Читать книгу Der Einäugige erwacht - Andreas Engel - Страница 13
ОглавлениеKapitel 7.
An diesem Morgen erwachte Jolan ganz normal - vorerst. Denn nur kurz nachdem er die Augen geöffnet hatte, fiel ihm ein, was gestern Abend nach ihrer Ankunft noch alles geschehen war. Bei der Erinnerung stöhnte er anhaltend auf und rieb sich mit beiden Händen lange das Gesicht. War das ein riesengroßer Schlamassel gewesen! Seine Hände bedeckten weiterhin sein Gesicht, warum handeln manche Erwachsene so blöde, dachte er resigniert. Die Arme fallenlassend, starrte Jolan an die Zimmerdecke und rekapitulierte in Gedanken die Ereignisse des gestrigen Abends.
Als er mit Veena müde und hungrig aus dem Wald zurückgekommen war, erwartete sie eine sehr unglücklich wirkende Ella samt Chris in ähnlicher Stimmung; aber vor allem Veenas Mutter.
Barbara hatte, vor Sorge bleich und wie erstarrt, auf der Terrasse gestanden, sie konnte Jolan kaum ansehen und versuchte Veena von ihm weg, an sich zu ziehen. Da hatte er geahnt, dass gerade etwas mächtig daneben lief.
Offensichtlich war Veena derselbe Gedanke gekommen; denn sie hatte sich von ihrer Mutter losgerissen und war zurück an Jolans Seite gesprungen. Das verbesserte die Situation natürlich keineswegs, ganz im Gegenteil. Barbara wendete sich darauf theatralisch aufschluchzend ab und ließ sich verzweifelt auf einen der Gartenstühle fallen.
Schließlich erfuhren sie den Grund der ganzen vorwurfsvollen Aufregung: Irgendwann, um die Mittagszeit, war einer der Nachbarn bei Barbara mit Veenas geblümten Flipflops aufgetaucht, er habe sie auf dem Dorfplatz gefunden. Soweit noch nichts Beunruhigendes, jeder in der Lebensgemeinde kannte Veena und ihre überall vergessenen Schuhe.
Da Veena eine Handyverweigerin war, konnte Barbara ihre Tochter nicht so einfach erreichen und auch Jolan trug, seitdem er in der Lebensgemeinde war, sein Handy nicht mehr mit sich herum. Aber Barbara wusste natürlich, wie verliebt Veena war und dachte daher, sie müsse wohl bei Ella und Chris mit Jolan zusammen sein. Dort angekommen, erfuhr sie, dass die beiden schon den ganzen Tag nicht mehr zu sehen gewesen waren, auch zum Essen nicht. Ella hatte versucht, sie zu beschwichtigen, die beiden seien bestimmt irgendwo anders etwas essen gegangen. Aber kurz danach erzählte eine andere Nachbarin, sie hätte ganz sicher gesehen wie Jolan und Veena bereits am Vormittag, eng aneinander geschmiegt, in den Wald verschwunden waren.
Daher war Barbara zu der Überzeugung gelangt, Jolan wäre mit ihrer Tochter in den Wald gegangen, um sie dort, wie sie sagte, zu 'verführen' oder gar Schlimmeres! Dann lamentierte sie, Veena sei erst gerade fünfzehn Jahre alt und noch so unschuldig, und verhüten würde sie selbstverständlich auch noch nicht. Jolan hatte einen Moment gebraucht, um zu begreifen, was Barbara anscheinend allen Ernstes meinte. Das war dermaßen peinlich! Er wäre am liebsten sofort im Erdboden versunken. Veenas Augen waren vor Fassungslosigkeit weit aufgerissen gewesen, ihnen beiden war im wahrsten Sinn die Spucke weggeblieben. Er konnte sich gar nicht erinnern, ob sie überhaupt irgendetwas erwidern konnten. Jedenfalls waren sie wie betäubt zur alten Hollywood-Schaukel getaumelt und ließen sich dort, eng umschlungen und vor Empörung nahezu bebend, nieder. Veena hatte gezittert und Chris war rasch herbeigekommen, um sie beide in eine Wolldecke zu wickeln. Jolan erinnerte sich daran, dass ihn eine innere Taubheit überkommen hatte. Diese völlig absurde Anschuldigung war so plötzlich über sie hereingebrochen, dass es ihm gar nicht möglich gewesen war, sie gedanklich auch nur auszuformulieren. Derweil hatte Ella die ganze Zeit geduldig und beruhigend auf die weinende Barbara eingeredet. Chris hatte sich zu ihnen auf die Schaukel gequetscht und seinen langen Arm um sie beide gelegt. Nach einer Weile, hatte sich Veenas Mutter ein wenig beruhigt und sah mit flehentlichen Blicken nach ihrer Tochter. Jolan bemerkte dann, wie Barbaras Mundwinkel dabei ständig zuckten, als ob sie keine Kontrolle darüber hätte. Sie hat einen totalen Nervenzusammenbruch, hatte er gedacht, ist irgendwie übergeschnappt.
