Читать книгу Der Einäugige erwacht - Andreas Engel - Страница 10
ОглавлениеKapitel 4.
„Jolan! Jolan, willst du den ganzen Tag verschlafen?“ Ella hatte sich über ihn gebeugt und schüttelte sanft seine Schulter. „Oder bist du etwa krank?“, fragte sie weiter und ihr Gesicht nahm einen besorgten Ausdruck an. Jolan öffnete blinzelnd die Augen und wollte ihr antworten, aber er konnte nur etwas Unverständliches krächzen. Er hatte das Gefühl, ewig geschlafen zu haben und erinnerte sich an lange Träume, in denen es ständig um Regin gegangen war. Sich räuspernd, versuchte Jolan es erneut. „Nein, nein … ich weiß auch nicht, ich bin nur total müde gewesen“, sagte er benommen und drehte sich mühsam von der Bauchlage auf die Seite. Ella betrachtete ihn genauer. „Du siehst immer noch ganz müde aus, ist auch wirklich alles in Ordnung mit dir?“
„Nein, wirklich …, ich meine ja, alles okay,… hab gestern wohl beim Bogenschießen etwas übertrieben“, antwortete Jolan entschuldigend und lächelte ein wenig gequält.
„Na, dann steh mal auf, es ist fast elf Uhr und wir haben natürlich schon längst gefrühstückt, aber in der Küche steht alles für dich bereit.“ Sie erhob sich und sagte dann missbilligend: „Und mit solch’ schmutzigen Füßen solltest du wirklich nicht ins Bett gehen,… bist ja schon genauso schlimm wie Chris!“
Als sie gegangen war, richtete er sich auf und schaute auf seine Füße, die unter der Decke hervorguckten. Sie waren tatsächlich schmutzig. Er zog die Decke weg und sah, dass er seine Hose noch anhatte und an den Knien dunkle Erdflecken waren. Dieser Teil war also kein Traum gewesen! Jolan besah sich seine linke Hand, sie war ebenfalls schmutzig und mit getrocknetem Blut verschmiert. Auch die rechte Hand war dreckig, unter den Fingernägeln waren schwarze Ränder. Es war tatsächlich passiert …, dachte er aufgeregt. Regin war heute früh da gewesen und anschließend hatte er den Samen eingepflanzt! Jetzt fiel ihm auch die ganze Geschichte mit der Moorleiche wieder ein, die Regin ihm erzählt hatte.
Jolan erhob sich langsam, er fühlte sich noch recht verschlafen und irgendwie verkrampft. Dann begab er sich ins Badezimmer und duschte rasch, anschließend ging es ihm schon wesentlich besser und seine Lebensgeister waren vollends zurückgekehrt. In seiner linken Handfläche konnte er von dem Schnitt nur noch eine feine, sauber verheilte Narbe erkennen. Der kleine Dolch besaß also wirklich Zauberkräfte und bei diesem Gedanken wurde Jolan endgültig klar, dass Regin kein Spinner war.
Als er kurz darauf aus dem Badezimmer kam, rief Ella zu ihm herauf: „Übrigens ist Besuch für dich gekommen, sie sitzt in der Küche und wartet auf dich!“
Sie …?, dachte Jolan, das konnte nur Veena sein. An die hatte er gar nicht mehr gedacht, bei all’ den Aufregungen des gestrigen Tages. Veena hieß eigentlich Aveen; sie war ein knappes halbes Jahr älter als er, also schon fünfzehn und lebte mit mit ihrer Mutter in der Lebensgemeinde. Veena war sogar hier zur Welt gekommen, daher kannten sie sich fast von klein auf. Fast, weil er ja immer nur in den Sommerferien, diversen Feiertagen oder ab und wann übers Wochenende hier gewesen war. Und in den letzten drei Jahren war er ja nur noch für ein paar Tage in den Herbstferien, an Weihnachten oder zu Ostern gekommen. Jedenfalls waren sie so etwas wie gute, alte Freunde. Wenn er zu Besuch kam, hatte sie es immer für ihre Pflicht gehalten, ihn die gesamte Zeit zu unterhalten. Wovon Jolan gar nicht immer so begeistert gewesen war, sie konnte mitunter ganz schön nerven.
