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Kapitel 3.

Jolan wachte am nächsten Morgen früh auf, im Haus regte sich noch nichts. Er hatte einen total wirren Albtraum gehabt: Er war wieder auf dem mittelalterlichen Markt gewesen und suchte Regin mit seinem Stand, aber der war nicht mehr da. So sehr er auch suchte, der Zwerg blieb verschwunden. Da fiel ihm der Schwertschlucker ein, vielleicht wusste der, wo Regin war. Kaum hatte er diesen Gedanken gehabt, kniete der Schwertschlucker auch schon direkt vor ihm. Er röchelte fürchterlich und rang verzweifelt nach Luft. Aus seinem weit geöffneten Mund ragte genau jenes Schwert, welches Regin ihm gezeigt hatte und das für ihn bestimmt sein sollte! Warum hatte sich der Mann bloß die runenverzierte Waffe in den Hals gesteckt? „Wenn er das mit einer meiner Klingen versuchen würde, wäre das freilich sein letzter Auftritt gewesen“, hatte Regin gesagt. Die Worte des Zwerges hallten in seinem Kopf wieder. Jolan ergriff das Schwert, um dem Armen zu helfen, aber er konnte sich nicht überwinden, es herauszuziehen. Jolan kniff die Augen zu, während seine Hand sich um den Schwertgriff verkrampfte. Oh mein Gott, ich werde es bestimmt vermasseln, dachte er verzweifelt. Der Mann röchelte plötzlich nicht mehr. Die Augen wieder öffnend, stellte Jolan verwundert fest, dass er statt des Schwertes seinen Bogen umklammert hielt und der Schwertschlucker nicht mehr da war. Nun befand er sich auf der sumpfigen Wiese mit dem Schießstand wieder und vor ihm ragte ein riesiger Baum auf. Noch nie zuvor hatte Jolan einen derart großen Baum gesehen, es schien ihm, als würde er bis in den Himmel wachsen. Dies musste die sagenhafte Weltenesche sein! Über ihm, in der beginnenden Baumkrone, sah er Regin, er hielt die kleine schwarze Truhe in den Händen und holte eine große Mango daraus hervor. „Befolge die Anweisungen!“, krähte er zu ihm herunter, „befolge die Anweisungen, Jolan!“ Dann warf er die Frucht herab; plötzlich sprang ein großes Eichhörnchen aus dem Geäst und schnappte sich die Mango im Fluge. Ich darf es nicht vermasseln, dachte Jolan, spannte seinen Bogen und holte das Eichhörnchen gleich mit dem ersten Pfeil herunter. Getroffen! Die Aufregung schoss ihm durch Mark und Bein. Er rannte zu dem heruntergefallenen Tier, es war mindestens so groß wie ein Hase. Das Eichhörnchen sah ihn vorwurfsvoll an und hielt ihm die Frucht entgegen, entsetzt erkannte Jolan, dass es ein blutiges Gehirn war. „Yggdrasil!!“, kreischte das Tier ihn an, „Yggdraasiiiiiiil!!!“

Das fürchterliche Gekreisch mischte sich mit dem lauten morgendlichen Vogelkonzert, welches aus dem Garten durch das halbgeöffnete Fenster hereinkam. Davon erwachte er letztendlich und wurde so aus seinem Traum befreit.

Oh Mann …, dachte Jolan, was für ein wirrer Alptraum. Gleichzeitig genoss er das sich einstellende, erleichternde Gefühl, nur geträumt zu haben. Vielleicht könnte er noch ein bisschen schlafen, allerdings nicht bei diesem lauten Gezwitscher, das von draußen hereinkam! Er erhob sich und schlurfte zum Fenster, um es zu schließen. Als er nach dem Fenstergriff greifen wollte, durchzuckte ein stechender Schmerz seinen Arm. Natürlich, er hatte einen ordentlichen Muskelkater vom gestrigen Bogenschießen mit Chris. Gähnend schloss er das Fenster, schaute dabei in den Garten hinaus und erschrak sich so sehr, dass ihm ein ersticktes Stöhnen entfuhr.

Dort unten am Gartenzaun stand Regin, und sah zu ihm herauf!

