Читать книгу Der Einäugige erwacht - Andreas Engel - Страница 11
ОглавлениеKapitel 5.
Jolan kniete unter dem Haselstrauch. Es waren über zwei Wochen vergangen seitdem er den Samen eingepflanzt hatte. Jeden Morgen war er noch vor dem Frühstück hergekommen, um das bemerkenswert schnell voranschreitende Wachstum der Pflanze Yggdrasils zu bewundern. Dabei war in der letzten Zeit viel passiert, was ihn von dem Auftrag Regins hätte ablenken können. Er war immer mit Veena zusammen gewesen und die gemeinsam verbrachten Tage waren wie im Fluge vergangen. Alles war so schnell mit ihnen beiden gegangen,… er wusste, sie wartete jetzt auf den nächsten Schritt und der musste von ihm kommen. Er war ganz schön aufgeregt, so aufgeregt wie nie zuvor in seinem Leben. Nichts schien ihm mehr wie vorher zu sein. Dabei hatte er gar nicht geplant sich zu verlieben! In der Schule gab es ganze Cliquen, deren Hauptinteresse offenbar darin lag, sich zu verlieben oder zumindest den Anschein zu erwecken, so zu tun als ob. Oder noch eher, dass andere sich in einen verlieben sollten. Desto mehr, umso besser; dann war man nämlich richtig cool und angesagt. Aber all das hatte ihn bisher so was von gar nicht interessiert! So etwas passierte doch nur den Jungs und Mädchen, die sich in jedem Schaufenster selbst bewunderten. Doch nicht ihm und Veena. Aber es war ihnen passiert, und zwar so richtig hundert Prozent, alles was geht!
Veena kam immer gleich nach dem Frühstück, und sobald er sie erblickte, schlug sein Herz einen Augenblick schneller. Jedenfalls fühlte es sich so an. Sie kam zu ihm und lächelte glücklich, und er lächelte genauso zurück. Oft konnten sie vor lauter Lächeln erst mal gar nichts sagen. Solcherart heftiges Verknalltsein konnte natürlich nicht mal ein Blinder übersehen, aber Ella und Chris sagten inzwischen auch nichts mehr. Anfangs hatten sie schon ein paar Bemerkungen fallengelassen. Hauptsächlich kamen die natürlich von Chris, solche Sachen wie: „Eijei und jei, da hat’s aber zwei mächtig erwischt …“. Superspruch! Chris hatte sich sogar hinreißen lassen hin und wieder, so ganz nebenbei, wenn er Gitarre spielte, einen alten Schlager anzuspielen und sang: „Tausendmal berührt, tausendmal ist nix passiert …“ Okay, Jolan kannte den weiteren Text des Liedes und er musste sich eingestehen, dass der zum Teil wirklich auf Veena und ihn zutraf. Dennoch nervte ihn Chris damit,… logisch. Selbst Ella, die zu der ganzen Angelegenheit eigentlich nur ein freundliches Gesicht machte, meinte, dass es mit ihnen beiden wohl etwas Ernsteres werden könnte.
Und genau das war der Punkt! Es war ernst, das war alles richtig echt. Veena war auf einmal so süß geworden, und so alles eben …, und daher waren seine Gedanken am Abend, wenn er einschlief, immer bei ihr.
Aber jeden Morgen, sobald er die Augen aufschlug, waren seine Gedanken bei der Pflanze.
Jolan wachte immer von allein zur selben Zeit auf, so gegen sieben Uhr. Völlig unabhängig davon, wie spät er am Abend zuvor schlafen gegangen war. Bereits einen Tag nachdem er den Kern eingegraben hatte, war aus ihm ein gut zehn Zentimeter hohes Pflänzchen gewachsen. Allmorgendlich hatte Jolan nach seiner Pflanze gesehen und konnte feststellen, dass sie täglich um weitere zehn bis fünfzehn Zentimeter gewachsen war. Nur seltsamerweise nicht als Baum, wie er erwartet hatte, sondern als bodennahes Rankgewächs.