„Hallo …“, sagte Jolan in die Küche tretend und hielt überrascht inne, als er Veena sah.
„Na, wie findest du mich?“, sie saß auf dem Esstisch und hatte die Füße auf einen der Stühle gestellt. Dabei stemmte sie die Fäuste in die Hüften und legte ihren Kopf etwas schräg.
„Ich … äh, … t-toll“, stammelte er. Veena hatte sich doch tatsächlich von ihren heißgeliebten Dreadlocks getrennt, stattdessen trug sie jetzt ihre braunen Haare kurz und lockig. „Nein, wirklich, du siehst echt klasse aus“, beeilte er sich zu sagen. Jolan war ein wenig aus dem Takt gekommen, weil sie einfach viel hübscher war als früher. Außerdem war es lange her seit er sie das letzte Mal in Sommerklamotten gesehen hatte,… und jetzt saß sie hier mit ihren Flipflops, ziemlich knappen, ausgefransten Jeansshorts sowie einer weißen, kurzärmeligen Bluse;… jedenfalls hatte sie sich überall verändert. Jolan räusperte sich verlegen. „Ich werde dann mal etwas frühstücken …“, sagte er rasch, als ihm auffiel, dass Veena unter seinen bewundernden Blicken leicht errötete.
Aber sie hatte sich schnell wieder gefangen und fragte dann: „Frühstücken? Was ist los mit dir, bist du jetzt unter die Langschläfer gegangen?“
„Äh,… eigentlich nicht …“, antwortete er und goss sich Milch in das Müsli, „…ich bin einfach nur müde gewesen.“
Veena hatte sich ihm gegenüber gesetzt. „Und was wollen wir heute machen? Schwimmen gehen wäre bei der Hitze wohl das Beste, oder?“
„Zum See?… Ja klar, ist ne’ gute Idee. Aber vorher wollte ich noch mit Ella und Chris auf den mittelalterlichen Markt gehen, kommst du mit?“
„Und ob ich mitkomme“, antwortete sie lächelnd, stützte die Ellenbogen auf die Tischplatte und legte dann ihr Gesicht in die Hände, während sie ihm beim Essen zusah. „Schön dass du endlich mal wieder hier bist, ich hab´ dich echt vermisst …“, sagte Veena nach einer Weile und in ihrem Blick war dabei etwas, was Jolan jetzt seinerseits erröten ließ. Daher konzentrierte er sich wieder auf sein Frühstück und murmelte ein verlegenes: „… ich dich auch“.
Wenig später saßen sie dann auch schon gemeinsam auf der Rückbank im Wagen seiner Großmutter.
„Auf geht’s!“, meinte Chris vom Beifahrersitz aus gutgelaunt, als Ella den Gang einlegte und den Motor der Ente aufheulen ließ. Auf der Fahrt hinunter ins Dorf musste Veena ständig lachen, weil Jolans lange Haare im Luftzug des geöffneten Verdecks wie verrückt um seinen Kopf herumwirbelten.
Als sie durch das Markttor gingen und Chris den Eintritt bezahlte, wollte Jolan am liebsten gleich nach dem Zwerg suchen, er brannte darauf ihm zu erzählen, dass es vollbracht war. Dass er das Ritual genau den Anweisungen folgend durchgezogen hatte. Und den kleinen Dolch mit den heilenden Zauberkräften wollte er auch zurückgeben. Jolan trug ihn unter dem Hosenbein in seinem rechten Socken gesteckt, bei sich. Hoffentlich war Regin mit seinem Stand heute wieder da! Er müsste dann nur noch eine Möglichkeit finden, ungestört mit ihm reden zu können. Aber Regins Platz war ja im hinteren Bereich des Marktes gewesen und es schien so, dass es eine Weile dauern könnte bis sie dort ankommen würden.
