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3.4 Dietrich Schwanitz: Ein Bestseller über Bildung
ОглавлениеDen Marktwert von Bildung spürbar gesteigert hat, wie kaum ein anderes Buch zuvor, der populärwissenschaftliche Bestseller von Dietrich Schwanitz mit dem Titel „Bildung. Alles, was man wissen muß“. An den Leser gerichtet heißt es zu Beginn:
Wissen im Umbruch
„Wer hat nicht das Gefühl der Frustration gekannt, als ihm in der Schule Lernstoff wie tot erschien, wie eine Anhäufung uninteressanter Fakten, die mit dem eigenen pulsierenden Leben nichts zu tun hatten? […] Wer hat nicht schon erlebt, daß ein Gedanke, der einen ehemals kalt gelassen hat, plötzlich zu leuchten beginnt wie ein explodierender Stern? Es gibt immer mehr Menschen, die solche Erfahrungen machen. Das liegt daran, daß unser Wissen im Umbruch und unser Bildungssystem in der Krise ist. Der alte Bildungsstoff scheint fremd geworden und ist in Formeln erstarrt. Auch die Bildungsprofis vertreten ihn nicht mehr mit Überzeugung. Da wir uns weiterentwickelt haben, müssen wir mit unserem kulturellen Wissen von einem neuen Standort aus wieder ins Gespräch kommen. Daß wir das tun, wünschen sich viele, die sich mit unserem Bildungssystem schwer tun. […] Für sie ist dieses Handbuch geschrieben. Dabei habe ich unser kulturelles Wissen unter dem Blickwinkel gesichtet: Was trägt es zu unserer Selbsterkenntnis bei?“ (SCHWANITZ 1999, S. 7)
Die Hauptursachen, dass viele mit dem gegenwärtigen Bildungssystem unzufrieden sind, sieht Schwanitz im Zustand der Schulen und der Rolle der Lehrer:
Schulkritik
„Derweil sind die Schulen fast vollständig zur Beute der politischen Parteien geworden. […] Kurzum, die Schulen sind in einem so jämmerlichen Zustand, daß das Elend völlig unbekannt bleibt, weil sein Ausmaß unglaublich ist. Das heißt nicht, daß es nicht hie und da funktionierende Schulen, engagierte Direktoren und erfolgreiche Lehrer und halbwegs glückliche Schüler gäbe. Vielleicht gibt es sogar eine ganze Menge von ihnen. Aber solche Schulen sind nicht mehr die Regel und die anderen die Ausnahme; vielmehr gelten die Horrorschulen als ebenso normal wie die anderen.“ (ebd., S. 28)
Gründe für diesen „jämmerlichen Zustand“ der Schulen sieht Schwanitz vornehmlich im Fehlen verbindlicher Maßstäbe, d. h. im Verlust bzw. in der Einschränkung des alten Bildungskanons und der daraus folgenden Verunsicherung:
Maßstäbe
„Das liegt daran, daß die Maßstäbe verlorengegangen sind. Man weiß nicht mehr, was mit welchem Ziel gelehrt werden soll. Weil der alte Bildungskanon verengt und überholt erscheint, hat man Normen überhaupt aufgegeben. Hier liegt der Fehler. Bei dieser Verunsicherung muß jeder Neubeginn ansetzen.“ (ebd.)
Materiale Bildung
Ausgehend von dieser Kritik am Zustand des Bildungssystems und der Schulen bietet Schwanitz im ersten Teil seines Buches unter der Überschrift „Wissen“ eine beeindruckende Materialsammlung seiner Auffassung nach unverzichtbaren Wissens. Im Stil eines Handbuchs reichen die Themen von der europäischen Geschichte und Literatur über die Geschichte der Kunst und der Musik bis hin zu einer Auswahl großer Philosophen, Ideologien, Theorien und wissenschaftlicher Weltbilder. Auch eine Geschichte der Geschlechterdebatte fehlt nicht. Das 19. Jahrhundert, um ein Beispiel aus der Aufzählung historischer Themen zu nennen, wird unterteilt in den Wiener Kongress und dessen Folgen für Deutschland, in den Vormärz, Marx und seine Auswirkungen in anderen Ländern, in den Weg zur Einigung Deutschlands und die Gründung des deutschen Kaiserreichs, in die verspätete Nation und Wilhelm und den Wilhelminismus sowie in die politischen Lager. Die Aufzählung von „großen Werken“ der europäischen Literatur reicht von Dantes „Göttlicher Komödie“, Francesco Petrarca und Giovanni Boccaccio über William Shakespeare, Moli›re, Goethe, Lessing und Schiller bis zu den „Buddenbrooks“ von Thomas Mann, zu Marcel Proust, James Joyce und Robert Musils „Mann ohne Eigenschaften“. In der Reihe „großer“ Philosophen nennt Schwanitz René Descartes, Thomas Hobbes, John Locke, Gottfried Wilhelm Leibniz, Jean-Jacques Rousseau, Immanuel Kant, Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Karl Marx, Arthur Schopenhauer, Friedrich Nietzsche und Martin Heidegger.