Der Zwerg nickte kurz und machte eine Handbewegung, dass er herauskommen solle. Jolan brauchte einige Augenblicke, um sich von dem Schrecken zu erholen, aber schließlich erwiderte er zögerlich Regins Nicken. Er schlüpfte hastig in seine Kleidung und schlich die Treppe hinunter. Vor dem Hinausgehen horchte Jolan noch mal ins Haus hinein … alles war ruhig und so lief er kurz darauf über die Terrasse und fröstelte im ersten Moment, als er mit seinen bloßen Füßen in das kalte, taunasse Gras schritt. Abrupt verharrte er, weil Regin nicht mehr am Zaun stand, sondern den schmalen Trampelpfad in den Wald genommen hatte, der seitlich an dem Gartenzaun entlang führte. Dieser war hier kaum noch vorhanden, lediglich ein paar schiefe und völlig verwitterte Pfähle mit den Resten eines Maschendrahtzauns, grenzten das Grundstück ein. Dort befand sich auch ein kleines Gartentor, welches allerdings seit Jahren geöffnet in seiner Angel hing.

Jolan begriff, dass Regin lieber an einer geschützten Stelle auf ihn warten wollte; der Garten war zur Waldseite hin stark verwildert und dicht mit hohen Sträuchern bewachsen, daher bahnte er sich seinen Weg zu dem versteckten Eingang und traf dort wie erwartet, auf den Zwerg.

„Du hast es noch nicht vollbracht, oder?“, fragte Regin ihn, anstatt einer Begrüßung. Die seltsame Erscheinung des Zwerges wirkte jetzt, ohne das Umfeld des mittelalterlichen Marktes, noch wunderlicher. Die gedrungene Gestalt mit dem geflochtenen Haar und Bartzöpfen, der auffälligen Tätowierung auf der Stirn und komplett in Leder gekleidet, wirkte wahrlich wie einem Film entsprungen.

„Nein ich …“, begann Jolan und fragte sich dabei, warum er das Gefühl hatte, einer Verpflichtung nicht nachgekommen zu sein, „… ich konnte es einfach noch nicht tun“, fuhr er fort und fasste den Entschluss, sich gar nicht erst von Regin bedrängen zu lassen. „Ich meine, wenn Ihnen die Sache mit dem Samen und der Weltesche so wichtig ist, warum erwecken Sie ihn dann nicht selbst, warum soll ausgerechnet ich das tun?“ Der Zwerg sah ihn einen Augenblick lang an und machte eine beschwichtigende Miene, während er langsam nickte.

„Also gut, Jolan“, erwiderte er dann, „sag bitte du zu mir, nenn mich einfach Regin;… und nun lass uns ein wenig spazieren gehen, dann werde ich dir alles erklären, in Ordnung?“ Er lächelte freundlich und machte eine Kopfbewegung, um ihn zu ermuntern dem Pfad entlang in den Wald zu folgen. Jolan verharrte kurz, aber er ging davon aus, dass von dem Zwerg keine Gefahr ausging. Er war vielleicht ein merkwürdiger Kerl, doch sicherlich wollte er ihm nichts antun.

„Einen Moment …“, sagte er deshalb, „ich muss noch schnell meine Schuhe holen.“

Regin lachte auf, während er auf Jolans Füße blickte. „Ah, das macht nichts, hier auf dem Pfad ist der Untergrund weich und ich denke, du willst während unserer Unterhaltung den Boden unter den Füßen spüren, habe ich recht?“, meinte er augenzwinkernd, „und außerdem möchtest du doch niemanden im Haus wecken, also komm jetzt“, schloss er und ging voraus.

„Da brauchen Sie,… äh, ich meine du, dir keine Sorgen zu machen. Es ist gerade mal sechs Uhr und vor neun wachen die beiden in den Ferien sowieso nicht auf“, erwiderte Jolan ihm nachfolgend.

Sie gingen eine Weile schweigend den schmalen Weg entlang und kamen auf einer Lichtung an, hier setzten sie sich auf einen umgestürzten Baumstamm.