Seine Großmutter war darauf herübergekommen und versuchte zu beschwichtigen. „Sie meint es nicht so …“, hatte Ella hilflos begonnen, während sie Veenas Knie unter der Wolldecke rieb, „… sie hat nur Angst dich zu verlieren, Kleines“, ergänzte sie einfühlsam. Veena aber hatte geschwiegen und dabei mit gesenktem Kopf auf ihre Füße gestarrt.
Dann war Barbara, mit versöhnend ausgestreckten Händen, auf sie zugekommen; doch Veena hatte zu ihr aufgeblickt und tonlos gesagt: „Geh weg, Mama …“.
In jenem Augenblick am gestrigen Abend, war Veena so wütend auf ihre Mutter gewesen wie noch niemals zuvor. Alles, was sich im Verlauf des letzten Jahres so aufgestaut hatte, kam ihr in dem Moment schlagartig zu Bewusstsein, als sie Barbara mit jenen drei Worten von sich wies.
Veena hatte daran gedacht, wie sich ihre Mutter ständig und überall verhielt. Andauernd redete sie über ihr Selbstfindungsgetue und verfiel dabei in wohlwollendes Dauerlächeln,… ihr so schrecklich gewollt aussehendes, beschwingtes Umhergehen … und am schlimmsten war, egal was Veena ihr erzählte, das wissende Genicke, in welches Barbara dann immer verfiel. Und wie enttäuscht ihre Mutter war, als Veena ihren Kleidungs-Stil änderte. So schade sei das, diese Anpassung ans Frauenfeindliche, und die von den Männern erzwungene Zurschaustellung der weiblichen Reize! Dabei schleppte sie alle paar Monate irgendeinen anderen Typen an. Veena schauderte es immer noch, wenn sie an den bekloppten Tantra-Masseur dachte, der für einige Wochen bei ihnen eingezogen war. Er verstehe sie bis in die tiefsten Tiefen …, hatte Barbara ihr anvertraut. Die gierigen Blicke, die er auf ihre Tochter warf, bemerkte sie allerdings nicht.
All’ das war Veena am gestrigen Abend durch den Kopf gegangen und das alles hatte sie so satt! Und jetzt diese total ungerechte, superpeinliche Anklage hier bei Ella. Ausgerechnet ihre Mutter kam mit so einem altmodischen und völlig blöden Vorwurf,… das war einfach nur schrecklich!
Etwas später hatten sie dann zu dritt in der Küche gesessen, denn Ella begleitete Barbara nach Hause. Chris hatte Brote geschmiert, aber ihnen war der Appetit vergangen. Sie sprachen nicht viel, irgendwie konnte man zu der ganzen Sache nichts Gescheites, geschweige denn Helfendes, sagen. Barbara hatte mit ihrer Aktion mehr Porzellan zerschlagen, als in einem ganzen Königspalast zu finden gewesen wäre. Jedenfalls wollte Veena vorerst nicht mehr nach Hause zurück.