Chris interessierte sich wirklich für jeden Stand und unterhielt sich ausgiebig mit den Verkäufern und Ausstellern, die ihrerseits aber auch alle sehr mitteilsam waren; nicht wenige vermuteten, dass er einer von ihnen wäre und fragten von welchem Stand er denn wohl käme. So wie Chris aussah, war das ja auch kein Wunder.
Außerdem trieb Veena die ganze Zeit über irgendwelchen Schabernack mit Jolan. Sie setzte ihm und sich selbst an einem Zelt mit altertümlichen Gewändern komische Hüte auf, kitzelte ihn an einem anderen Stand mit einer langen Fasanenfeder am Ohr oder nötigte ihn, von einer seltsamen Süßspeise aus Sesambrei zu kosten, nur um sie ihm dann auf die Nase zu drücken. Als sie an einer fidelen Musikantentruppe vorbeikamen, wurde es für Jolan richtig peinlich. Veena ergriff seine Hand und zog ihn mit vor die Musiker. „Komm, lass’ uns tanzen!“, rief sie zu Jolans allergrößtem Entsetzen, während sie aus ihren Schuhen schlüpfte. Unglücklicherweise bildeten die Musikanten gut gelaunt einen Kreis um sie herum, sodass es für ihn kein Entkommen gab! Veena hüpfte natürlich höchst anmutig zu der fröhlichen Musik herum als hätte sie nie etwas anderes gemacht, während er hilflos mit ihr im Kreis herumstolperte. Die Leute um sie herum klatschten und lachten. Jolan konnte sich nicht erinnern, wann er sich das letzte mal dermaßen geschämt hatte. Anschließend wurde er mit hochrotem Kopf von einem sich vor Lachen ausschüttenden Chris in Empfang genommen. „Hoho, seht her, der holde Tänzer! Oder ist es eher doch ein Tanzbär?“, rief er und nahm ihn dabei in den Arm.
„Ach, lass mich doch in Ruhe!“, schnauzte Jolan, während er sich von ihm losmachte. Er war jetzt richtig sauer. Als wenn das nicht schon peinlich genug gewesen wäre, machte er sich auch noch vor allen Leuten über ihn lustig! Jolan ging ein paar Schritte voraus und wäre am liebsten allein weitergegangen.
„Hey, Kumpel …, es tut mir leid, ich hab’s wirklich nicht so gemeint, nun komm schon …“, bemühte sich Chris, aber Ella unterbrach ihn: „Lass es, du Trampel, dass war ja wirklich toll von dir!“ Sie sah ihn kopfschüttelnd und mit zusammengezogenen Augenbrauen an, um dann hinter Jolan herzueilen. Als sie ihn erreichte, strich sie ihm liebevoll über den Rücken und sprach ein paar besänftigende Worte mit ihm. So was konnte seine Großmutter wirklich gut, also beruhigte sich Jolan wieder ein wenig und außerdem wollte er vor Veena auch nicht wie ein kompletter Spielverderber aussehen.
Einen Augenblick später lief sie auch schon mit ihren Flipflops in den Händen neben ihm her und machte dabei so ein zerknirschtes Gesicht, dass er wieder lächeln musste. Dann entschuldigte sich Chris nochmals in aller Form bei ihm und lud sie anschließend alle zum Mittagessen ein.
