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Kapitel 2.

Jolan sah seine Großmutter, gleich nach dem Passieren des Tores auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Sie war eben erst aus ihrem Wagen gestiegen und im Begriff, die Fahrbahn zu überqueren. „Hallo, Ella,… hier!“, rief er. Sie erkannte ihn strahlend und rief winkend zurück: „Bleib dort, ich komme eben herüber!“

Ihre dichten, lockigen Haare waren grauer geworden, aber ansonsten hatte sie sich nicht verändert. So lange Jolan sich erinnern konnte, trug sie wallende, bunte Kleider, deren Farben immer etwas ausgewaschen wirkten. Was daran lag, wie er wusste, dass sie auf Naturbasis gefärbt waren, denn Ella legte sehr großen Wert darauf, ihr Leben so umweltbewusst wie möglich zu gestalten. Sie lächelte glücklich und nachdem Jolan sein Gepäck abgestellt hatte, schloss sie ihn in die Arme; sie duftete nach würzigem Yogi Tee und Kräutern. Jolan liebte diesen Geruch, er verband damit ein gutes Gefühl; die Erinnerung an viele unbeschwerte Sommertage seiner Kindheit.

„Na, mein großer Lieblingsenkel, wo hast du dich herumgetrieben?“ Da er tatsächlich ihr einziges Enkelkind war, nannte Ella ihn zur Begrüßung gerne so. Nur 'mein großer' war neu. Sie musste inzwischen etwas zu ihm heraufschauen. Als sie sich das letzte Mal an Weihnachten gesehen hatten, war das noch andersherum gewesen.

„Hab’ ich dir doch geschrieben, ich war noch auf dem Markt …“, antwortete Jolan und wies mit dem Daumen über seine Schulter auf das rustikale Eingangstor, „… es ist ein mittelalterlicher Markt. Ich habe dort einen Zwerg,… einen Waffenschmied kennengelernt und der hat mir etwas geschenkt.“

Ella wirkte einen Augenblick wie erstarrt und lachte nervös auf. „So, so … einen Zwerg hast du getroffen …“, sagte sie dann, während sie ihm mit dem Rucksack half. Das klang in der Tat ziemlich kindisch, musste Jolan sich eingestehen.

„Ich meine natürlich keinen echten Zwerg, er sah nur aus wie einer …“, er hielt kurz inne, „… wie in einem Fantasyfilm, so Herr der Ringe mäßig, weißt du.“

„Na, dann ist es ja kein Wunder, dass du dermaßen beeindruckt bist“, erwiderte sie fröhlich und fragte irgendwie bewusst nebensächlich: „Was für ein Geschenk hat dir dieser Zwerg noch mal gemacht?“ Jolan stutzte kurz. „Äh …, das hab’ ich doch noch gar nicht erwähnt …“, begann er vorsichtig und endete ausweichend: „nichts Besonderes, nur so eine Art Talisman.“ Ella nickte kurz und ging dann mit ihm zusammen auf ihren Wagen zu.

Sie fuhr einen alten Citroën 2-CV Oldtimer, sein Vater hatte ihm erzählt, dass diese Autos früher von allen 'Ente' genannt wurden. Und dass dieser Typ zu seiner Zeit unter Studenten ein sogenanntes 'Kultauto' gewesen sei. Jedenfalls mochte Jolan den Wagen, denn dieser gehörte auch zu seiner Oma, solange er denken konnte. Sie schraubte sogar selber an dem Fahrzeug herum und irgendwann hatte sie ihn mal lackiert: Azurblau mit selbstgemalten, großen Gänseblumen.

Nachdem er seinen Rucksack auf der Rückbank verstaut und neben Ella auf dem Beifahrersitz Platz genommen hatte, fuhren sie die Kirchstraße in das Zentrum Reiherbergs hinauf, dann die scharfe Rechtskurve in die Lange Straße über die historische kleine Brücke an der großen Aue, wo sich das alte Mühlengebäude befand und schließlich auf die Straße Am Berge, die zur Lebensgemeinde hinaufführte.