Nach ein paar Tagen hatte sich aus etwas, das Jolan anfänglich für eine Knospe gehalten hatte, eine Frucht entwickelt, einer Gurke nicht unähnlich. Aber auch das schien nur so, denn in der zweiten Woche war aus der 'Gurke' eine längliche, gut fünfzig Zentimeter große Melone geworden. Oder noch eher eine große Schote; sie besaß keine dicke, feste Schale wie eine Melone, sondern war vielmehr dünnhäutig. Diese Haut wurde, je mehr die Schote wuchs, immer feiner. Sie fing sogar an etwas transparent zu werden. In ihrem Inneren war etwas Pulsierendes zu erkennen und gleichzeitig mit dieser Entwicklung fingen die inzwischen fingerdicken Ranken an, die Schote zu umwuchern. Diese wiederum hatten gefährlich aussehende, bis zu fünf Zentimeter lange Dornen bekommen.
Jolan betrachtete glücklich das Pulsieren im Inneren der Schote. Etwas wirklich Lebendes wuchs in ihr heran, und obwohl sein Verstand wusste, dass dort etwas Unheimliches, ja gruseliges vor sich ging, war er einfach nur glücklich. Sobald sich Jolan der Pflanze näherte, setzte dieses irgendwie beruhigende, schöne Gefühl ein. Anfangs machte ihn diese spezielle Empfindung ein wenig schwindelig. Er wusste, beides gehörte zur Magie des Rituals, aber das war ihm egal. Es war seine Pflanze, sie wuchs seinetwegen so schnell heran. Und das Lebende, das in ihr wuchs, gehörte zu ihm. Das machte ihn glücklich! Wodans Geschenk war aufgegangen, er selbst Jolan, hatte das vollbracht, er war der Auserwählte. Regin hatte mit allem recht gehabt!
Nur, warum war er so plötzlich verschwunden? Die Belebung des Keimlings, um die Macht der Weltenesche zu beleben, die Rückkehr der 'Ewigen Wälder'…, all’ das schien Regin unglaublich wichtig gewesen zu sein. Es passte einfach nicht zusammen, dass er verschollen blieb.
Jolan riss sich von dem Anblick der pulsierenden Schote los und erhob sich, er ging langsam in die Küche und dachte dabei an den Zwerg. Jeden Tag, der verging, wuchs in ihm die Sorge, dass Regin etwas zugestoßen sein könnte. Welchen anderen Grund sollte es sonst für sein Wegbleiben geben? Der Mittelaltermarkt war bereits seit fast zwei Wochen weitergezogen und da Regins Wagen bei der alten Wassermühle stehen geblieben war, hatte es einigen Ärger gegeben. Die Polizei wollte ihn auf eine Sammelstelle in die Kreishauptstadt abschleppen lassen sowie selbstverständlich mit einem fetten Bußgeld belegen, plus Transportkosten und täglich anwachsenden Abstellgebühren. Glücklicherweise hatte Jolan Chris überreden können, den verantwortlichen Polizeibeamten davon zu überzeugen, Regin sei ein guter Bekannter von ihnen, der gerade in einer persönlichen Krise stecke und daher zu nichts zu gebrauchen sei. Sie würden sich darum kümmern, den alten Ford zur Lebensgemeinde zu bringen. Was ohne Wagenschlüssel gar nicht so einfach gewesen war!
Es gelang ihnen schließlich mit der Hilfe von Rudi, dem Busfahrer. „In so eine alte Mühle reinzukommen und kurzzuschließen ist ein Kinderspiel für mich!“, hatte er gesagt. Und so war es dann auch.