„Du hast doch bestimmt die Anleitung gelesen?“, fing Regin an und auf Jolans Nicken hin sprach er weiter: „Diese Anweisungen habe ich mir nicht einfach ausgedacht, wie ich dir bereits sagte, handelt es sich vielmehr um die Übersetzung einer alten Runeninschrift. Die Tafel mit diesen Runen befand sich samt dem Kästchen mit dem Keimling Yggdrasils bei einer Moorleiche.“

„Einer Moorleiche …!“, wiederholte Jolan ein wenig schaudernd, das hörte sich ziemlich gruselig an. „Ja, so ist es …“, erwiderte Regin, „es handelte sich um ein Menschenopfer, die Schatulle mit dem Samen samt Tafel, waren in die verschränkten Arme, auf die Brust des Geopferten, gebunden worden. Die alten Germanen opferten aus religiösen Gründen ab und wann Menschen, ich nehme an, dass dieser Mann seinerzeit dem Wodan geopfert wurde, weil er den Samen nicht erweckt hatte“, hier machte er eine Pause und betrachtete Jolan aufmerksam, bevor er fortfuhr.

„Wir können davon ausgehen, dass er den Keimling als Kind bekommen haben muss, denn wie du weißt, steht geschrieben, dass nur Kinder als Empfänger für Wodans Geschenk infrage kommen. Daher kann nicht ich den Kern erwecken; jedenfalls,… aus irgendwelchen Gründen hat dieser Junge die Zeit verstreichen lassen, ohne den Samen zu beleben. Vielleicht hatte er einfach Angst …, allerdings fürchteten seine Stammesgenossen den Zorn des obersten Gottes und haben ihn wahrscheinlich deshalb geopfert. Er hatte das in ihn gesetzte Vertrauen des Allvaters nicht gewürdigt und so sein Leben verwirkt.“ Regin unterbrach seine Rede, weil er merkte, dass Jolan etwas fragen wollte.

„Woher wusstest du von der Moorleiche und woher weißt du überhaupt von all diesen Dingen?“ Alles, was Regin ihm erzählt hatte, klang sehr spannend und er merkte, wie seine Aufregung anstieg, weil er wieder das Gefühl hatte, Teil eines unglaublichen Abenteuers zu sein. Anderseits wollte er jetzt genau wissen, worum es ging und auch prüfen, ob Regin vielleicht doch nur ein seltsamer Spinner war.

„Ich habe mich nicht in dir getäuscht, Jolan. Du bist misstrauisch, aber nicht ängstlich“, antwortete der Zwerg anerkennend und erklärte dann: „Ich beschäftige mich schon seit vielen Jahren mit den Geheimnissen alter Runeninschriften, immer auf der Suche nach dem verlorenen Wissen Yggdrasils und der alles heilenden Macht der Ewigen Wälder. Dabei stieß ich auf die Geschichte von diesem besonderen Wodansopfer, mit recht genauen Angaben, wo es stattgefunden hatte. Nachdem ich feststellte, dass an der angegebenen Stelle, tief in einer einsamen Moorlandschaft gelegen, noch keine archäologischen Ausgrabungen stattgefunden hatten, beschloss ich, auf eigene Faust nach der Moorleiche zu suchen. Wie ich bereits erklärte, opferten die alten Germanen ihrem einäugigen Gott, dem Allvater Wodan, immer wieder Menschen. Meistens wenn großes Unglück über sie hereinbrach; Seuchen oder Missernten, Fluten und andere Wetterkatastrophen ihre Sippen heimsuchten, gedachten sie mit diesen Opfern ihren vermeintlich zornig gewordenen Gott zu beschwichtigen. Oft waren dies bedauernswerte Kriegsgefangene nach gewonnenen Schlachten, aber in Einzelfällen auch Angehörige ihrer eigenen Dorfgemeinschaft. Das nebelverhangene, geheimnisvolle Moor war ihnen heilig, unsere Vorfahren glaubten, dass an solchen Orten der Übergang von der Menschenwelt zur Götterwelt sei, deshalb wurden die Opfer dem Moor übergeben. Du hast vielleicht schon davon gehört, dass im Moor Gegenstände, aber auch Leichen konserviert werden und so mumifizieren. Ich machte mich also voller Hoffnung auf die Suche und verbrachte viele anstrengende Wochen in der einsamen Wildnis. Schließlich gelang es mir tatsächlich, die Moorleiche zu finden und zu bergen. So kam ich in den Besitz des Keimlings und der Runentafel mit den Anweisungen.“

„Wahnsinn …“, meinte Jolan beeindruckt, „… und auf der Tafel stand nichts Genaueres darüber was passiert, wenn der Samen wirklich erweckt würde?“

