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2.3 Der Bildungskanon
ОглавлениеDie Inhalte des Unterrichts in einzelnen Fächern, Fächerkombinationen und fächerübergreifenden Lernbereichen sind in Richtlinien, Rahmenvorgaben, Lehrplänen und Stundentafeln für die unterschiedlichen Schularten festgelegt. Exemplarisch für viele andere mögliche Beispiele ist der Auszug aus dem Schulgesetz von Mecklenburg-Vorpommern:
Gegenstandsbereiche des Unterrichts
„§ 5 Gegenstandsbereiche des Unterrichts
(1) An den Schulen ist Unterricht in folgenden Gegenstandsbereichen zu gewährleisten:
1. In der Grundschule (Primarbereich) a) in Deutsch,
b) in Mathematik,
c) in ästhetischer Bildung,
d) in Sachunterricht,
e) in Religion und Philosophieren mit Kindern
f) in Sport.
2. Im SekundarbereichI
a) in Deutsch,
b) in Fremdsprachen
c) in Mathematik
d) im künstlerisch-musischen Aufgabenfeld,
e) in Geschichte, Geographie und Sozialkunde,
f) im naturwissenschaftlichen Aufgabenfeld,
g) in Arbeit – Wirtschaft – Technik und Informatik,
h) in Religion und Philosophieren mit Kindern,
i) in Sport.
3. In den berufsbildenden Bildungsgängen im Sekundarbereich II
a) in allgemeinbildenden Gegenstandsbereichen,
b) in berufsbezogenen Gegenstandsbereichen.
4. In den studienqualifizierenden Bildungsgängen der Sekundarstufe II Kurse a) im sprachlich-literarisch-künstlerischen Aufgabenfeld,
b) im gesellschaftswissenschaftlichen Aufgabenfeld einschließlich Religion,
c) im mathematisch-naturwissenschaftlichen Aufgabenfeld,
d) in Arbeit – Wirtschaft – Technik und Informatik,
e) in Sport.“ (§5 M-V SchulG)
Klassischer Bildungskanon
Vor jeder weiteren Differenzierung und Konkretisierung der Schulfächer und Fächergruppen in Unterrichtseinheiten, Themen und Aufgaben zeigt diese Strukturierung der Gegenstandsbereiche den Bildungskanon der Schule der Gegenwart. Unter Bildungskanon wird in einem traditionellen Sinn die Gesamtheit des Wissens der gelehrten Bildung verstanden, die ihren Ursprung in den Textcorpora der Spätantike – der Bibel, Bibelkommentaren und liturgischen Schriften zum einen, klassisch römischen Werken und den Lehrbüchern der „septem artes liberales“ (Wissenschaften der Zahl: Geometrie, Arithmetik, Musik, Astronomie; Wissenschaften des Wortes: Grammatik, Rhetorik, Dialektik) zum anderen – hat und in der höheren bürgerlichen Bildung des 18. bis 20. Jahrhunderts ihren klassischen Ausdruck gefunden hat. „Der europäische Bildungskanon des bürgerlichen Zeitalters“ (FUHRMANN 2000) hatte seine institutionellen Stützen im humanistischen Gymnasium und dem bürgerlichen Elternhaus und umfasste die Fächer des Gymnasiums, d. h. alte und neue Sprachen, die Geschichte, die Künste, die Mathematik und die Naturwissenschaften, wie auch die Bereiche des bürgerlichen Genusses und der Selbstdarstellung, vor allem Schauspiel, Oper und Konzert, Museen und Bildungsreisen, Konversation und Korrespondenz, nicht zuletzt die Lektüre der schönen Literatur, aber auch von Sachbüchern und Enzyklopädien (vgl. FUHRMANN 2002, S. 39ff.).
Krise des Bildungskanons
„Die klassische deutsche Bildungsidee, ihr akzeptabler Ursprung ebenso wie ihre nicht akzeptable Deformation, ist vor längerem von Amts wegen zu Grabe getragen worden: Sie fiel in den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts dem so genannten Durchbruch des gesellschaftspolitischen Denkens zum Opfer.“ (ebd., S. 52)
Aber auch das europäische Fundament dieses Ideals der Humanität durch die Vervollkommnung des Individuums, der gemeinsame Bildungskanon, ist nicht mehr intakt (vgl. ebd. S. 53). Die Lehrpläne der Schulen sind reformiert und modernisiert, variabler und offener im Vergleich zu früheren Zeiten. Der klassische Bildungskanon hat mit der Reform des Gymnasiums seine Grundlage und damit auch seine gesellschaftliche Akzeptanz verloren. „Die tiefgreifende Krise des Kanons und des überlieferten Lehrplans der höheren Schulen“ (TENORTH 1994, S. 21) bedeutet aber nicht, auf den Gedanken des Kanons zu verzichten.