Während der kurzen Fahrt sprachen sie nicht viel. Jolan hielt das kleine geheimnisvolle Behältnis auf dem Schoß und schaute vorwiegend, mit dem Kopf im Nacken, in den Himmel; der Wagen besaß ein Rolldach, welches jetzt bei sommerlichem Wetter geöffnet war.

Er dachte wieder an Regins beschwörende Worte, alles was er gesagt hatte, schien so ernst gemeint zu sein. Ein Samen der Weltesche Üggdra … dings, deren Urkraft die heilenden, 'Ewigen Wälder' auf die Erde zurückbringen sollte - oder so ähnlich - um dann sogar die Umweltzerstörung samt Klimawandel zu beseitigen! Das wäre ja der komplette Wahnsinn … und überhaupt, wie sollte so was funktionieren? Und weshalb sollte ausgerechnet er derjenige sein, auf den Regin gewartet habe, kam ihm weiterhin in den Sinn. Jolan befühlte die feinen Linien auf dem Kästchen,… irgendwie wirkte das schon wie ein echtes Abenteuer. Ein Abenteuer, bei dem am Ende vielleicht wirklich etwas Ungewöhnliches passieren könnte …

Als sie bei der Lebensgemeinde angekommen waren, fuhr Ella den Wagen um die Siedlung herum auf einen kleinen Stichweg, wo es einige unbefestigte Parkplätze gab. Über einen weiterführenden Feldweg konnte man so direkt zu ihrem Garten gelangen.

Die 'Lebensgemeinde-Reiherberg' bestand aus etwa fünfzehn, vorwiegend aus roten Backsteinen erbauten, Reihenhäusern. Über sechzig Wohneinheiten waren es insgesamt. In der Mitte gab es einen großen Dorfplatz mit einem Zentralgebäude, dort befanden sich ein Verwaltungsbüro, verschiedene Seminarräume, ein kleiner Buchladen, der auch eine Vielzahl an spirituellem Zubehör anbot sowie ein Café und eine Küche für Seminar-Gäste oder Urlauber.

Jolans Großmutter bewohnte ein Endreihenhaus im hinteren äußersten Winkel der Siedlung. Von ihrem Grundstück aus konnte man direkt in den angrenzenden Forst gehen oder den Feldweg am Waldrand entlang zu den Wiesen und Pferdekoppeln gelangen. Im Garten wurde man von allerlei melodischen Geglöckel empfangen: In Bäumen und Sträuchern hatte Ella verschiedene Klang-Windspiele aus Holz oder Bambus aufgehängt. Außerdem prägten den Garten mehrere, teilweise schon ziemlich eingewachsene, Steinfiguren. Zumeist Buddhas, aber auch Drachen und andere märchenhaft anmutende Gestalten.

Mit großem Hallo wurde Jolan von Christoph, Ellas Lebensgefährten, empfangen. Christoph wurde von allen, auch von Jolans Oma, nur Chris genannt. Er war jetzt sechsundvierzig Jahre alt und somit ganze zwanzig Jahre jünger als Ella. Als die beiden vor vier Jahren ein Paar wurden, hatten sich Jolans Eltern schon etwas gewundert. Aber Ella war bereits seit einiger Zeit Witwe gewesen und daher hatten sie natürlich Verständnis dafür, dass Ella ihr weiteres Leben nicht alleine verbringen wollte. Klar, Jolan fand es zuerst ebenfalls etwas seltsam, dass seine Großmutter mit einem Mann lebte, der ungefähr im selben Alter wie sein Vater war. Jedoch hatte er sich schließlich daran gewöhnt, die beiden passten einfach gut zusammen und Chris war wirklich ein super Typ.

