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3.1 Friedrich Paulsen: Ein Lexikonartikel über Bildung

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Sprachgebrauch

Friedrich Paulsen ist vor allem als Autor der umfangreichen „Geschichte des gelehrten Unterrichts“ von 1885 bekannt geworden. In seinem historischen Lexikon-Artikel über Bildung vom Ende des 19. Jahrhunderts fragt er sich u. a., was einen Gebildeten konkret ausmacht. Bevor er zu einer eigenen theoretischen Bestimmung von Bildung gelangt, beginnt der Autor mit einer sozial-historischen Bestandsaufnahme, d. h. einer Untersuchung des gesellschaftlich verbreiteten Verständnisses von Bildung, das sich im populären Sprachgebrauch seiner Zeit niederschlägt:

„Es gibt wenig Wörter, die dem gegenwärtig lebenden Geschlecht so geläufig wären, wie das Wort Bildung. Wo immer von einem Menschen die Rede ist, da wird alsbald darüber gehandelt, ob er gebildet sei oder nicht. Natürlich, die Sache ist von großer Wichtigkeit: es hängt davon ab, wie man sich zu ihm verhalten soll, ob man mit ihm als Gleichem verkehren und zu Tisch sitzen kann oder nicht. Gebildete und Ungebildete, das sind die beiden Hälften, in die gegenwärtig die Gesellschaft geteilt wird. Sie haben die älteren Einteilungen allmählich in Vergessenheit gebracht. Früher teilte man die Menschen in Adelige und Bürgerliche, in Gläubige und Ungläubige, in Protestanten und Katholiken, in Christen und Juden. Von alledem sind zwar noch Erinnerungen da, aber die praktisch wichtige, die entscheidende Einteilung ist die in Gebildete und Ungebildete.“ (PAULSEN 1903, S. 658)

Unterscheidungsmerkmale zwischen Gebildeten und Ungebildeten

Als Unterscheidungsmerkmale zwischen Gebildeten und Ungebildeten entnimmt Paulsen dem allgemeinen Sprachgebrauch in der Folge zunächst äußerliche Merkmale wie Kleidung, Pflege und Benehmen sowie die Fähigkeit, bei „allen Dingen, von denen in der Gesellschaft die Rede ist, mitreden“ (ebd.) zu können. Sodann nennt Paulsen den richtigen Gebrauch von Fremdwörtern, die Beherrschung einer oder mehrerer Fremdsprachen und den erfolgreichen Abschluss einer höheren Schule als weitere Kriterien. Der Wunsch, zu den Gebildeten zu zählen, habe eine rasch zunehmende Nachfrage nach Mitteln und Gelegenheiten der Bildung entstehen lassen, und ein dementsprechendes Angebot an Konversationslexika sichere – so Paulsen mit deutlicher Ironie – „jederzeit das Neueste aus dem Reich der Bildung, samt einem fertigen Urteil darüber“ (ebd., S. 659).

Akademische Bildung

Eine zweite und über die Grundlage materiellen Vermögens hinausweisende Voraussetzung für Gesellschaftsfähigkeit ist die akademische Bildung, die – nach Paulsens Einschätzung – sogar unabhängig vom Vermögen gesellschaftsfähig machen kann. Besitz und Bildung, so lässt sich die allgemeine Redeweise am Ende des 19. Jahrhunderts zusammenfassen, hängen eng miteinander zusammen, „wie es ja auch der Sprachgebrauch in der Zusammenfassung der ,besitzenden und gebildeten Klassen‘, im Gegensatz zu den ,arbeitenden und besitzlosen Klassen‘, die auch die ,ungebildeten sind, zum Ausdruck bringt. Jene machen die Gesellschaft aus.“ (ebd.)

Halbbildung

Im weiteren Verlauf seines Artikels zeigt Paulsen, dass das allgemeine Verständnis von Bildung, wie es zu seiner Zeit gesellschaftlich verbreitet ist, nur eine undurchdachte und folgenlose Übernahme von Bildungsstoffen, eine „innerlich unvollendete Bildung“ ist, die, gemessen am idealisierten Begriff „wahrer Bildung“, der von Wilhelm von Humboldt geprägt wurde, nur „Halbbildung“ sein kann (ebd., S. 669). Diese Halbbildung ist für Paulsen – in Anlehnung an einen Gedanken Friedrich Nietzsches und im Vorgriff auf Theodor W. Adorno, die beide in späteren Kapiteln ausführlich behandelt werden – „ein Unglück […], eine Plage […], ein Unsegen“ (ebd.).

Wahre Bildung

Paulsen kritisiert zwar noch nicht, wie später Adorno, die bestehenden sozialen Hierarchien oder die Arbeitsteilung, er grenzt „wahre Bildung“ jedoch gegen den Dünkel sozialer Hierarchie und materialer Schulbildung mit der Schwerpunktsetzung auf Sittlichkeit ab:

„Gebildet ist, wer mit klarem Blick und sicherm Urteil zu den Gedanken und Ideen, zu den Lebensformen und Bestrebungen seiner geschichtlichen Umgebung Stellung zu nehmen weiß. […] Wahre, rechtschaffene Bildung werden wir jedem zuschreiben, der die Fähigkeit gewonnen hat, sich von dem Punkt aus, auf den er durch Natur und Schicksal gestellt ist, in der Wirklichkeit zurechtzufinden und sich eine eigene, in sich zusammenstimmende geistige Welt zu bauen, sie mag groß oder klein sein. Nicht die Masse dessen, was er weiß oder gelernt hat, macht die Bildung aus, sondern die Kraft und Eigentümlichkeit, womit er es sich angeeignet hat und zur Auffassung und Beurteilung des ihm Vorliegenden zu verwenden versteht.“ (ebd., S. 663)

Einführung in die Theorie der Bildung

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