„Nur dass die Kraft Yggdrasils erwacht, und die Zeit der Ewigen Wälder auf Erden zurückkehre, so wie einst“, Regin zögerte kurz, „… die Macht des alten Waldes ist heilsam für Mensch und Tier, für den ganzen Planeten. Es liegt jetzt an dir, Jolan …“, der Zwerg hielt einen Moment inne, bevor er fortfuhr: „…denn um das Erbe Yggdrasils zu erwecken, sind die Anweisungen unbedingt bindend, nur Kinder oder Jugendliche kommen als Empfänger für das Geschenk Wodans in Betracht. Der Gott wird schon seine Gründe dafür gehabt haben.“

Jolan dachte einen Augenblick nach. „Glaubst du denn, dass es Wodan tatsächlich noch gibt,… ich meine, wenn es ihn je gegeben hat?“ Regin sah ihn eine Weile an, bevor er antwortete: „Wer weiß, warum sollte es ihn nicht geben? Viele Menschen glauben zum Beispiel an den lieben Gott im Himmel, ohne jemals einen Beweis für seine Existenz bekommen zu haben.“

Da war was dran, dachte Jolan. Er selbst hatte sich noch nie ernsthaft darüber Gedanken gemacht, wirklich an Gott zu glauben. In seiner Familie spielte die Religion keine große Rolle.

„Aber jetzt bietet sich für uns die unglaubliche Gelegenheit herauszufinden, dass Wodan wahrhaftig ist“, meinte Regin dann bestimmt.

Bei diesen Worten merkte Jolan, dass die eindringliche Überzeugung des Zwerges eine große Aufregung in ihm auslöste. Könnte das wirklich sein, dachte er, eine echte Fantasygeschichte … losgetreten von mir? Jolan schüttelte seinen Kopf, immer mit der Ruhe, sagte er sich. „Weißt du …“, begann er daher, „… ich werde mir die Sache noch mal überlegen. Immerhin muss ich ja nicht befürchten, deswegen gleich geopfert zu werden.“ Regin lachte rau und klopfte ihm besänftigend auf die Schulter. „Nicht jetzt und auch nicht später, Jolan!“ Er ließ seine prankenhafte Hand kameradschaftlich auf Jolans Schulter liegen. „Warum willst du warten, was hast du schon zu verlieren als ein paar Tropfen Blut?“

„Ja schon, aber wie soll ich an mein Blut kommen? Ich meine mit einem Küchenmesser … oder reicht eine Nadel?“ Wahrscheinlich hält er mich jetzt für ein Baby, dachte Jolan. Aber der Zwerg nickte wieder nur und sagte: „Das habe ich mir gedacht, genau deshalb bin ich heute Morgen hergekommen.“ Er griff in seine Jacke und holte einen kleinen Dolch, schmal und zierlich wie ein Brieföffner, hervor. „Die Klinge dieses Messers ist mit magischen Runen versehen, du wirst keinen Schmerz spüren und die Wunde wird schnell verheilen.“

Jolan nahm den Dolch entgegen und drehte ihn hin und her.

„Okay!“, sagte er plötzlich entschlossen, „ich werde es tun, ich suche eine geschützte Stelle im Garten und werde den Samen einpflanzen!“ Regin erhob sich. „Das ist gut Jolan, sehr gut“, erwiderte er zufrieden. Sie gingen gemeinsam den Pfad zurück zur Gartenpforte. Dort angekommen, hob der Zwerg nochmals an: „Verliere keine Zeit Jolan, die Sommerferien sind schnell vorbei. Und befolge genau die Anweisungen, bedenke welche Mühe es mich gekostet hat, diesen einen Keimling Yggdrasils zu bekommen!“

Jolan nickte und dachte an das schreckliche Schicksal des geopferten Mannes. „Was hast du eigentlich mit der Moorleiche gemacht?“, fiel ihm da ein.

„Ich habe sie wieder dem Moor zurückgegeben, natürlich mit gebührender Ehrfurcht und Schutzrunen versehen. Ich halte nicht viel davon, Verstorbene wie Ausstellungsstücke in gläsernen Kästen zu präsentieren!“, antwortete Regin mit erhobenem Kinn. Damit verabschiedete sich der Zwerg und versprach schon bald wieder vorbeizukommen, zuletzt beschwor er Jolan nochmals, das Geschenk Wodans, so bald wie möglich, zu beleben.