Er kam ihm jetzt mit ausgebreiteten Armen entgegen, umarmte ihn und klopfte dabei kameradschaftlich auf seinen Rücken. Die Bewohner der Lebensgemeinde hatten alle diesen ungewöhnlich liebevollen Umgang miteinander, allenthalben drückten und herzten sie sich. Jolan musste sich erst immer wieder daran gewöhnen, obwohl er es eigentlich ganz okay fand.

„Komm …“, sagte Chris, „… du musst vorne reingehen!“ Er hatte Jolan den Rucksack abgenommen und ging eilig um das Haus herum zur Haustür. Wie immer lief er barfuß, Chris war ein bekennender Barfußläufer, allerdings liefen während der warmen Jahreszeit sehr viele Bewohner der Lebensgemeinde ohne Schuhe herum.

Seine dunkelblonden Haare trug Chris zu einem langen Zopf gebunden, um den Hals trug er eine Holzperlenkette mit einem indianischen, federgeschmückten Amulett sowie diverse geflochtene Lederarmbänder an den Handgelenken. Bekleidet war er mit einem weitärmeligen, schlabberigen Hemd und einer halblangen Hose in erdfarbenen Naturtönen. Dieses Bild rundete er perfekt mit seiner hageren, sehnigen Gestalt ab.

Vor der Haustür blieb er stehen und wies dann mit gespieltem Stolz auf das Schild über dem Eingang. > Herzlich willkommen, Jolan! <, stand auf der dünnen Holztafel; es schien eine alte Schrankrückwand zu sein, denn Chris sammelte und bewahrte alles auf, was man seiner Ansicht nach noch irgendwann mal gebrauchen konnte.

Die beiden gaben sich wirklich alle erdenkliche Mühe, dachte Jolan, sie wussten natürlich, wie es um seine Eltern stand und wollten ihm die Ankunft offensichtlich so angenehm wie möglich machen. Sie konnten ja nicht wissen dass er gerade unter diesen speziellen Umständen, wirklich gerne einige Zeit mit ihnen verbringen würde, vor allem hier in der Lebensgemeinde und deren besonderer, positiver Atmosphäre.

Sicher, nach so langer Zeit mal wieder drei ganze Wochen am Stück hier zu sein … könnte schon ein wenig lang werden. Und natürlich wusste er nicht, wie es nach den Ferien mit seinen Eltern weitergehen würde … ach, was soll’s, sagte sich Jolan zum wiederholten male, er hatte sich in den letzten Wochen zu oft den Kopf darüber zerbrochen und eigentlich hoffte er, dass Ella und Chris ihn damit in Ruhe lassen würden.

Nachdem Jolan das Gästezimmer bezogen hatte, saßen sie gemeinsam auf der Terrasse bei Tee und Möhrenkuchen. Soeben hatte er seinen Bericht vom Mittelaltermarkt beendet. Den Rat Regins folgend, erzählte er aber nichts vom Inhalt des Kästchens und der damit verbundenen Aufgabe.

„Und wo ist jetzt die antike Schmuckschachtel, die dieser …“, begann Ella, schloss die Augen und wirkte seltsamerweise einen Augenblick lang so, als ob sie sich sammeln müsste, „…dieser Zwergenschmied dir geschenkt hat?“

„Äh …, hab ich in meinem Zimmer gelassen, ich zeig sie euch später“, wich Jolan erneut aus. Er wunderte sich kurz über das eigenartige Verhalten seiner Großmutter, aber dann schweiften seine Gedanken ab. Er musste an den Umschlag mit den Anweisungen denken, der noch in einer der Seitentaschen seines Rucksacks steckte.

Chris, der bisher, offenbar mit sich und der Welt zufrieden, seinen Kuchen gemampft hatte, sagte ungewöhnlich nachdenklich: „Also diesen Zwerg,… Regin, find’ ich unheimlich interessant“, er trank seinen Tee aus, um den letzten Bissen herunterzuspülen, „was du da erzählt hast mit den Runen auf der Schwertklinge …“

„Was sind Runen überhaupt für Zeichen?“, unterbrach Jolan ihn.

