Читать книгу Einführung in die Theorie der Bildung - Andreas Dörpinghaus - Страница 10
1.2 Sylvia Plath: Ich bin ich
ОглавлениеDie Fragen, wer man ist, wohin das Leben uns führt und welche Möglichkeiten der eigenen Gestaltung wir haben, stehen in der nachfolgenden Tagebuchaufzeichnung Sylvia Plaths im Vordergrund. Die siebzehnjährige Plath reflektiert über ihr Leben, über Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Im Schreiben möchte sie die Gegenwart und die sich ihr immer mehr entziehende, aber so kostbare Zeit festhalten. Sie blickt angesichts des Älterwerdens und der Entscheidungen, die von ihr erwartet werden, sorgenvoll nach vorne und schreibt am 13. November 1949:
„Ich kenne mich selber immer noch nicht. Vielleicht werde ich mich nie kennen. Aber ich fühle mich frei – keine Verantwortung bindet mich, ich kann immer noch hinauf in mein Zimmer gehen, es gehört mir allein – meine Zeichnungen hängen an den Wänden … Bilder sind über meine Kommode gepinnt. Das Zimmer paßt zu mir – maßgemacht, nicht vollgestopft und ruhig … Ich liebe die ruhigen Linien der Möbel, die Bücherschränke mit den Gedichtbänden und Märchenbüchern, aus der Kindheit geborgen.
Ich bin sehr glücklich im Moment, sitze am Schreibtisch und schaue hinüber zu den kahlen Bäumen rings um das Haus jenseits der Straße … Immer möchte ich Beobachter sein. Ich möchte, daß das Leben mich stark berührt, aber nie so blind macht, daß ich meinen Anteil am Dasein nicht mehr ironisch und humorvoll betrachten und mich über mich selber lustig machen kann, wie ich es über andere tue.
Ich habe Angst vor dem Älterwerden. Ich habe Angst vor dem Heiraten. Der Himmel bewahre mich davor, dreimal am Tag zu kochen – bewahre mich vor dem erbarmungslosen Käfig der Eintönigkeit und Routine. Ich möchte frei sein – frei, um Menschen kennenzulernen und ihre Geschichte – frei, um an verschiedenen Enden der Welt zu leben, und auf diese Weise die Erfahrung zu machen, daß es andere Sitten und Normen gibt als die meinen. Ich glaube, ich möchte allwissend sein … Ich glaube, ich würde mich gern ,das Mädchen, das Gott sein wollte nennen. Doch wäre ich nicht in diesem Körper, wo wäre ich dann – vielleicht bin ich dazu bestimmt, eingeordnet und abgestempelt zu werden? Nein, dagegen wehre ich mich. Ich bin ich – ich bin mächtig – aber in welchem Maße? Ich bin ich. Manchmal versuche ich, mich an die Stelle eines anderen zu versetzen und bin erschrocken, wenn ich merke, daß mir das fast gelingt. Wie fürchterlich, jemand anderes als ich zu sein. Mein Egoismus ist schrecklich. Ich liebe mein Fleisch, mein Gesicht, meine Glieder mit überwältigender Hingabe. Ich weiß, daß ich ,zu groß bin und eine zu dicke Nase habe, trotzdem putze ich mich auf, posiere vor dem Spiegel und finde mich von Tag zu Tag hübscher … Ich habe mir ein Bild von mir selbst geschaffen – idealistisch und schön. Ist nicht dieses Bild, frei von Makeln, das wahre Selbst – die wahre Vollendung? Ist es denn mein Fehler, wenn dieses Bild sich heimlich zwischen mich und den gnadenlosen Spiegel stellt? (Oh, eben überfliege ich, was ich gerade geschrieben habe – wie albern, wie übertrieben das klingt.)