Kurz darauf saß Jolan wieder in seinem Zimmer, er hatte den geheimnisvollen Kern hervorgeholt und betrachtete ihn nachdenklich. Wegen diesem Ding war einst ein Mensch getötet worden; zwar war das vor langer Zeit geschehen, aber immer noch unheimlich genug. Er hatte nicht daran gedacht zu fragen, vor wie langer Zeit das alles geschehen war, aber Jolan konnte sich daran erinnern, dass die Epoche der alten Germanen mit der des Römischen Reiches einherging. Es war also durchaus möglich, dass der Geopferte bald zweitausend Jahre im Moor gelegen hatte, bevor er von Regin gefunden wurde. Viele Jahrhunderte lang hatte der Samen an der Brust des Toten gelegen und nun hielt er ihn in den Händen, irgendwie war das ein beklemmendes Gefühl. Jolan legte den Kern auf die Tischplatte, um sich noch mal genau die Schrift mit den Anweisungen anzuschauen. Wie war das bei Punkt zwei? Man sollte dem Samen seinen Atem schenken,… ihn anhauchen. Er nahm erneut den Keimling auf und schnüffelte vorsichtig an ihm. Wahre Ewigkeiten hatte das Ding bei einer Leiche gelegen, kein Wunder, dass es muffig roch. Dann nahm Jolan den kleinen Dolch zur Hand und ihm fiel ein, dass er sich gar nicht dafür bedankt hatte. Allerdings hatte der Zwerg auch nichts von einem Geschenk gesagt, vielleicht würde er ihn bei seinem nächsten Besuch wieder zurückhaben wollen. Jolan zog das Messer aus der Scheide, sie war aus einem hellen, kurzhaarigen Fell gefertigt; dann betrachtete er die schmale Klinge und die darauf eingravierten feinen Zeichen. Das waren also magische Runen, die laut Regins Worten Schmerzen verhinderten und den anschließenden Heilungsprozess beschleunigen konnten. Wie zur Probe drückte er vorsichtig die Schneide an seine linke Handfläche,… und augenblicklich fielen einige große Blutstropfen auf die Tischplatte!

„Ach du Scheiße,… Scheiße!, entfuhr es Jolan erschrocken. Reflexartig schloss er die verletzte Hand zur Faust, um die Blutung zu stoppen. Das blöde Ding war ja schärfer als eine Rasierklinge, dachte er.

Und dabei hatte er gar nichts bemerkt, keine Schmerzen, auch jetzt noch nicht. Jolan wollte gerade aufspringen, um sich im Badezimmer zu verarzten, hielt aber jäh inne und gemahnte sich zur Ruhe. Einen Moment lang horchte er lauschend, ob jemand geweckt worden war, aber es blieb weiterhin alles ruhig im Haus.

Langsam öffnete er wieder seine Hand und sofort klatschten erneut zwei Tropfen Blut auf den Tisch. Also gut, dann mach ich es eben jetzt gleich, vielleicht ist es so in Wodans Sinne, beschloss Jolan und ein Schauer lief ihm bei diesem dramatischen Gedankengang den Rücken hinunter. Umständlich zog er sich mit der rechten Hand sein T-Shirt über den Kopf und besann sich nochmals einen Augenblick, bevor er den Keimling mit der flachen unverletzten Hand auf die nackte Brust, an sein Herz presste. Er schloss die Augen und versuchte sich tief einund ausatmend, zu beruhigen. Es kostete ihn seltsamerweise gar keine Mühe, dabei nur an sich und den Samen Yggdrasils zu denken. Yggdrasil,…Yggdrasil, dachte er und wurde immer ruhiger, während sein Herz langsam und rhythmisch schlug. Er spürte wie sich der Kern an seiner Brust erwärmte, dann wurde er fast heiß, aber Jolan blieb weiterhin ruhig und konzentriert. Langsam tauchten hinter seinen geschlossenen Augenlidern gleichzeitig drei Worte auf.