„… Runen?“, erwiderte Chris gedehnt mit einem Seitenblick auf Ella, „Runen sind altgermanische oder altnordische Schriftzeichen“, erklärte er dann, „manche behaupten auch, sie hätten magische Kräfte.“ Er lehnte sich zurück und fuhr fort: „Eigentlich wollte ich diesen Markt sowieso mit dir besuchen, Jolan. Kommst du eben noch mal mit? Ich würde mir gerne deinen Wunderschmied anschauen.“ Er wechselte erneut einen längeren Blick mit Ella.

„Ach, nein …“, antwortete Jolan, „ich war ja grad’ da, ich werde erst mal meine Sachen auspacken.“

Er wollte natürlich nur alleine sein, um herauszufinden, was es mit den rätselhaften Anweisungen auf sich hatte. Außerdem glaubte er, dass Regin nicht besonders davon angetan wäre, wenn er mit Chris im Schlepptau wieder auftauchen würde. Der Zwerg würde bestimmt denken, er hätte alles weitererzählt und käme jetzt zur Kontrolle, ob die ganze Geschichte auch mit rechten Dingen zugehe, mit einem Erwachsenen daher.

„Ich jedenfalls werde erst mal ein Nickerchen in meiner Hängematte machen!“, tat Ella kund, erhob sich rasch und ging in den Garten. Jolan sah ihr nach und wunderte sich wiederum darüber, dass sie irgendwie angespannt wirkte.

„Gut! Dann fahr ich eben allein …“, rief Chris ein wenig zu laut, „wir können ja auch morgen alle zusammen noch mal hinfahren, so viel ich weiß, ist der Markt noch ein paar Tage da“, meinte er abschließend, während er sich erhob und anfing, den Tisch abzuräumen.

Kurz darauf, nachdem Chris aufgebrochen war und Ella sich hingelegt hatte, saß Jolan am Schreibtisch in seinem Zimmer. Vor ihm stand die kleine mit Runen verzierte Schatulle. Vorsichtig öffnete er sie und entnahm den ledernen Beutel. Jolan sah sich das Säckchen genauer an, aus Drachenhaut sei es, hatte Regin behauptet. Es war schwärzlich und steif, fast hart. Das Leder war ziemlich dick und fühlte sich schuppig und rau an. Jedenfalls schien es echt zu sein, wer weiß, welches Reptil dafür seine Haut verloren hatte, dachte Jolan.

Dann ließ er den Keimling in seine Hand gleiten, er befühlte die steinharte, seltsame Oberfläche, die wirklich wie Gehirnwindungen aussah. Er roch etwas muffig, genau wie der Beutel. Jolan legte ihn beiseite und öffnete den braunen Umschlag. In ihm befand sich ein dickes, in der Mitte gefaltetes, angegilbtes Papier. Er besah sich die feine, mit einer bräunlichen Tinte verfasste Handschrift. Bestimmt hatte Regin das selbst geschrieben, dachte Jolan, bevor er Folgendes las:

Der Samen Yggdrasils

Im immergrünen, mächtigen Wipfel des Weltenbaumes Yggdrasil. Dort im Geäst Lärads gedeihen die seltenen Früchte der herrlichen Esche. Das Eichhörnchen Ratatöskr frisst sie sogleich, der wertvolle Kern aber fällt herab.

Er gehört Wodan, dem Einäugigen, Allvater und Obersten aller Götter.

Einige wenige dieser Samen verschenkte Wodan im Laufe der Zeiten an die Menschen. Nicht an Könige oder Helden, nicht an holde Jungfrauen oder begehrenswerte Weiber. Nur Kindern erwies er diese Gunst.

Nicht entscheidend war Rang oder Geburt und auch nicht Geschlecht. Vielleicht befragte Wodan die Nornen, welche die Schicksalsfäden aller Kinder Midgards spinnen. Vielleicht wurden sie ihm von seinen Raben, Huginn und Muninn, zugeraunt.