Kanon und Vollständigkeit
Kein Katalog oder Kanon dessen, was gewusst oder gelernt werden kann oder sollte, kann vollständig sein. Er beruht immer auf einer Auswahl und Gewichtung dessen, der darüber entscheidet, was wissenswert oder lernenswert ist. Selbst die großen Versuche der französischen Enzyklopädisten Diderot und d’Alembert in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts präsentierten nicht die Gesamtheit menschlichen Wissens, sondern waren unvollständig. (Das Wort „Enzyklopädie“ ist zusammengesetzt aus griechisch „kyklos“ = Kreis und griechisch „paideia“ = Bildung.) Vor diesem Hintergrund fällt auf, dass Schwanitz keine eigenen Überlegungen zum Kanonproblem und zu dessen Vollständigkeit und Zeitgebundenheit anstellt. Noch einmal gesagt: Kein Kanon kann vollständig sein, Auswahl und Gewichtung bedürfen deshalb einer Angabe von Kriterien, um wenigstens die Diskussion darüber zu ermöglichen.
Formale Bildung
Der zweite Teil von Schwanitz Handbuch beschreibt unter der Überschrift „Können“ den formalen Teil von Bildung. Er beginnt mit einer „Einleitung über die Regeln, nach denen man unter Gebildeten kommuniziert“ (SCHWANITZ 1999, S. 9), und sie sollte, so der Autor, keinesfalls übersprungen werden. Die Kommunikation unter Gebildeten kommt für Schwanitz einem sozialen Spiel gleich, dessen wichtigste Regel die „Erwartungserwartung“ ist:
„Was in der Religion der Glaube ist, ist in der Kunst der Geschmack; er kappt alle Begründungen. De gustibus non est disputandum, über Geschmack kann man nicht streiten. Dieselbe Funktion erfüllt in der Bildung die Erwartungserwartung, daß jeder alles weiß. Das fördert einen rhetorischen Terrorismus, der den Unkundigen erschreckt. Auf einer Cocktailparty akademisch Gebildeter ist es nicht ungewöhnlich, wenn jemand mit folgenden Bemerkungen eine Runde aufmerksamer Zuhörer unterhält: , Wie Sie wissen, ist der Strukturalismus nur ein verkappter Neukantianismus. Natürlich werden Sie fragen, wo das transzendentale Subjekt ist. Ich gebe zu, vielleicht ist es ja kein Subjekt, aber transzendental ist es allemal. Und da frage ich Sie: Ist die Kulturgeschichte nicht notwendigerweise die Hegelianisierung des Strukturalismus? Trotz der antihumanistischen Wende? Und eine überfällige dazu? Darauf werden einige Zuhörer gedankenvoll nicken; einige werden verhalten ,hmhmhm knurren oder ein Geräusch verursachen wie eine Kuh, die zu muhen anhebt, aber es sich dann anders überlegt. Alles das bedeutet, daß man sich die Sache durch den Kopf gehen läßt, daß der Gedanke, den man gerade gehört hat, so tief ist, daß man ihn erst ordentlich verarbeiten muß etc. Die Zuhörer geben damit zu verstehen, daß sie die Bemerkung natürlich verstanden haben. Daß in Wirklichkeit niemand von ihnen den leisesten Schimmer hatte, wovon die Rede war, bleibt auf diese Weise allen Beteiligten verborgen. Und so bildeten die Zuhörer zusammen einen Abgrund der Unkenntnis, über den der Redner so sicher hinwegschritt wie der berühmte Reiter bei seinem Ritt über den Bodensee. […] Man braucht nicht unbedingt zu wissen, was das alles bedeutet; im Gegenteil, wenn man es nicht weiß, wirkt die Aufmerksamkeit echter. Trotzdem kommt man natürlich nicht ganz ohne Wissen aus, wenn man das Bildungsspiel spielen will. Es hat jedoch eine bestimmte Funktion und einen eigenen Aggregatzustand.“ (ebd., S. 398f.)