Zum Glück konnte Chris während Rudis Aktion den anwesenden Beamten ohne Probleme ablenken. Ihre Geschichte war für die Polizei ja auch absolut glaubwürdig gewesen: Ein Mittelalter-Nerd, der sich für einen Zwerg hielt, war ein guter Freund von den durchgeknallten Öko-Freaks aus der Lebensgemeinde und war grad’ ein wenig von der Rolle …! „Schon gut, schon gut …“, hatte der Polizist nur gesagt. „Aber seht zu, dass der Schrotthaufen hier schleunigst verschwindet!“ Nachdem sie den Ford dann hinter Ellas Garten am Feldweg abgestellt hatten, machten sich Jolan und Veena zusammen mit Chris und Rudi daran, Regins Wagen gründlich, aber vorsichtig, zu durchsuchen. Sie hofften, eine Adresse oder Telefon/Handy Nummer zu finden. Diesbezüglich waren ihre Bemühungen allerdings erfolglos, was Jolan überhaupt nicht gewundert hatte. Sie fanden nicht gerade Aufschlussreiches; ein paar Sachen von Regins altertümlicher Kleidung und Campingutensilien: Einen kleinen Gaskocher samt Blechgeschirr sowie einen Schlafsack. Ansonsten gab es da nur noch mehrere, mit schweren Vorhangschlössern gesicherte, große Truhen. Sie waren kaum von der Stelle zu bewegen, und es war offensichtlich, dass sich darin Regins Ware, nämlich seine Waffen, befanden. So waren sie also, was den Verbleib des Zwerges anging, kein Stück weiter gekommen.
Letzte Woche dann war Jolan zusammen mit Veena, durch den Wald auf den Reiherberg, zum Aussichtsturm gewandert. Ihm war eingefallen wie er sich mit Regin auf dem umgestürzten Baumstamm unterhalten hatte, als er ihn zum letzten Mal sah. In dem Gespräch damals, hatte der Zwerg ihm alles anvertraut, was er von der Geschichte des Samens wusste. Wiederholt dachte er an die Eindringlichkeit, mit der Regin ihn dazu gebracht hatte, das Ritual sofort in die Tat umzusetzen.
Im Nachhinein war er davon überzeugt gewesen, dass Regin auch irgendetwas Wichtiges in Zusammenhang mit dem Ritual an jenem Morgen zu erledigen hatte. Und ihm war die Vermutung gekommen, irgendwo im Wald, auf dem Reiherberg. Aber falls das stimmte, wo nur? Der Wald war groß. Als er mit Veena auf die Plattform des Turms gestiegen war, schauten sie in alle Richtungen auf den Wald herab.
„Und was jetzt, wo sollen wir ihn finden, wo ihn suchen? Das bringt doch alles nichts!“, hatte Veena gesagt.
Und damit lag sie natürlich richtig, auch wenn sein Gespür ihm sagte, Regin sei irgendwo im Wald verschwunden … es war unmöglich ihn zu zweit zu finden, dazu bräuchten sie schon eine ganze Suchmannschaft. So war die Sache ein hoffnungsloses Unterfangen gewesen. Daher gaben sie resigniert auf und hatten sich wieder auf den Rückweg gemacht. Ihnen war nichts anderes übrig geblieben, als weiterhin auf die Rückkehr Regins zu hoffen.
Auf dem Heimweg hatte Jolan sich entschlossen, Veena endlich die komplette Geschichte zu offenbaren.
Bisher hatte sie nur gewusst, dass er heimlich irgendeine besonders seltene Pflanze in Ellas Garten zog. Veena war über sein neues Hobby, als auch der Geheimnistuerei darum, ein wenig verwundert gewesen. Etwas herumdrucksend hatte er dann immer ausweichend erklärt, es solle eine Überraschung für Ella werden.
Aber so begann er auf dem Rückweg und erzählte ihr alles, was er über die Geschichte des Samens Yggdrasils wusste und von Regins Andeutungen bezüglich jener mächtigen 'Ewigen Wälder' aus uralten Zeiten.