Sie fanden einen Pavillon, wo man auf groben Holzbänken sitzend, Elsässer Flammkuchen serviert bekam. Weder Jolan noch Veena hatten so etwas je gegessen: Eine Art dünnes Fladenbrot mit Sauerrahm, Ella nannte es 'Schmand', sowie Zwiebeln und Speckwürfeln - oder in der von ihnen gewählten Variante mit geräuchertem Tofu, welches in einem holzbefeuertem Ofen wie Pizza gebacken wurde. Jedenfalls schmeckte es ihnen außerordentlich gut. Von seinem Sitzplatz aus konnte Jolan jetzt den Schwertschlucker beobachten und so auch gleich enttäuscht feststellen, dass Regins Stand, genau wie Chris gestern berichtet hatte, nicht da war!
Irgendwie hatte er fest damit gerechnet, ihn heute wieder anzutreffen, wo war der Zwerg bloß abgeblieben?, dachte er.
Irgendwo musste Regin ja auch wohnen, in einem Hotel oder einer Pension war er bestimmt nicht abgestiegen. Er dachte daran, wie der Zwerg in der Frühe so unvermittelt am Gartenzaun stand und dort offensichtlich auf ihn gewartet hatte, als ob er genau gewusst habe, dass er in jenem Augenblick aus dem Fenster schauen würde. Und dann die Sache mit dem Zauberdolch …, womöglich war Regin tatsächlich ein echter Zwerg mit wirklichen Zauberkräften, der einfach so verschwinden und dann, wo er wollte, wieder auftauchen konnte!
In diesem Moment wurden seine Überlegungen von Chris unterbrochen, er hatte bemerkt, wohin Jolans Blicke gingen. „Ich hab doch gesagt, dass dein Zwergenschmied nicht mehr da ist …“, sagte er, „aber wir können doch den Schwertschlucker fragen, vielleicht weiß der, was aus ihm geworden ist.“
Dieselbe Idee wie in seinem Traum. „Stimmt!“, erwiderte Jolan daher, „das hätte mir auch selbst einfallen können, ich gehe gleich rüber und frage ihn.“ Er sprang auf, um die Chance zu nutzen, alleine mit dem verwegenen Schausteller zu reden, aber Veena lief ihm sofort hinterher.
„Moment mal!“, rief sie ein wenig aufgebracht, „… was redet ihr da von einem Zwerg? Davon hast du mir ja gar nichts erzählt …, nun warte doch mal!“
Da sie bereits am Stand des Schwertschluckers angekommen waren, vertröstete er sie rasch auf später. Jolan fing ein Gespräch mit dem Mann an, der nicht nur Klingen schluckte, sondern auch ein Feuerspucker und Messerwerfer war. Außerdem konnte er mit allem Möglichen jonglieren, zum Beispiel mit mehreren Beilen gleichzeitig, was er ihnen sofort eindrücklich demonstrierte. Sein Name war Carlos und er kam aus Argentinien, allerdings sei er schon seit einigen Jahren mit seiner Show in ganz Europa unterwegs. Wegen einer 'Frauengeschichte' hätte er damals aus seiner Heimat verschwinden müssen, erzählte er und zwinkerte Jolan mit einem Seitenblick auf Veena, wissend zu.
Er hätte wohl noch ewig so weiter geredet, aber endlich gelang es Jolan, ihn nach Regin zu fragen. Carlos unterbrach seinen Wortschwall und meinte dann bei dem Zwerg handele es sich um einen arroganten Sonderling, der mit niemanden etwas zu tun haben wolle. Ihm sei schleierhaft, wovon der leben würde, jedenfalls bestimmt nicht von seinen unerschwinglich teuren Waffen. Er selber arbeite auch mal im Zirkus oder einem Varieté, aber dieser grimmige Zwerg rede ja mit niemandem. Auf alle Fälle wohne er auf dem von der Stadt zur Verfügung gestellten Parkplatz, bei der alten Wassermühle, in einem schrottreifen Lieferwagen.
Also doch kein echter Zauberer, dachte Jolan, wäre ja auch völlig verrückt gewesen. Er bedankte sich schnell bei dem Schwertschlucker und wollte sich sogleich auf den Weg zur Wassermühle machen, aber nun hielt Veena ihn am T-Shirt fest.
