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3.2 Herwig Blankertz: Bildung in der Geschichte der Pädagogik
ОглавлениеWissenschaftlichkeit
Eine wissenschaftliche Thematisierung von Erziehung und Bildung, die über den gesellschaftlich konkreten Sprachgebrauch und den idealisierten Begriff „wahrer Bildung“ bei Paulsen hinausgeht, findet man am Schluss von Herwig Blankertz „Geschichte der Pädagogik“. Vor dem Hintergrund geschichtsphilosophischer und bildungsphilosophischer Überlegungen diskutiert Blankertz die Möglichkeiten und Grenzen der heutigen Erziehungswissenschaft für die gesetzten und selbstgesetzten Zwecke des Menschen. Erziehungswissenschaft erscheint in diesem Zusammenhang als ein Anspruch, die überlieferten pädagogischen Fragen wissenschaftlich, d. h. im positivistisch eingeengten Sinn und auf naturwissenschaftliche Methoden beschränkt, zu bearbeiten. Blankertz hebt zunächst die seit der Aufklärung unbestrittene Funktion von Wissenschaft im Rahmen von Humanisierung hervor, benennt aber zugleich die Grenzen ihrer optimistischen Funktionalisierung:
„Grenzen, Widersprüchlichkeit und innere Problematik der von der Aufklärung freigegebenen Möglichkeiten zu begreifen, bedeutet, Wissenschaft in den Dienst der historischen Anstrengung des Menschen einzustellen, eine lebenswerte Welt zu schaffen und zu erhalten. Dieses Motiv ist, geschichtsphilosophisch verstanden, das der europäischen Pädagogik. Indessen kann keine szientistische [d. h. allein wissenschaftliche, bzw. negativ verstanden wissenschaftsgläubige] Konstruktion einer besseren und zugleich realisierbaren Welt erwartet werden. Die historisch durchgespielten Grundlegungsversuche zur Wissenschaft von der Erziehung machen das deutlich.“ (BLANKERTZ 1982, S. 306)
Mündigkeit
Der Zweck, an dem sich die Menschen seit der Aufklärung orientieren und den der Philosoph Immanuel Kant ausführlich thematisiert hat, ist die Mündigkeit (vgl. Kap. 5.1). Unter Mündigkeit versteht Blankertz den Versuch, durch individuelle und gesellschaftliche Kritik neue Wege in Bildungspolitik und Bildungsreform zu suchen und auszuprobieren.
„Thema der Pädagogik ist die Erziehung, die den Menschen im Zustand der Unmündigkeit antrifft. Erziehung muß diesen Zustand verändern, aber nicht beliebig, sondern orientiert an einer unbedingten Zwecksetzung, an der Mündigkeit des Menschen. Wo aber findet die Pädagogik den Maßstab für Mündigkeit? Nach Auskunft der Geschichte der europäischen Pädagogik ist der Maßstab nicht willkürlich gesetzt, sondern in der Eigenstruktur der Erziehung enthalten.“ (ebd.)
Emanzipation
Aufgabe der wissenschaftlichen Pädagogik ist es, die jeweilige Ausformulierung des Emanzipationsgedankens, den historischen Stand dieses Befreiungsprozesses, herauszuarbeiten:
„Wer pädagogische Verantwortung übernimmt, steht im Kontext der jeweils gegebenen historischen Bedingungen unter dem Anspruch des unbedingten Zwecks menschlicher Mündigkeit – ob er das will, weiß, glaubt oder nicht, ist sekundär. Die Erziehungswissenschaft aber arbeitet eben dieses als das Primäre heraus: Sie rekonstruiert die Erziehung als den Prozess der Emanzipation, d. h. der Befreiung des Menschen zu sich selbst.“ (BLANKERTZ 1982, S. 307)
Kritische Funktion der Pädagogik
Allerdings bietet die erziehungswissenschaftliche Sicht nur eine der Möglichkeiten, über Erziehung und Bildung nachzudenken und zu sprechen. Würde sie darin aufgehen, fehlte ihr die Möglichkeit, in kritischer Distanz über die Beschreibung des jeweiligen Status quo hinauszukommen und Möglichkeiten und Grenzen von Wissenschaft selbst, etwa philosophisch oder lebensweltlich, in Frage zu stellen:
„Das Ganze der Pädagogik, die Erziehung [und Bildung], enthält einen szientistisch nicht einholbaren Sinn. Dieser Sinn ist eine in der europäischen Bildungstradition aufgehobene Realität. Darum darf die Pädagogik trotz des durch ihre Geschichte herausgearbeiteten und nicht mehr rücknehmbaren szientistischen Votums für die Wissenschaft der technischen Zivilisation nicht im Szientismus aufgehen, ist vielmehr um ihrer kritischen Funktion willen an die Überlieferung von Philosophie und Umgangsweisheit rückgebunden.“ (ebd.; zum Verständnis von „kritischer Funktion“ vgl. Kap. 9)
Unvollendete Geschichte der Pädagogik
Die Geschichte der Pädagogik ist für Blankertz kein abschließbares oder gar abgeschlossenes Kapitel wissenschaftlicher Tradition, sondern die prinzipiell unvollendete Rekonstruktion des menschlichen Emanzipationsprozesses zur Mündigkeit auf dem jeweils erreichten historischen Stand. Die Abfassung und Ausformulierung dieses Prozesses trägt deshalb – bei aller Wissenschaftlichkeit ihrer Fakten und Resultate – über weite Strecken narrative, erzählende Züge. Sie heißt nicht umsonst Geschichte der Pädagogik statt Geschichte der Erziehungswissenschaft und argumentiert an entscheidenden Stellen philosophisch. Bildungsphilosophische Bearbeitungen pädagogischer Themen hat es in der Vergangenheit zahlreich gegeben und gibt es auch heute noch. Erwähnt seien neben den an anderen Stellen angesprochenen Arbeiten hier nur Hügli (1999), Lichtenstein (1971), Menze (1970) und Pleines (1978).