„Ansuz – Gebo – Dagaz“, sprach Jolan in die Stille des Zimmers. Ihm war jetzt leicht schwindelig, er führte den erhitzten Samen wie willenlos an seinen Mund, holte tief Luft und hauchte, wieder ausatmend, lange auf den Keimling. Dieser fing in seiner Hand zu summen an, so als würde er unter Strom stehen. Jolan bemerkte, dass der Samen ganz sachte pulsierte. Dann öffneten sich die Windungen auf der Oberfläche, die so sehr an ein Gehirn erinnerten.

Etwas in ihm sagte, dass er eigentlich entsetzt sein müsste, aber er fühlte irritierenderweise nur Freude in sich. Nun hielt Jolan seine verletzte Hand über den Kern und erst langsam, aber dann immer schneller, tropfte sein Blut auf diesen herab. Die offenen Windungen saugten das Lebenselixier förmlich auf und schlossen sich nach einigen Sekunden wieder. Der Keimling pulsierte jetzt stark und fühlte sich nicht mehr hart und trocken an, sondern weich und geschmeidig. Er lebt, er lebt tatsächlich!, dachte Jolan glücklich, erhob sich lächelnd und trug den erweckten Kern behutsam die Treppen hinunter, durch das Haus bis in den Garten.

Zielsicher schritt er in den verwilderten Teil und kniete sich unter einen großen Haselstrauch. Hier grub er ein kleines Loch in die weiche, dunkle Erde und pflanzte den Samen vorsichtig ein. Zuletzt hielt er abermals seine verletzte Hand darüber und ließ einige Blutstropfen auf die Erde herabfallen. Darauf sprach er mit kontrollierter Stimme die Worte: „Eihwaz – Uruz – Laguz.“

Jolan hockte wohl noch eine Weile dort, seine Hand hatte aufgehört zu bluten und schließlich erhob er sich taumelnd. Eine starke Müdigkeit hatte ihn überkommen und sein Kopf war wie leergefegt. Er ging ins Haus, schwankte die Treppe hinauf in sein Zimmer und kroch, so wie er war, ins Bett und schlief auf der Stelle ein.

Nachdem Regin sich von Jolan verabschiedet hatte, verbarg er sich im Unterholz in der Nähe des Gartens und wartete. Der Zwerg war überzeugt, dass die Dinge jetzt ihren Lauf nehmen würden, und wenig später wurde seine Zuversicht belohnt. Mit angehaltenem Atem beobachtete er den Jungen beim Einpflanzen des Keimlings unter dem Haselstrauch.

Endlich war es vollbracht! Zufrieden wartete Regin bis Jolan wieder ins Haus gegangen war, dann nahm er seinen ledernen Rucksack aus dem Gebüsch hervor, den er vor dem Gespräch mit dem Jungen dort versteckt hatte. In ihm befanden sich verschiedene Utensilien, die der Zwerg für das was er jetzt vorhatte, benötigte; unter anderem einen schweren Hammer und ein Stemmeisen.

Anschließend schlug er den Weg rechts von Ellas Garten ein. Dieser ging am Waldrand entlang leicht, aber stetig bergauf. Er ließ die links des Pfades liegenden Pferdekoppeln, welche auch zur Lebensgemeinde gehörten, hinter sich und folgte dem Weg weiter, der ihn nun wieder zurück in den Forst führte. Nach einiger Zeit des bergauf Wanderns, kam er an ein Schild, das auf einen schmalen Trampelpfad zur höchsten Stelle des Reiherberges hinwies, auf der ein Aussichtsturm für Touristen stand. Hier ging es zunächst steil aufwärts bis zu einer Anhöhe vor dem eigentlichen Gipfel. Regin machte eine kleine Pause, obwohl sein Atem nach dem zurückgelegten Anstieg kaum schneller ging. Trotz seines Alters war der Zwerg noch gut zuwege, er wusste, dass seine Kraft und Zähigkeit, die der meisten Menschen übertraf, aber ihm war auch genauso bewusst, dass diese Kraft mit jedem Tag der verging, nachließ. Das profane Altern, welches alle Geschöpfe dieser Menschenwelt betraf, galt auch für ihn. Seit vielen Jahren schon hatte er den Zenit seiner Kräfte überschritten und nun wurde er mit jedem Jahr schwächer und älter, bis zu seinem unweigerlichen Tod. Zumindest hier in Midgard, so war es Gesetz und Bestimmung für die Zwerge seit Anbeginn aller Zeiten. Nur in den jenseitigen Welten, war ewiges Leben und Alterslosigkeit möglich.