Nie, nie, nie werde ich die Perfektion erreichen, nach der ich mich mit meiner ganzen Seele sehne – meine Bilder, meine Gedichte, meine Geschichten – alles jämmerliche, dürftige Reflexionen … denn meine Abhängigkeit von den Konventionen dieser Gesellschaft ist viel zu groß … meine Eitelkeit begehrt einen Luxus, der mir unerreichbar ist …
Mehr und mehr wird mir bewußt, welch eine gewaltige Rolle der Zufall in meinem Leben spielt … Es wird der Tag kommen, wo ich mich schließlich stellen muß. In diesem Augenblick graut es mir vor den wichtigen Entscheidungen, die auf mich zukommen – welches College? Was für ein Beruf? Ich habe Angst. Ich bin unsicher. Was ist das Beste für mich? Was will ich? Ich weiß es nicht. Ich liebe die Freiheit. Einengung und Beschränkung sind mir zuwider […] Oh, ich liebe das Jetzt, trotz aller meiner Ängste und Vorahnungen, denn jetzt bin ich noch nicht endgültig geformt. Mein Leben fängt erst noch an. Ich bin stark. Ich sehne mich nach einer Sache, der ich meine Kräfte widmen kann …“ (PLATH 1981, S. 42ff.)
Freiheit und Bestimmtheit
Die Ungewissheit ihres weiteren Lebensverlaufes ängstigt die Heranwachsende. Auf sie warten Entscheidungen, die sie festlegen, und Verantwortungen, die sie für diese Entscheidungen übernehmen muss. Sie will frei bleiben und sich nicht endgültig formen lassen. Ihre Wissbegierde und ihr Interesse sind ungestillt: Sie will die Vielfalt der Menschen und der Welt kennen lernen, auch sich selbst. Sie sucht zwischen ihrem Entwurf von sich und ihrer leiblich situierten Existenz nach ihrem Selbst. Gerade in dieser Suche erlebt sie das Gefühl der Freiheit, das Gefühl der Unbestimmtheit, die ironische Brechung des Verhältnisses zu sich. Durch ihren Körper ist sie bestimmt, sie ist eben nicht Gott. Aber diesen Körper hat sie nicht nur, sie ist dieser Körper, sie ist dieser Leib.
Am liebsten möchte sie den Augenblick festhalten, das ihr vertraute Jetzt. Doch sie weiß, dass das nicht geht. Sie wünscht sich, dass sie ihr Leben führen, dass sie sich eine Freiheit bewahren kann, die sich der letzten Bestimmtheit verwehrt. Ihre Sehnsucht nach Freiheit ist gepaart mit ihrer Angst vor gesellschaftlichen Konventionen.
Vergleicht man diese Haltung mit der Heranwachsenden aus Goethes „Wilhelm Meisters Lehrjahre“, so zeigt sich bei beiden jungen Frauen eine große Wissbegierde – in Goethes Worten ein Bildungstrieb. Dennoch wird auch der Unterschied sichtbar: Bei Goethe ist das Ziel von Bildung, dass die Heranwachsenden ihren gesellschaftlichen Ort finden und ihn tätig ausfüllen. Das Kochen, dort als durchaus gemäße Tätigkeit empfunden, wird bei Sylvia Plath zum „erbarmungslosen Käfig der Eintönigkeit“. Die Siebzehnjährige formuliert gerade die Sorge, an diesem Ort, in diesem „Käfig“ zu landen. Mit ihm ist die Gefahr verbunden, eingeordnet und abgestempelt zu sein. Das Leben verliert seinen „Bildungstrieb“, verliert die Leichtigkeit, die ironische Brechung und wird eintönig. Der Bildungstrieb von Plath erscheint als Wunsch nach Freiheit und nach selbstbestimmtem Leben.
Allerdings fragt sich die Tagebuchschreiberin auch, ob diese Freiheit bewahrt werden kann: In welchem Maße ist der Mensch mächtig? Bildung als eine „Formung“ des Menschen wird zu einer Festlegung des Menschen und zu einer Einschränkung seiner Möglichkeiten, wenn sich Bildung nicht zugleich auf die Bewahrung einer Offenheit des menschlichen Lebens und auf die ohnehin stets bedrohte Freiheit des Menschen ausrichtet. Dieser Offenheit und dieser Unbestimmtheit entspricht das Wagnis, sein Leben führen zu wollen. In einer Tagebuchaufzeichnung aus dem Jahre 1950 schreibt Sylvia Plath: „Warum kann ich nicht verschiedene Leben anprobieren wie Kleider, um zu sehen, was mir am besten steht und zu mir paßt?“