Auch auf die Gefahr hin, Veena damit zu verschrecken, hatte er die Details des Rituals mit seinem Blut nicht ausgelassen. Ihm war daran gelegen, dass sie verstand, warum seine Beziehung zu der Pflanze so besonders war. Zumindest hoffte er, dass sie es verstehen würde, denn als Jolan ihr die Pflanze im Anfangsstadium gezeigt hatte, erschien ihr seine Verzückung im Angesicht derselben doch sehr befremdlich. Doch nachdem er ihr die ganze Geschichte des Samens offenbart hatte, war Veenas Reaktion eher besorgt, als alles andere gewesen …
Aber heute würde sie sehen, wie weit sich die Schote seither entwickelt hatte und dass etwas Lebendiges in ihr heran wuchs.
Soeben kamen Chris und Ella in die Küche. Sie deckten den Frühstückstisch und setzten sich zu Jolan. Ihnen hatte er noch nichts von der Pflanze erzählt, und dabei sollte es vorerst auch bleiben. Glücklicherweise gingen sie nie in den verwilderten Teil des Gartens, wo der Haselstrauch stand und er hoffte inständig, dass sie diese Gewohnheit nicht ändern würden.
„Na …“, sagte Chris, „… kommt deine Süße gleich?“ Obwohl Jolan inzwischen diese Art morgendlicher Begrüßungsfloskeln von ihm gewohnt war, konnte er nicht verhindern, zu erröten.
„Ja …“, erwiderte er, während er sich über sich selbst ärgerte, „… sie ist bestimmt gleich hier.“
Wie jeden Morgen beschwichtigte Ella und sagte daher: „Ich würde mir wünschen, du würdest dich endlich damit abfinden Chris, dass die beiden so ein hübsches Paar sind. Ich freue mich jedenfalls darüber!“
Oh, Mann …, dachte Jolan verzweifelt. Er würde sich vielmehr damit abfinden müssen, in Zukunft nur noch zu erröten, wenn das so weiterging! Aber im nächsten Moment verschluckte er sich an seinem Kakao und hatte Mühe ein heftiges Husten zu unterdrücken, denn Veena stand schon in der Küchentür und sah, in ihrem offensichtlich neuen Sommerkleidchen, einfach umwerfend aus! Hastig sprang Jolan auf, weil er das Gefühl hatte, seine rote Birne würde ansonsten platzen. Er nahm die überraschte Veena schnell bei der Hand, rannte mit ihr zur offenen Haustür hinaus nach links zum angrenzenden Wald, und dann weiter bis zu der Lichtung mit dem umgestürzten Baumstamm. Außer Atem setzten sie sich; Veena sah Jolan lachend und fragend an. Jetzt war ihm alles egal! Er nahm ihr Gesicht mit beiden Händen und küsste sie zart, aber bestimmt, auf den Mund. Ein glückseliger Schauer durchlief seinen Körper, als er spürte, dass sie seinen Kuss erwiderte und sich dabei vorsichtig an ihn drückte.
Ihre Lippen trennten sich nach einer gefühlten Ewigkeit. „Ich …“, stammelte Jolan hilflos, „…ich bin so wahnsinnig verliebt in dich!“ Veena lächelte ihn glücklich und sprachlos an, dann lagen sie sich für lange Zeit in den Armen. Seine Hände strichen behutsam über ihren Rücken und in diesem Moment war er überzeugt, der glücklichste Junge der Welt zu sein.
Aber dann fiel ihm plötzlich ein, was er ihr an diesem Morgen zeigen wollte. Er räusperte sich, um seine Stimme wiederzufinden. „Da ist etwas, was du dir ansehen musst …, es geht um die Pflanze.“, begann er langsam. Sie rückte abrupt von ihm ab und sah ihn besorgt an. „Oh bitte …, bitte nicht“, Veenas Stimme klang fast flehentlich, aber er unterbrach sie rasch und nahm sie mit beiden Händen bei den Schultern. „Nein!“, sagte er eindringlich, „du brauchst dir wirklich keine Sorgen zu machen, es ist nur,… es ist mir unheimlich wichtig, dass du mich verstehst“, er kam sich wieder ganz hilflos vor, „weil…, weil du bist mir so wichtig!“ Sie entspannte sich ein wenig und während sie ihm fest in die Augen sah, erwiderte sie ernst: „Du bist mir auch so wichtig, aber ich habe trotzdem Angst.“
Er atmete etwas beruhigter aus, streichelte zart ihre Wange und sagte: „Das Ganze ist ja auch eine völlig verrückte Geschichte, aber jetzt kann ich es nicht mehr ungeschehen machen, oder?“ Und ohne es zu wissen, hatte er etwas ausgesprochen, woran er viel später noch oft denken sollte.