„Jetzt erklärst du mir sofort, worum es hier eigentlich geht!“, rief sie ungeduldig mit zusammengezogenen Augenbrauen.
„Okay, ist ja gut …“, sagte Jolan beschwichtigend. Er musste einsehen, dass es keinen Zweck hatte zu versuchen, Veena aus der ganzen Sache rauszuhalten, „… geh doch bitte eben noch Ella und Chris Bescheid sagen, dass wir beide später zu Fuß oder mit dem Bus nach Hause kommen und dann werde ich dir auf dem Weg zur alten Wassermühle alles erzählen.“ Er schaute ihr nach, wie sie flink zu dem Pavillon lief und eine Weile mit den beiden sprach, während er darüber nachdachte, was er ihr erzählen könnte. Auf jeden Fall weniger als die Hälfte von dem was bisher alles geschehen war, beendete er seinen Gedankengang, da sie bereits wieder zurückgerannt kam.
Also berichtete Jolan ihr auf dem Weg, wie er Regin kennengelernt hatte, dass der Zwerg ein Schmied, aber scheinbar auch so was ähnliches wie ein Umweltaktivist sei.
„Ein Zwerg …?“, unterbrach Veena ihn, „… du meinst einen Kleinwüchsigen … so wie ein Liliputaner?“
„Äh …, nein, keine Ahnung. Er sieht eher aus wie ein Wikinger oder so was, aber eben klein … auf jeden Fall kleiner als ich.“
„Aha“, erwiderte sie nur. Sie gingen eine Weile schweigend nebeneinander her. Dann erzählte Jolan von dem Schwert und von Regins geheimnisvollen Andeutungen, die Waffe sei für ihn bestimmt und dass er sie in naher Zukunft auch brauchen würde.
„Moment mal …“, meinte Veena an dieser Stelle, „… ein echtes, richtiges Schwert, wozu solltest du ein echtes Schwert brauchen?“
„Das weiß ich auch nicht, davon hat er mir nichts erzählt.“
Sie machte ein nachdenkliches Gesicht. „Vielleicht sollst du in einem Theaterstück mitspielen?“
„Ach Quatsch … ich hab dir doch erklärt, was für ein Typ er ist, Regin sieht wirklich aus wie ein echter Zwerg. Ich meine so …, so wie Gimli im Herrn der Ringe, verstehst du?“
„Ich verstehe jedenfalls, dass du eindeutig zu viele Fantasygeschichten gelesen hast, oder diese Filme zu oft gesehen hast“, antwortete sie ihm trocken.
Das war ja mal wieder typisch, dachte Jolan, erst nervt sie rum und will alles wissen und kaum erzähle ich nur einen Bruchteil von dem was passiert ist, hält sie mich für einen Vollnerd!
„Wenn das so ist, brauchst du ja nicht mitkommen, ich finde die Sache jedenfalls spannend“, erwiderte er übertrieben beleidigt, weil er hoffte, sie würde vielleicht wirklich das Interesse verlieren. Nicht dass er Veena unbedingt loswerden wollte, insgeheim genoss er es, die ganze Zeit mit ihr zusammen zu sein und er musste sich eingestehen, dass er sie ziemlich süß fand. Aber bei dieser Geschichte wollte er sie vorerst lieber doch nicht dabei haben. Ganz abgesehen davon hatte er ja Regin versprochen, alles geheim zu halten. Aber so leicht war Veena nicht abzuschütteln.
„Nichts da, jetzt komme ich erst recht mit!“, sagte sie entschieden, „du hast doch gehört, was Carlos erzählt hat, dieser Regin will dir am Ende sicher nur eins seiner sauteuren Schwerter verkaufen und hat deshalb diesen ganzen Unsinn getextet, dass du die Waffe noch brauchen wirst …, daher werde ich auf dich aufpassen müssen!“
So süß ist vielleicht doch nicht, dachte Jolan missmutig. Aber anderseits war es zu diesem Zeitpunkt eventuell auch sicherer, wenn sie ihn für ein wenig blöde hielt. „Meinetwegen …“, entgegnete er daher resigniert.