Das war alles gestern Abend geschehen. Jolan richtete sich auf, um über den Rand seines Bettes hinabzuschauen. Etwas Gutes hatte das fürchterliche Drama immerhin gebracht: Dort lag Veena auf einer Luftmatratze unter ihrer Decke zusammengekauert und schlief. Sie war bei ihm und das war jetzt erstmal die Hauptsache. Barbara würde sich schon wieder einkriegen, aber Veena würde ihrer Mutter diesen schrecklichen Auftritt nicht so schnell vergeben, da war nichts dran zu rütteln.
Sich weiter vorsichtig aufrichtend, um Veena nicht zu wecken, lehnte er sich in sein Kissen zurück und überlegte. Ihm war dringend danach, zur Ruhe zu kommen. Die ganze Zeit stürzten die Ereignisse pausenlos erst auf ihn, und jetzt auch auf Veena, beziehungsweise, auf sie beide, ein. Heute schon würde die ganze Action weitergehen, sie hatten ja quasi einen 'Termin' mit dem Waldling. Das wirkte nach dem vorangegangenen Abend wieder total surreal, hatten sie gestern wirklich den ganzen Tag mit dem Geschöpf verbracht, es kennengelernt? Doch, er konnte sich an alles erinnern was der Skogsrå ihnen erzählt hatte. Und jetzt wollten sie endlich Regin finden. Das wirkliche Leben ist eben anders als erfundene Geschichten, dachte er. Bei den Helden in den Fantasy-Romanen oder Filmen ging es im Endeffekt immer nur um das Abenteuer, die tatsächlich realen Probleme des Lebens blieben denen erspart.
Plötzlich sah Veena verschlafen über seinen Bettrand. „Hey …, wie geht’s dir?“, begrüßte er sie. Wortlos kletterte sie zu ihm ins Bett, kroch unter seine Decke und drängte sich an ihn. Jolan schnappte vorsichtig nach Luft, während er versuchte sich entsprechend etwas seitwärts wegzudrehen.
Veena blickte zu ihm auf. „Ich bin zwar erst fünfzehn und unschuldig, wie meine Mutter sagt, aber wie ein Junge funktioniert weiß ich schon …“, meinte sie lächelnd und legte ihren Kopf an seine Brust,
„… du brauchst dich nicht vor mir zu schämen“, flüsterte sie dann und fuhr nach einer kurzen Pause fort: „Das, was meine Mama da gestern alles sagte …, ich meine was sie über uns dachte …“, Veena hielt einen Augenblick inne, „über so was hab’ ich doch noch nie nachgedacht, ich meine, natürlich schon, aber nicht so wirklich, wir beide … du weißt schon.“
Jolan kraulte langsam ihr lockiges Haar. „Natürlich, mir geht’s doch genauso …“, er suchte nach den richtigen Worten, „… alles ist gut wie es ist, wir wollen einfach zusammen sein,… und wir lassen uns das von deiner Mutter nicht verderben …“, er überlegte noch einen Moment, „… am besten wir versuchen einfach diesen blöden gestrigen Abend zu vergessen.“
Sie drückte ihn noch etwas fester. „Ja, so machen wir es!“, antwortete sie zuversichtlich.
Der gute Chris hatte sich alle Mühe gegeben und einen wundervollen Frühstückstisch gedeckt, es gab sogar Rühreier mit Tomaten. Jolan und Veena aßen mit großem Appetit, Chris sah ihnen zu und lachte glücklich. Sie saßen wieder zu dritt, weil Ella die Nacht bei Barbara verbracht hatte. Keiner von ihnen sprach zwar darüber, aber Jolan hoffte sehr, dass es Veenas Mutter inzwischen wieder besser gehen würde. Immerhin, so viel wussten sie, hatte sie eingesehen, völlig überreagiert zu haben. Auf gewisse Weise, dachte Jolan, waren sich Veena und er durch Barbaras Aktion noch viel näher gekommen. Wie ein Sprung nach vorne … nur es fühlte sich so ungeplant an. Er verdrängte diesen Eindruck, weil es ihn verwirrte. Ob Veena ähnliche Empfindungen hatte? Vielleicht würde er sie später danach fragen, sie hatte weiß Gott gerade genug zu verdrängen …!