Sie erhoben sich, er nahm sie erneut bei der Hand und führte sie zurück an die kaputte seitliche Pforte zum verwilderten Gartenbereich. Als sie zusammen unter dem Haselstrauch knieten, bemerkte Jolan fast dankbar, dass die Pflanze jetzt nicht so einen starken Einfluss auf ihn hatte! Er hielt immer noch Veenas Hand. Dann lächelte er ihr aufmunternd zu und sagte: „Pass auf, sieh nur was passiert …“, er streckte langsam seine freie Hand zur pulsierenden Schote unter den Ranken aus. Veena versuchte ruhig zu bleiben, aber die Angst schnürte ihr förmlich die Kehle zu. Dieses zuckende Ding in der Pflanze war der blanke Horror! Ein ersticktes Stöhnen entfuhr ihr als sie sah, wie die grässlichen Ranken mit den Dornen seiner Hand auswichen und wie Schlangen beiseite glitten.
Sie umklammerte Jolans Hand mit aller Kraft, während sie ihn dabei beobachtete, wie er mit seiner Linken die Schote sanft streichelte. Jolan sah vorsichtig nach Veena und wisperte atemlos: „Es drückt sich gegen meine Handfläche … sieh doch nur.“ Dann zog er seine Hand langsam zurück und die Ranken schlossen sich, wie vorher, wieder schützend um die Schote.
Das war zu viel für Veena. Mit einem kleinen Schrei sprang sie auf und lief aus dem Garten hinaus, an Ellas Haustür vorbei über den Dorfplatz vor dem Zentralgebäude und weiter zur Häuserreihe, wo sie wohnte. Jolan versuchte ihr zu folgen, er stolperte förmlich mit ihren Schuhen in den Händen hinter ihr her. Er konnte gerade noch sehen, wie sie zwischen den Reihenhäusern verschwand. Völlig aufgewühlt blieb Jolan mitten auf dem Dorfplatz stehen, ihm war zum Heulen zumute. „Ich Idiot!“, schalt er sich verzweifelt. Da hatte er sie endlich geküsst und alles war so wunderschön gewesen, aber dann musste er alles verderben und ihr unbedingt die Schote zeigen!
Von Anfang an war Veena die Pflanze nicht geheuer gewesen, vor allem die unheimliche Verbindung zu ihm nicht. Er hätte es wissen müssen, aber nun war es geschehen. Traurig stand Jolan mit gesengtem Kopf da, er hatte Mühe, die sich so rasch ändernden Situationen zu begreifen. Gerade eben war Veena noch so glücklich gewesen,… und jetzt? Wie konnte das alles nur so schnell passieren? Sollte er ihr nach Hause folgen, um ihr dann …, was zu sagen? Wie konnte er sie beruhigen? Jolan musste sich eingestehen, dass er gerade völlig überfordert und ratlos war.
Unentschlossen ging er schließlich langsam zurück. In der Küche saßen seine Großmutter und Chris noch am Frühstückstisch, sie sahen ihn erwartungsvoll an, als er hereinkam. „Was ist passiert, Mann?“, fragte Chris. Jolan ließ sich auf seinen Stuhl fallen.
„Ich hab’s vermasselt …“, antwortete er müde.