Kurz darauf waren sie bei der Wassermühle angekommen. Hier floss die große Aue durch Reiherberg und hatte Jahrhundertelang die Mühle betrieben. Soweit Jolan sich erinnern konnte war sie, genau wie die kleine, steinerne Brücke direkt neben dem Bauwerk, über siebenhundert Jahre alt. Alle Bauern in der Umgebung Reiherbergs hatten hier ihr Korn mahlen lassen. Die Mühle war ein mächtiges Backsteingebäude, mehrere Stockwerke hoch. Heute befand sich ein Museum darin sowie Räume für kulturelle Veranstaltungen. Auf dem großen Vorplatz war eine riesige, offene Scheune wo im Sommer auch des öfteren Open Air Konzerte gegeben wurden. Hier standen jetzt mehrere Wohnmobile und ein paar Wohnwagen. Jolan schaute sich um und fand schnell ein Fahrzeug, das nur Regin gehören konnte: Es hatte auf der ihm sichtbaren Fahrertür dasselbe Zeichen, welches auf der Stirn des Zwerges tätowiert war: Einen mit der Spitze nach links zeigenden Winkel und daneben einen aufrecht stehenden Pfeil. Er deutete auf den mattschwarz gestrichenen, verbeulten Ford-Transit Lieferwagen und raunte Veena zu: „Der alte Kasten da, mit dem seltsamen Zeichen auf der Tür ist es.“ Und bevor sie ihn fragen konnte, woher er das wüsste, erzählte er rasch von der Tätowierung. Als sie bei dem Fahrzeug angekommen waren, klopfte Jolan erst vorsichtig und dann noch mal entschiedener an die Fahrertür, obwohl er ahnte, dass Regin nicht da war. Sie warteten einen Augenblick, aber es tat sich natürlich nichts. Darauf spähten sie in den Wagen hinein, doch ein schwarzer Vorhang hinter den beiden Vordersitzen verhinderte ein Blick in den Fond. Sie sahen sich auf dem Platz um, offensichtlich war außer ihnen keine Menschenseele bei den Fahrzeugen. Es war jetzt drückend heiß und Jolan schwitzte in seiner langen Hose und den Sneakern. Veena pustete sich gerade eine Locke aus der Stirn, während sie das mit silberner Farbe gemalte Zeichen auf der Tür eingehender betrachtete.
„Seltsam, nicht wahr?“, sagte Jolan hinzutretend, „… und schau nur, hier sind überall auf dem Wagen kleine Schriftzeichen“, fuhr er fort. Sie gingen um den Ford herum und entdeckten unzählige, fein säuberlich gemalte, silberne Runenlinien. Das Fahrzeug hatte im hinteren Bereich, außer an der ebenfalls schwarz verhängten doppelten Hecktür, keine weiteren Fenster. Veena beschattete ihr Sichtfeld, indem sie ihre Flipflops seitlich an das Gesicht hielt und so nochmals durch die Scheibe der Beifahrertür in den Wagen spähte. „Hmm …, sieht ziemlich verramscht da drinnen aus …“, meinte sie und wandte sich Jolan zu, „… tja, das war wohl nix …, was machen wir nun?“
„Jetzt …, jetzt gehen wir endlich schwimmen!“, sagte er und freute sich über ihr strahlendes Lächeln.
Trotz der Hitze hielten sie den Kleinbus an, der mehrmals am Tag zwischen der Lebensgemeinde und dem Dorf hin und her pendelte.