In den nachfolgenden Kapiteln behandelt Schwanitz die Bedeutung von Sprache, Büchern und Schrift, eine „Länderkunde für die Frau und den Mann von Welt“ sowie Intelligenz, Begabung und Kreativität.
Bildungsideal
Insgesamt präsentiert Schwanitz mit dem Durchgang durch die Bereiche dessen, was Gebildete können müssen, ein klar erkennbares formales Bildungsideal. Herausgestellt werden der gebildete Europäer oder die gebildete Europäerin, die sprachgewandt, souverän und kultiviert im Umgang miteinander – und noch dazu mit einer westlich-demokratischen Gesinnung ausgestattet – in der Öffentlichkeit auftreten. Vergleichbar mit den Einwänden zum materialen Verständnis von Bildung wird es allerdings auch hier problematisch, die These aufrechtzuerhalten, ausgewähltes kulturelles Wissen und Können trage zur menschlichen „Selbsterkenntnis“ bei.
Soziale Differenzierung
Gegen Ende des Abschnitts über das „Können“ thematisiert Schwanitz Bildungs-Handbuch unter der Überschrift „Was man nicht wissen sollte“ bzw. „was man nicht wissen darf“ (ebd., S. 476) konkrete Inhalte und Verhaltensweisen, die seiner Auffassung nach nicht zur Bildung gehören.
„Dieses Kapitel behandelt jene Wissensprovinzen aus dem Land der Trivialität, die man besser im dunkeln läßt, wie etwa den enzyklopädischen Überblick über die Privatverhältnisse von Schauspielern, Adligen und Prominenten; und es informiert über die Regeln, die die kommunikationstechnische Bewirtschaftung von abseitigen oder bildungsfernen, trivialen oder schlichtweg bedenklichen Kenntnissen betreffen.“ (ebd., S. 21)
Zu solchen Peinlichkeiten, die mit „wahrer Bildung“ unvereinbar sind, zählen auch eine allzu große Vertrautheit mit dem Fernsehprogramm und der Regenbogenpresse oder etwa detaillierte Sport- und Technikkenntnisse. Peinlichkeiten im Umgang mit Bildung sind etwa ein demonstrativer Bildungssnobismus oder Bildungshochmut wie auch die entsprechenden Empfindlichkeiten und der Misskredit derer, die mit solchem Verhalten konfrontiert sind. Derartige Bewertungen Schwanitz sind zwar gelegentlich von einer gewissen Ironie durchzogen, zeigen jedoch auch Züge des von Paulsen kritisierten Bildungsdünkels.
Zusammenfassung
Der wissenschaftliche Lexikonartikel von Friedrich Paulsen untersucht zunächst das am allgemeinen Sprachgebrauch ablesbare gesellschaftliche Verständnis von Bildung und stößt auf die enge Verflochtenheit von Bildung mit materiellem Besitz. So zu charakterisierende „Halbbildung“ ist das Gegenteil von eigentlicher bzw. „wahrer“ Bildung. Dieser geht es – in einem formalen Sinne – stärker um die sittliche Veränderung der Menschen und deren Umgang miteinander als – in einem materialen Sinne – um die äußerliche Übernahme von Bildungsinhalten. Die bildungsphilosophisch akzentuierte Darstellung der Geschichte der Pädagogik von Herwig Blankertz beschreibt die gesellschaftliche Aufgabe einer kritischen wissenschaftlichen Pädagogik als die Herausarbeitung und Bewusstmachung des menschlichen Befreiungsprozesses hin zum unbedingten Zweck der Mündigkeit auf seinem jeweiligen geschichtlichen Stand. Der zwischen wissenschaftlichem Anspruch und öffentlicher Breitenwirkung angelegte Essay von Hartmut von Hentig argumentiert für ein formales Verständnis von Bildung im Kontext von klar formulierten Bildungskriterien und erneuert das antike Ideal politischer Bildung im Sinne eines gemeinschaftlichen und verantwortlichen Engagements in der Öffentlichkeit. Der Bestseller von Dietrich Schwanitz popularisiert das Thema Bildung einerseits im materialen Verständnis, im selektiven Durchgang durch das „Wissen“ der europäischen Geistesgeschichte, andererseits im formalen Verständnis, in der Vermittlung von Können und Regeln, nach denen Gebildete untereinander kommunizieren und miteinander umgehen. Nicht zuletzt erneuert Schwanitz damit die sozial-selektive Funktion von Bildung, indem er den Habitus des Gebildeten beschreibt und ausdrücklich benennt, was man nicht wissen sollte.