Oder vielleicht erträumte sich der Allvater auch seine Wahl.

Ganz sicher ist es sein Wille, dass nach langer Zeit dieser eine noch vorhandene Samen Yggdrasils wieder in Kinderhände Midgards gelangt!

Nun belebe und erwecke Wodans Geschenk.

1) Nimm den Samen und presse ihn an dein Herz, auf die nackte Haut! Lass dir Zeit, atme tief und ruhig einund aus. Denke dabei nur an dich und den Keimling.

Dann spreche die Worte:

ANSUZ – GEBO – DAGAZ

2) Jetzt führst du den Samen zum Munde und hauchst ihm deinen Atem ein. Einen langen Atemzug, nicht mehr!

Füge dir eine kleine Wunde zu und schenke dem Keimling mindestens drei Tropfen deines Blutes.

3) Suche einen geschützten Platz mit guter, dunkler und unverdorbener Erde. Grabe den belebten Samen eine Handbreit ein. Schenke auch der Erde drei Tropfen deines Blutes und spreche sodann die Worte:

EIHWAZ – URUZ – LAGUZ

Blut! Mit meinem eigenen Blut soll ich den Samen erwecken, dachte Jolan als erstes. Das war schon ein wenig krass. Allerdings verlieh diese Blutgeschichte dem ganzen Ritual eine unheimliche Ernsthaftigkeit. Er las Regins Anweisungen nochmals. Es hätte also auch irgendeinen anderen Jungen treffen können, fiel ihm jetzt auf … oder ein Mädchen. „Nicht entscheidend war Rang oder Geburt und auch nicht Geschlecht“, stand dort.

Anderseits hatte Regin ihn immer so sonderbar angesehen, so als hätte er wirklich nur auf ihn gewartet und nicht zufällig auf irgendein Kind oder Jugendlichen. Allerdings glaubte Jolan im Nachhinein wirklich, dass in dem Kräutertrank des Zwerges etwas drin gewesen war, eine Art leichte Droge, oder so was. Immerhin hatte er sich einen Augenblick lang richtig weggetreten gefühlt.

Die kurze Einführung zur Geschichte des Samens war auch sehr eigenartig: Ein Eichhörnchen frisst die Frucht, doch der Kern fällt herab und gehört dem Wodan …

Jolan überlegte einen Augenblick, na klar, jetzt erinnerte er sich: Wodan oder auch Odin war der oberste Gott der germanischen Völker gewesen. In der Schule hatten sie mal über die Entstehungsgeschichte der vorchristlichen Religionen gesprochen, unter anderem eben auch über die ihrer Vorfahren, den alten Germanen. Es war ihm eingefallen, weil Chris diese vorhin im Zusammenhang mit den Runen erwähnt hatte. Und natürlich, er kannte die nordischen Götter zum Teil auch aus den Marvel-Filmen, mit Thor als Superhelden … aber das war ja nur Popcorn Kino.

Mit dem Rest des Textes konnte er wenig anfangen, Nornen, Huginn und Muninn? Sehr mysteriös war das und vor allem richtig fantasymäßig; und jetzt wirkte es fast so, als könnte er selbst eine echte Fantasygeschichte erleben.

Er nahm den Kern wieder auf und drehte ihn in der Handfläche, ich sollte es wirklich ausprobieren, wer weiß, ob tatsächlich etwas Besonderes passieren würde …, dachte Jolan.

Er kramte im Rucksack nach seinem Taschenmesser, klappte es auf und hielt sich die Klinge an die linke Hand. Er versuchte sich vorzustellen, wie er sich eine kleine Wunde zufügte und sein Blut fließen würde. Ach, nein … das konnte er nicht tun! Er spürte, dass er wahrscheinlich im entscheidenden Augenblick nicht in der Lage wäre, sich zu verletzen und so das ganze Ritual vermasseln würde.