Rudi, der Busfahrer, begrüßte sie überschwänglich, auch er war ein Bewohner der Ökogemeinschaft auf dem Berg. Ihm machte die Hitze nicht zu schaffen: Er war von sehr dunkler Hautfarbe, hatte schneeweiße Zähne und dicke Rastazöpfe, sowie ständig gute Laune. Alles an ihm sah nach Jamaika aus, er trug ausschließlich gelb-rot-grüne Klamotten, die immer noch irgendwie mit schwarz kombiniert waren - Jolan und Veena wussten, dass er darauf seltsamerweise besonderen Wert legte - außerdem lief in seinem Bus natürlich immer nur Reggae-Musik von Bob Marley. Jolan glaubte, dass er bestimmt der einzige Rastaman namens Rudi auf der ganzen, weiten Welt war.
Zu Hause angekommen schnappten sie sich ihre Badesachen und fuhren mit Veenas Fahrrad - sie saß auf dem Gepäckträger - zu dem kleinen Waldsee hinaus, den die Leute von der Lebensgemeinde eigens gepachtet hatten. Hier lief ein ökologisches 'Renaturierungs-Projekt', aber der See durfte auch zum Baden benutzt werden. Zum Glück! Denn es war wunderschön hier, das Wasser war sehr sauber und fühlte sich herrlich weich an. Um sie herum nur der stille Wald und ansonsten keine anderen Badegäste. Es gab auch einen hölzernen Steg, über den man ins Wasser gehen konnte, am seinem Ende war eine Treppe, da es verboten war in den See zu springen, denn in ihm lebten auch viele Fische und die konnten den Lärm von planschenden Menschen gar nicht gut vertragen. Auch konnte man nicht so einfach vom Ufer aus baden gehen, nur an dem dafür angelegten kleinen Sandstrand, der kaum zwei Meter breit war.
Ansonsten war das Seeufer komplett mit Schilf bewachsen und hier lebten und nisteten verschiedene Vögel, Frösche, Kröten und diverse andere selten gewordene Tierarten, die geschützt werden mussten. Es gab hier auch kaum störende Stechbremsen wie sonst üblicherweise an anderen Gewässern. Ständig flogen kleine und manchmal wahrhaft riesige Libellen jagend über die Wasseroberfläche. Man durfte eben nicht herumtoben oder sonst wie den Lauf der Natur stören. Es war eher so, als würde man eins mit der Umgebung werden. Als Jolan mit Veena durch das stille Wasser glitt, während die Libellen mit atemberaubender Eleganz über ihre Köpfe flitzten, fühlte er sich wie in einem Traum. Jetzt erschien ihm die ganze Sache mit Regin, samt der angedeuteten Rückkehr der umweltheilenden 'Ewigen Wälder' völlig unwirklich und rückte in weite Ferne.
Im Verlauf des Nachmittages, als die Sonne nicht mehr so direkt brannte, sonnten sie sich auf dem Holzsteg. Und abgesehen davon, dass Jolan verstohlen Veenas Körper in dem knappen Bikini bewunderte, redeten sie viel miteinander. Sie erzählte ihm, dass sie es leid gehabt hätte in der Schule als eine von den verrückten 'Hippies' zu gelten und sich deshalb die Haare hatte schneiden lassen sowie auch ihre schrägen Pippi Langstrumpfartigen Klamotten aufgegeben habe. Sie wollte einfach nur ein ganz 'normales' Mädchen sein. Jolan machte ihr Mut und sagte, wie gut sie ihm jetzt gefalle. Daraufhin sah sie ihn wieder mit so einem Blick an, dass ihm ganz seltsam zumute wurde. Er wechselte irritiert das Thema und erzählte dann von den Problemen seiner Eltern. Wie sehr er sich wünschte, dass sie zusammenbleiben würden, weil er überhaupt keinen Bock darauf hatte in Zukunft zwischen ihnen hin und her gereicht zu werden. Was Veena gut verstehen konnte, ihre Eltern hatten sich getrennt, als sie noch keine drei Jahre alt war. Ihr Vater besuchte sie leider sehr selten, nur an ihren Geburtstagen und manchmal ganz überraschend, zwischendurch. Er sprach nie viel, aber er war lieb und nett zu ihr und sie mochte ihn. Er hielt sich nie an irgendwelche Abmachungen, die Veenas Mutter immer wieder versuchte einzufordern und so hatten sich ihre Eltern letztes Jahr zu Weihnachten fürchterlich gestritten, eigentlich hatte sich nur ihre Mutter mit ihm gestritten, denn sie schrie die ganze Zeit und er sagte gar nichts. Am Ende verbot sie ihm je wieder Kontakt zu ihrer Tochter aufzunehmen. Seitdem hatte Veena nichts mehr von ihrem Vater gesehen oder gehört und jetzt wusste sie nicht auf wen sie wütender war, auf ihre Mutter oder ihren Vater. Sie tat Jolan aufrichtig leid.