Regin schaute zwischen den Bäumen zu dem kahl geschlagenen Gipfel hinauf, wo der hölzerne Touristenturm thronte. Er schnaufte verächtlich und schlug jetzt einen kleinen, unscheinbaren Weg ein, der rechts um den Gipfel herumführte. Zunächst etwas bergab und bald wieder bergauf, immer tiefer in den Reiherberger Forst hinein. Nach einer Weile verlor sich der kaum noch erkennbare Pfad im dichten Unterholz, aber Regin kannte sein Ziel. Durch das Gestrüpp hindurch kämpfte er sich bis auf eine weitere baumlose Anhöhe vorwärts zu einer Lichtung mit einem kleinen Hügel mitten im Wald. Nur Regin kannte das Geheimnis dieses Ortes. Nur er allein wusste, dass es ein Grabhügel war. Kein Archäologe oder Hobbyforscher ahnte, dass sich hier unter dieser Anhöhe das steinerne Grab eines einst legendären Germanenkriegers verbarg. Vor zwei Monaten im Frühjahr war Regin bereits hier gewesen, um den Eingang zur Grabkammer freizulegen und dann wieder sorgfältig zu tarnen. Nun war er wieder hier, weil die Zeit gekommen war. Wodans Geschenk hatte einen Erben gefunden, jetzt konnte er die Ruhestätte endlich öffnen!

Regin räumte das tarnende Geäst beiseite und legte so die große Steinplatte frei, welche den Zugang zur inneren Kammer verschloss. Er holte den Hammer hervor und setzte das Stemmeisen am oberen Rand der Platte an. Der Zwerg hielt einen Augenblick inne und holte ein paar Mal tief Luft, ein für ihn eher seltenes Gefühl überkam ihn: Aufregung!

Jetzt würde sich zeigen, ob er alle Runen richtig gedeutet hatte, ob seine jahrelange Suche kreuz und quer durch Nordeuropa nach allen Puzzleteilen dieses Geheimnisses erfolgreich gewesen war. Er sammelte sich und schlug mit einigen entschlossenen, kräftigen Hieben das Stemmeisen tief in die Ritze zwischen der Eingangsplatte und dem riesigen Felsen, welcher die Decke des Grabgewölbes unter dem Erdhügel bildete. Dann ruckelte er das Eisen wieder heraus und wiederholte diese anstrengende Prozedur rund um die ganze Platte. Anschließend setzte er das Stemmeisen wieder am oberen Rand an, spannte seine mächtigen Muskeln an und stemmte das Eisen mit aller Kraft nach oben. Wie dicke Taue traten Regins Adern am Hals, Schläfen und Stirn hervor und er spürte, wie der Stein unter seinen eisernen Kräften nachgab. Kurz bevor ihm die schwere Platte entgegen fiel, schritt er rasch zurück, um nicht von ihr erschlagen zu werden. Mit einem dumpfen Geräusch schlug der Stein vor seinen Füßen auf den Boden. Der Zwerg widerstand dem Impuls, die Grabkammer sofort zu betreten; stattdessen wandte er sich ab und stieg seitlich den Grabhügel hinauf. Hier verharrte er einen Moment und horchte aufmerksam in den Wald hinein. Nein …, er war allein. Kein Mensch hatte sein Tun bemerkt. Mit einem zufriedenen Brummen kletterte Regin wieder hinab zum Eingang des Grabes, kramte eine Taschenlampe aus dem Rucksack und betrat, über die gefallene Eingangsplatte steigend, die Gruft.

In dem kleinen Raum, der die eigentliche Grabkammer bildete, konnte selbst er nicht aufrecht stehen. Im fahlem Licht der Taschenlampe sah er sofort den steinernen Sarg in der Mitte der Kammer, dieser war geöffnet und wie er sich sofort vergewissern konnte, leer!

Erleichtert stieß Regin die angehaltene Luft aus, alles war genau, wie er es erhofft hatte. Kein Leichnam war in dem Sarg, auch keine Überreste davon; weder Kleidung, noch Waffen. Der Sarg war einfach nur leer. An der Seite des Sarkophags lehnte eine rechteckige, ebenfalls steinerne Platte: der Sargdeckel. Rasch ließ Regin den Strahl seiner Lampe darüber gleiten. Die eingravierten Runen bestätigten endgültig, dass seine Suche erfolgreich gewesen war:

> Hier ruht Albio – der letzte wahrhaft Asentreue – der letzte Streiter für Wodans Sache <, las er.