Jolan klappte das Messer wieder zu, es war eh viel zu stumpf, dachte er missmutig. Außerdem würde sowieso nichts passieren! Er hätte sich bestimmt ganz umsonst geschnitten, und dann vergeblich auf ein Wunder gewartet.

Aber das würde wiederum bedeuten, dass Regin sich mit ihm einen Scherz erlaubt hatte,… und warum sollte er so etwas tun? Er wirkte nicht wie jemand, der scherzte … ganz im Gegenteil, bei aller Seltsamkeit, hatte er eher etwas beunruhigend Ernsthaftes.

Außerdem hatte er ihm das Kästchen ja nicht verkauft, sondern geschenkt. Was würde der Zwerg davon haben, ihn einfach nur zu verarschen? Nein, Regin wollte, dass er, Jolan, das Geschenk Wodans belebte.

In diesem Augenblick vernahm er, dass Chris wieder da war.

„Jolan, bist du oben?“, rief dieser jetzt. Jolan hörte, wie er die Treppe heraufkam. Hastig packte er den Samen in die Schatulle zurück und versteckte sie schnell im Kleiderschrank hinter seiner Unterwäsche. Kurz darauf klopfte Chris auch schon an die Zimmertür. Nachdem Jolan ihn hereingelassen hatte, setzte er sich auf das Bett und grinste ihn an.

„Entweder hast du dir eine echt tolle Geschichte ausgedacht oder dein Zwergenschmied ist einfach verschwunden“, sagte er irgendwie übertrieben gut gelaunt.

„Hä …, wie verschwunden?“, wunderte Jolan sich, „vorhin war er aber noch da.“

„Na, jedenfalls hat er sich inzwischen in Luft aufgelöst, er ist einfach weg“, erwiderte Chris achselzuckend.

„Das ist ja komisch, verschwunden …“, meinte Jolan nachdenklich. Dann musste Regin seinen Stand, gleich nachdem er den Markt verlassen hatte, abgebaut haben und gegangen sein. Demnach war er also wirklich nur auf dem Markt gewesen, um ihm den Samen zu schenken. Doch woher konnte der Zwerg wissen, dass er gerade heute aus Hamburg ankommen würde? Jolan grübelte vor sich hin.

„Hey, so schlimm ist das auch wieder nicht“, unterbrach Chris seine Gedankengänge und schnippte ein paar Mal mit den Fingern vor seinem Gesicht, „du bist ja ganz abwesend, alles klar mit dir?“

„Jaja, alles klar …“, antwortete Jolan, „… wunder’ mich nur, dass er einfach so verschwunden ist.“

„Und …“, fragte Chris weiter, „… was für ein Talisman ist denn nun in dem geheimnisvollen Kästchen gewesen?“

„Ach …“, Jolan suchte hastig nach einer unverfänglichen Erklärung, „nur so ein geschnitztes Ding, zum Umhängen“, schloss er zufrieden über seine Ausrede.

„Na gut, okay …“, Chris sah ihn einen Moment lang nachdenklich an. „Kommst du mit, ein wenig Bogenschießen? Mal sehen wie gut du noch bist!“, schlug er dann plötzlich munter vor und verwuschelte ihm die Haare, während er aufstand.

„Super, na klar komme ich mit!“, erwiderte Jolan, obwohl er das letzte Mal irgendwann im vergangenen Herbst mit dem Bogen geübt hatte und daher wahrscheinlich miserabel schießen würde.

Das mit dem Bogenschießen war auch typisch für Chris, er hatte auf einer kleinen, sumpfigen Wiese am Waldrand einen Schießstand aufgebaut, wo er ständig übte. Und seit ungefähr zwei Jahren versuchte er auch Jolan das Bogenschießen beizubringen, was eine ganz tolle Sache war. Darauf hatte er sich besonders gefreut. „Du wirst mich haushoch schlagen!“, rief Jolan, während er Chris hinterherlief.

Der Einäugige erwacht

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