Die Zeit verging wie im Fluge und so fuhren sie erst gegen zehn Uhr Abends zurück. Als sie durch die Pforte in Ellas Garten traten, kam ihnen Chris entgegen. „Ich wollte gerade losfahren, um nach euch zu suchen!“, sagte er, „… deine Mama ist auch hier, Veena. Sie hat sich schon Sorgen gemacht.“
Er deutete mit dem Daumen über seine Schulter zur Terrasse. Barbara, Veenas Mutter, kam bereits mit vorwurfsvollem Blick auf Jolan heran und hielt ihnen dann die übliche Predigt wie Eltern es in solchen Situationen eben tun. Jolan fühlte sich glatt verpflichtet, sich zu entschuldigen und in Zukunft besser aufzupassen. Obwohl, worauf eigentlich, dachte er … auf Veena vielleicht? Oder nur darauf, dass es nicht zu spät wurde? Immerhin war sie ja etwas älter als er,… aber im Zweifelsfall bekommt man als Junge in solchen Fällen irgendwie eher die Schuld zugewiesen. Das war hier in der Lebensgemeinde auch nicht anders als sonst wo, sinnierte er ein wenig gedankenverloren.
Der Abend wurde dann aber noch sehr schön, Ella hatte den Grill befeuert und Salate angerichtet. Wie alle Bewohner der Lebensgemeinde, aß sie kein Fleisch und daher kamen in Knoblauchöl eingelegte Auberginenscheiben sowie Paprikaschoten auf den Grillrost. Chris hatte seine beliebten Zucchini-Bratlinge vorbereitet, und schon bald brutzelten diese ebenfalls auf dem Rost. Später saßen sie alle noch lange am Feuer beisammen, Ella und Barbara unterhielten sich leise und Chris klimperte auf seiner Gitarre herum. Jolan saß mit Veena zusammen auf der alten Hollywoodschaukel, sie hatte ihre Beine untergeschlagen und ihren Kopf an seine Schulter gelegt. Sie tat so, als sei sie eingeschlafen. Am liebsten hätte Jolan ihre Hand genommen, traute sich aber nicht. In seinem Bauch hatte er ein Gefühl, als versuche ein Schmetterling zu fliegen und ihm wurde bewusst auf dem besten Wege zu sein, sich richtig heftig zu verknallen.
Er hatte sich zwar auch schon früher mal verliebt, aber das war immer nur aus der Entfernung gewesen. So nah wie jetzt war er noch nie einem Mädchen gewesen. Dabei hatten sie sich heute erst wiedergesehen! Genau genommen einen halben Tag erst,… und schon verknallt? Jolan drehte sich der Kopf. Seitdem er hier war … er konnte es gar nicht fassen, dass es tatsächlich erst der zweite Tag war, passierten ihm die unglaublichsten Sachen. Erst die ganze Geschichte mit Regin und nun saß er hier mit einer super hübsch gewordenen Veena, die sich an ihn schmiegte …, als ob das alles nicht schon aufregend genug wäre!