Der Zwerg holte abermals tief Luft, um sich erneut zu sammeln,… so lange hatte er auf diesen Augenblick gewartet. Hier war der legendäre Kriegerfürst Albio von seinen letzten Getreuen vor gut 1200 Jahren bestattet worden. Irgendwann, um das Jahr 804 n. Chr. herum, wusste Regin, war Albio, nach langen und schweren Kämpfen gegen die Soldaten Karls des Großen, gefallen. Mit seinem Tode brach der Widerstand aller restlichen asentreuen Sachsen gegen die Übermacht der Franken, zusammen. Albios Ruhm geriet dann rasch in Vergessenheit, dafür sorgten die christlichen Priester der siegreichen Franken mit Feuer und Schwert. Anschließend wurde die Geschichte einfach zugunsten Karls des Großen umgeschrieben, fortan hieß es, Albio hätte sich bereits im Jahre 785 zusammen mit seinem Freund und langjährigen Kampfgefährten, Herzog Widukind, am Hofe des Frankenkönigs, taufen lassen. Sogar seinen Namen änderte man in Abbio um, damit auch seine Herkunft in Vergessenheit geriet. Daher wusste heute niemand mehr, dass Albio von der stolzen Sippe der Nordalbinger stammte. Dieser Sachsenstamm kämpfte unter seiner Führung und im Namen Wodans am längsten und erbittertsten gegen die fränkischen Eroberer.

Aber Regin wusste all dies und noch viel mehr,… vor allem aber wusste er jetzt, dass Albio für seine Treue von dem Einäugigen belohnt worden war. Der leere Sarg bedeutete, dass der große Krieger nach seinem Ableben wiederbelebt worden war, um dann nach Asgard geleitet zu werden. Eine Walküre hatte ihn hier aus dem Grabhügel gekürt, um ihn nach Walhall, der sagenhaften Halle der gefallenen Kämpfer Wodans, zu bringen! Regin nickte zufrieden vor sich hin, während er seinem Rucksack diverse Utensilien entnahm. Dies war ein geheiligter Ort, es war jetzt wichtig, dafür zu sorgen, dass die geöffnete Grabkammer weiterhin geheiligt blieb. Und sie musste für das, was kommen sollte, vorbereitet werden.

Der Zwerg setzte sich im Schneidersitz auf den Boden und reihte verschiedene tönerne Gefäße vor sich auf. Zwei davon waren Räucherlampen, gefüllt mit speziellen Kräutern sowie langsam brennenden Baumrinden und Wurzeln. Nachdem Regin sie entzündet und behutsam angefacht hatte, stellte er sie auf den Rand des Sarges. Sie verbreiteten einen schweren, würzig riechenden Rauch, welcher rasch das kleine Grabgewölbe erfüllte. Aus einem anderen Gefäß goss er eine Flüssigkeit in zwei mit Pulver gefüllte Tiegel, in denen er dann eine rote und eine schwarze Farbe anrührte. Anschließend säuberte er vorsichtig mit einem Handfeger die Wände der Gruft. Nun fing Regin damit an, mithilfe eines kleinen Pinsels, Runenzeichen auf den Felsen zu malen, dabei benutzte er abwechselnd die beiden Farben. Der Zwerg arbeitete langsam und konzentriert, Runenreihe um Runenreihe zeichnete er an die Wände der Kammer. Der Rauch der brennenden Kräuter versetzte ihn dabei in Trance und er begann mit einem leiernden Tonfall in einer längst vergessenen Sprache zu singen. Jedes Runenzeichen besang Regin mit guttural klingenden Worten, sein Mund bewegte sich kaum dabei, die Worte brummten eher tief aus seinem Brustkasten hervor.

Stundenlang und unermüdlich fuhr er damit fort, das Innere der Grabkammer auf diese Art zu bemalen. Erst zur Abenddämmerung würde sein Werk vollbracht sein. Tausende von roten und schwarzen Runen sollten dann die Wände der Gruft bedecken.

Der Einäugige erwacht

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