Chris sah ihn einen Augenblick an und sagte vorsichtig lächelnd: „Nur weil du ihr die Schuhe geklaut hast? Das wird sich schon wieder geradebiegen lassen.“ Jolan betrachtete die mit Plastikblüten verzierten Flipflops in seinen Händen. „Nicht witzig …“, erwiderte er lahm.
Veena hatte schon immer, sobald es warm wurde, überall ihre Schuhe liegen gelassen. Seufzend stand er auf. „Entschuldigt bitte …“, sagte er zu den beiden, „aber ich möchte jetzt alleine sein.“ Er ging die Treppe hoch auf sein Zimmer und schmiss sich mutlos aufs Bett. Seine Gedanken gingen hin und her und vor und zurück, aber ihm fiel jetzt einfach keine Lösung ein! Erschöpft von den ganzen Aufregungen döste er schließlich ein.
Chris’ Stimme weckte ihn plötzlich. „Jolan!“, rief er, „Veena ist hier, kommst du runter oder soll sie raufkommen?“ Jolan sprang auf und sah auf die Uhr, er war fast eine Stunde lang weg gewesen. „Nein, nein …“, antwortete er rasch, während er nach ihren geblümten Schuhen griff, „ich komme runter.“ Als er unten ankam, war Chris dabei, den Frühstückstisch abzuräumen. „Wo ist sie denn“?, fragte Jolan umhersehend. „Sie ist draußen geblieben, steht vor der Haustür …“, erwiderte Chris so unbeteiligt wie möglich. Jolan ging zur Tür und da stand sie. Sie sah ihn mit großen Augen an und sagte: „Es tut mir leid, aber ich finde die Sache mit der Pflanze einfach schrecklich gruselig …“.
„Ich weiß …“, sagte er und kniete sich dann hin, um ihr die Flipflops anzuziehen. Jolan blickte zu ihr auf und sah dankbar, dass sie wieder lächelte.
Sie gingen Hand in Hand zum Dorfplatz und setzten sich auf eine Bank unter dem Schatten einer Kastanie. „Was glaubst du wird als nächstes passieren …“, begann Veena, „… hast du denn gar keine Angst?“
„Nein,… nicht wirklich, denn durch meine Verbundenheit mit der Pflanze spüre ich, dass uns von ihr keine Gefahr droht“, erwiderte Jolan, während er sanft ihren Arm streichelte.
„Aber das, was in ihr heranwächst …, es ist wie in einem Horrorfilm! Woher willst du wissen, dass kein Monster aus der Pflanze kommt?“ Er sah in Veenas hübsches, besorgtes Gesicht. „Ich weiß es einfach, keine Ahnung warum, doch bin ich mir ganz sicher, dass kein ekliges Ungeheuer aus der Schote schlüpfen wird.“
„… Mir ist es einfach unheimlich, dass du so mit der Pflanze verbunden bist. Die Schote lässt sich nur von dir berühren …“, sie legte ihren Kopf an seine Schulter, „… und diese Ranken machen dir Platz, das ist echt gruselig“, fuhr sie fort.
„Ich weiß, das wirkt wirklich wie aus einem Horrorfilm. Ist es aber nicht, du musst mir einfach vertrauen.“
„Aber es drückt sich an deine Hand, wie ein Ungeborenes im Bauch seiner Mutter!“, begann sie erneut. Er wandte sich ihr zu und nahm sie an den Händen. „Eben drum Veena, genau deshalb kann ich spüren, dass dort etwas Gutes wächst, und dass es keinen Grund gibt, sich zu fürchten!“, schloss er bestimmt. Und endlich machte er das, was er eigentlich schon die ganze Zeit machen wollte: Er nahm sie in die Arme und küsste sie wieder. Dann versicherte er ihr, dass sie gemeinsam bestimmt alles hinkriegen würden. Hauptsache, sie waren zusammen.
