor dem Lift gebildet hat, von meinen neuen Freunden noch keiner zu sehen, sie werden wohl noch ihren Kater im Bett pflegen. Mir kann Alkohol nichts anhaben, erstens trinke ich wenig, und zweitens vertrage ich viel.
Mit einem Ruck hake ich mich im Schlepper ein und lasse mich den Hügel hinaufziehen. Die wunderschönen, frisch überzuckerten Wiesen rechts und links von mir erinnern mich an die weiß gepuderten Adventskalender meiner Schwester. Ich bevorzugte die weniger kitschigen, dafür mit umso mehr Schokolade gefüllten Exemplare. Die Luft ist kalt, und der Wind treibt Tränen in meine Augen.
Wenn Lili aufsteht, bin ich den Hang schon mindestens zweimal hinabgefahren. Ich frage sie jedes Mal, ob sie mitwill, zumindest auf einen Spaziergang im Schnee, aber sie lehnt immer ab.
Noch hat die Sonne kaum Kraft, doch sie bringt den Schnee zum Glänzen. Nur wenige Leute sind schon auf der Piste.
Ein Schrei reißt mich aus meinen Gedanken.
»Anne!«
Eine Gestalt rast mit einem zum Gruß erhobenen Skistock an mir vorbei.
Paul.
Mir wird heiß unter dem Anorak.
Vorgestern Abend warf ich mich in unserem Hotelzimmer in Schale. Enge Jeans mit Strasssteinchen, dekolletierte Samtbluse, zarte Stiefeletten. Das volle Programm.
Lili beobachtete mich, die Hand in die Hüfte gestemmt. »Wozu der Aufwand?«, fragte sie.
»Man weiß nie, ob einem in der Einöde nicht ein Berggeist begegnet«, antwortete ich neckend.
Der Piccolo aus der Minibar brachte beim Aufbrezeln meinen Kreislauf in Schwung und vermittelte mir die notwendige Portion Vorfreude auf den Abend mit der schwedischen Truppe.
»Komm doch mit. Ich verspreche dir, es wird lustig.«
»Lustig ist nicht so meines«, entgegnete meine Schwester.
Alles wie gehabt.
Auch die Schwedin hatte sich herausgeputzt, und zusammen waren wir, wie ihre Freunde uns versicherten, der Hit. Wir verbrachten die meiste Zeit auf der Tanzfläche.
Ich war schon ein wenig beschwipst, als ich mit einem Mal in ein paar dunkelbraune Augen sah. Ein großer, breit gebauter Kerl lehnte an der Bar und musterte mich von Kopf bis Fuß. An meinem Dekolleté blieb sein Blick hängen.
Meine neue Freundin zog mich weiter, und ich verlor ihn in der Menge. Schade. Aber auf einmal stand er wieder vor mir, und wie auf ein geheimes Kommando kam ein langsamer Song. Wir schmiegten uns aneinander, und ich kann nur sagen, der Kerl roch gut. Seine Hand glitt meinen Rücken entlang und verharrte an der Stelle, an der die Samtbluse hochgerutscht war und seine Finger nackte Haut berührten.
»Schön, dich wiederzusehen«, flüsterte er in mein Ohr.
Ich sah ihn erstaunt an.
»Du bist heute Nachmittag vor mir im Lift den Hang hinaufgefahren.«
Jetzt musste ich lachen. »Du hast mich an meiner Rückseite wiedererkannt?«
»Das ist ja nicht schwer.« Er machte sich los und ließ mich zwischen den Tanzenden stehen.
Ich schaute ihm fassungslos hinterher. Mir war die Laune vergangen.
Gerade als ich gehen wollte, tauchte er wieder auf, in jeder Hand ein Glas mit schäumender Flüssigkeit.
»Dafür verrätst du mir deinen Namen.«
»Anne«, sagte ich und streifte mit den Lippen seine bärtige Wange.
Die Nacht wurde lang, und irgendwann lehnte ich an ihm. Sein Arm umfing mich, der Raum drehte sich ein wenig um mich, doch als sein Mund meinen fand, wurde ich mit einem Schlag wieder nüchtern. Ich wollte mehr als nur diesen einen Kuss.
»Komm, ich bringe dich auf dein Zimmer.« Seine Stimme klang samtig.
Hätte ich doch auf ein Einzelzimmer bestanden.
»Nein. Das schaffe ich schon allein«, wehrte ich ab.
»Nun gut. Man sieht sich demnächst.«
Vor dem Aufzug verabschiedete er sich mit einem Kuss auf meine Stirn, dann ging er.
Am nächsten Tag hielt ich auf der Piste vergeblich nach ihm Ausschau. Doch gestern Abend, ich traf mich erneut mit der Schwedin und ihren Freundinnen, wendete sich das Blatt zu meinen Gunsten. Ich stand an der Bar, als ich auf einmal spürte, dass ich beobachtet wurde. Paul winkte mir zu, und wir versuchten, uns über den Lärm der Musik hinweg zu verständigen. Er legte den Arm um mich, zog mich dicht an sich und flüsterte in mein Ohr.
»Anne«, hörte ich ihn sagen, »ich will Zeit mit dir verbringen, aber hier ist es zu laut.«
»Dann lass uns von hier verschwinden.« Ich machte einen Schritt weg von ihm und schaute in seine Augen.
»Morgen«, sagte er und nahm meine Hand.
Obwohl ich zuerst etwas verstimmt war, freue ich mich seither darauf, ihn zu wiederzusehen, und heute noch werde ich Lili von ihm erzählen. Auf ihr Gesicht bin ich neugierig, aber ich vermute, dass sie ohnehin davon ausgeht, dass ich inzwischen eine interessante männliche Urlaubsbekanntschaft gefunden habe.