Bildungskanon der Gegenwart
„Die Definition der Allgemeinbildung, d. h. die Bestimmung eines Kerns bewahrenswerten Wissens, ist problematisch geworden“ (ebd., S. 23).
„Aber der erstaunliche Befund bleibt erhalten, daß das Gefüge der Lernbereiche, das der Kanon des Abendlandes festhält, und der Zusammenhang ihrer Thematisierungsformen trotz aller historischen Variationen identisch gehalten wird.“ (ebd., S. 135f.; vgl. DIEDERICH/TENORTH 1997, S. 73ff.)
Der klassische Bildungskanon ist in seiner historischen Bedingtheit und sozialen Funktionalität durchschaut, auf einer allgemeineren Ebene wird der Kanon aber weiter tradiert.
„In allen modernen Gesellschaften vermittelt die Schule Zugang zu unterschiedlichen Modi der Welterfahrung und erschließt unterschiedliche Horizonte des Weltverstehens. Es gibt unterschiedliche Formen der menschlichen Rationalität, die nicht wechselseitig austauschbar sind. Der instrumentelle Umgang mit der belebten und unbelebten Umwelt, das ästhetisch-expressive Mit- und Nacherleben von Kunst, Literatur und Musik und die körperliche Übung um ihrer selbst willen, der praktische Diskurs über Formen des guten Zusammenlebens und schließlich die Fragen nach der menschlichen Bestimmung folgen jeweils unterschiedlichen Logiken. Instrumentelle Rationalität ist in besonderer Weise für die Naturwissenschaften mit ihrem experimentellen Durchgriff auf die Realität oder noch ausgeprägter für die Technik und ihren Gestaltungswillen kennzeichnend. Literatur, bildende Kunst und Musik folgen einer anderen Logik; ihre Weltentwürfe gehen nicht in instrumenteller Rationalität auf. Auch Fragen des erfolgreichen und verantwortungsvollen Wirtschaftens, des gerechten Zusammenlebens oder des politischen Entscheidens sind weder auf naturwissenschaftliche noch literarische Rationalität reduzierbar. Dies gilt in ähnlicher Weise für die Religion und Philosophie. Es ist ein universelles Charakteristikum der Bildungsprogramme moderner Schulen, zu jeder dieser Rationalitätsformen in institutionalisierter Weise Zugang zu eröffnen, auch wenn sich der Zuschnitt der Fächer und deren curriculare Ausgestaltung von Land zu Land unterscheiden. Allgemeinbildung und Kanon finden ihre Grundstruktur im Erschließen der vier genannten, nicht austauschbaren Horizonte des Weltverstehens.
In der Begegnung mit diesen Modi des Weltzugangs erwirbt man die „Kenntnisse“, auf denen das Verhalten in der Welt aufbauen kann, und vollzieht sich Individuierung als Bildungsprozess.“ (BILDUNGSKOMMISSION 2003, S. 77f.)
Die Modi des Weltzugangs
Die genannten „Modi des Weltzugangs“ sind vergleichbar den Dimensionen des Lehrplans der Schule, wie sie bereits Wilhelm von Humboldt in seinen Schulplänen entwickelt hat (vgl. Kap 6.5). Die instrumentelle Rationalität beruht auf dem mathematischen Verstehen und Modellieren von Welt. Neben der Mathematik sind es die Naturwissenschaften, aber auch z. T. die Fächer Arbeit, Wirtschaft, Technik sowie Informatik, die diesen Weltzugang ausbilden. Das ästhetisch-expressive Mit- und Nacherleben von Kunst, Literatur und Musik hat in den entsprechenden Fächern seinen Ort. Über das „sprachliche“ Verstehen ist der Unterricht in Deutsch und den Fremdsprachen auf die Kultivierung der Muttersprache gerichtet wie auf das Verstehen eigener und fremder Kulturen. Auch der Sportunterricht und die Bewegungserziehung können dem ästhetisch-expressiven Bereich zugerechnet werden, wenn nicht der Erfahrung des eigenen Körpers und seiner Bildung eine eigene Rationalität des Bezuges auf Welt zugeschrieben werden soll. Die praktische Rationalität, das soziale Verstehen und der ethisch-politische Diskurs werden vor allem in den gesellschaftswissenschaftlichen Fächern, in Geschichte und Politik, in Geographie und in der Beschäftigung mit Umweltthemen, in Fragen der Arbeit und der Wirtschaft, ausgebildet. Fragen nach der menschlichen Bestimmung, gewissermaßen die „letzten Fragen“, behandeln schließlich Religion und Philosophie, wenn auch nicht exklusiv.