Daher informierte er sie darüber, wie er am gestrigen Abend seine Eltern angerufen hatte, um ihnen mitzuteilen, dass er auf jeden Fall die restlichen drei Wochen der Sommerferien weiterhin bei Ella und Chris in der Lebensgemeinde verbringen wolle. Veena war überglücklich, obschon es ihr Unbehagen bereitete zu wissen, dass Jolan nicht nur ihretwillen bleiben wollte, sondern auch der Pflanze wegen. Er bemerkte ihren leicht abwesenden, erneut sorgenvollen Blick, hob ihr Gesicht an und küsste sie nochmals. Veena seufzte auf, die Gefühle, die Jolans Zärtlichkeit in ihr auslösten, waren das Schönste was sie je erlebt hatte. Er lächelte und küsste sie immer wieder. Veena schloss die Augen, sie war knapp über fünfzehn Jahre alt und war noch nie zuvor von einem Jungen geküsst worden. In diesem Moment wurde ihr bewusst, dass sie Jolan wirklich liebte.
Gegen zehn Uhr abends, als es dämmerte, brachte Jolan Veena nach Hause. Das war der absolut wundervollste und aufregendste Tag seines Lebens gewesen! Auf dem Rückweg sprang er spontan in die Luft und rief immer wieder übermütig: „Ja! Ja! Ja!“, das Leben war einfach wunderbar!
Als Jolan aber vor dem Haus seiner Großmutter ankam, zögerte er und ging nicht gleich hinein. Obwohl seine Gedanken gerade noch völlig von Veena erfüllt gewesen waren, zog ihn eine plötzlich aufkommende, nahezu unwiderstehliche Macht in den hinteren Teil des verwilderten Gartens. Jolan näherte sich der Pflanze und spürte ein Prickeln im Körper, das mit jedem weiteren Schritt intensiver wurde. Er fiel auf die Knie und konnte es nicht fassen,… die Schote hatte sich in den vergangenen Stunden fast verdoppelt! Um ihn herum schien die Luft wie aufgeladen zu knistern, das kribbelnde Gefühl wurde immer stärker und erfasste jede Faser seines Körpers. Die Ranken, jetzt dick wie Besenstiele und mit zehn Zentimeter langen Dornen bewehrt, machten seinen Händen bereitwillig Platz. Als er die Handflächen auf die milchig transparente Haut der geschwollenen Schote presste, schien dieses Prickeln sein ganzes Selbst zu überfluten und das ihm so bekannte, seltsame Wohlgefühl nahm vollkommen Besitz von ihm. Weit entfernt in seinen Gedanken, bemerkte er noch jenes Glück mit Veena, intensiv und warm,… aber längst nicht so machtvoll wie die Euphorie, die ihn jetzt durchströmte. Dumpf, wie durch einen dicken Vorhang, hörte er das Gemurmel von Chris und seiner Großmutter von der Terrasse her. Unter seinen reibenden Händen wand sich das Wesen in der Schote und drückte sich in seine Handflächen hinein. Jetzt war ganz klar zu erkennen wie das ungeborene Geschöpf beschaffen war. Es war auf jeden Fall menschenähnlich: Kopf, Arme und Beine, genau wie ein Mensch. Oder vielleicht auch wie eine Art Affe? Da es tatsächlich wie ein Säugling zusammengekrümmt in der Schote lag, konnte Jolan auch nicht genau abschätzen wie groß das Wesen war. Er hatte keine Angst, eher im Gegenteil, denn eine tiefe Zufriedenheit hatte sich seiner angenommen. Das summende Kribbeln entwickelte sich zu einem warmen Strom der Verbundenheit, zwischen ihm und dem Geschöpf in der Pflanze. Plötzlich drängte sich eine seltsam klingende Stimme in sein Bewusstsein: „Joolaan …, Joolaan …“, vernahm er leise. Dann erschienen ihm leuchtend wieder jene drei Runen, die er damals beim Einpflanzen des Samens gesagt hatte, hinter seinen geschlossenen Augenlidern.
„Ansuz – Gebo – Dagaz!“, sprach er sodann bestimmt.