Da ihnen nicht danach war, von Ella einen Bericht über Barbaras Befindlichkeit zu hören und der Waldling bestimmt längst auf sie wartete, machten sie sich so schnell wie möglich auf den Weg zum verabredeten Treffpunkt auf der Lichtung. Diesmal glaubten sie, auf einen Tag im Wald besser vorbereitet zu sein. Jolan hatte von Chris einen mit Indianermustern bestickten Beutel zum Umhängen bekommen, so waren sie nicht ohne etwas zum Essen und Trinken losmarschiert. Und Veena brauchte auch nicht mehr barfuß gehen, ihre Mutter hatte ja glücklicherweise die aufgefundenen Flipflops mitgebracht.
Auf der Lichtung angekommen, spähten sie zunächst wieder suchend ins Dickicht ringsum, als der Waldling, genau wie am Tag vorher, urplötzlich vor ihnen stand!
„Ich warte schon auf euch seit Sonnenaufgang, jaa, jaa …“, begrüßte das Wesen sie mit seiner sanften und melodischen Stimme.
„Skogsrå!“, sagte Jolan überrascht, „wie machst du das nur? Du erscheinst immer wie hergezaubert!“
„Hurtig, wir Kinder des Waldes unterwegs sind …“, erwiderte der Waldling sanft lächelnd, „… anders als die Menschenkinder. Aber jetzt eilt euch, gefunden habe ich den Aufenthaltsort des Regin“, fuhr er vorangehend fort, „kommt …, kommt mit, führen werde ich euch zu ihm.“
„Was!“, entfuhr es Jolan. Er stolperte mit Veena zusammen hinter dem Skogsrå her, „du hast ihn gefunden? Was hat er gesagt, warum ist er nicht mit dir gekommen?“
„Nicht bei ihm ich war, erspürt habe ich den Ort, wo er ist.“ Jolan drehte sich zu Veena um. „Was meint er bloß?“, fragte er. Sie zuckte die Achseln. „Keine Ahnung, lass uns einfach hinterhergehen, wir werden ja sehen …“
Sie folgten dem Waldling bergauf durch den Wald. Jolan vermutete, dass es in grober Richtung auf den Aussichtsturm zuging, was sich wenig später bestätigte, denn er konnte den Turm mit der Plattform zwischen den Bäumen auftauchen sehen, aber noch gut dreihundert Meter entfernt, eher seitlich aufwärts von ihnen.
„Auaa …!“, jammerte die zurückgebliebene Veena hinter ihm, „Jolan …, wartet auf mich!“ Jolan kehrte um und rief dem Skogsrå über die Schulter zu, er solle doch eben kurz stehenbleiben. „Ach, du jeh …“, sagte er mit einem Blick auf Veenas Beine und Füße; sie waren ziemlich zerkratzt. In dem durchwachsenen Unterholz waren ihre kurzen Shorts, samt Flipflops, wahrlich nicht die sinnvollste Kleidung. „Es tut mir leid …“, sagte er mitfühlend, „… daran hätte ich wirklich denken können, aber warum hast du denn nichts gesagt?“, er streichelte mit dem Handrücken ihre Wange.
„Ich weiß auch nicht …“, antwortete sie unglücklich, „andauernd bin ich das totale Mädchen, so was Blödes!“ Jolan umarmte sie. „Unsinn …“, meinte er tröstend, „du kannst doch nichts dafür, wir haben eben beide nicht richtig darüber nachgedacht.“
Der Waldling war inzwischen längst bei ihnen. „Armes Mädchen,
Veenaa …“, sanft tätschelte er ihre Beine, „bald schon besser wird der Weg“, sagte er dann zuversichtlich nickend. Jolan fragte ihn, wo es denn ungefähr lang ging, worauf der Skogsrå mit ausgestrecktem Arm auf ein Gebiet halbrechts vom Turm deutete.
„Okay, da können wir beide auch auf dem Wanderweg gehen, rechts vom Touriturm geht’s etwas abwärts, da treffen wir uns dann.“ Ihm war klar, dass der Waldling nicht gern den Schutz des Dickichts verlassen wollte. Das Wesen nickte und glitt mit der ihm eigenen Geschmeidigkeit davon. Wie am gestrigen Tag, nahm er Veena huckepack und trug sie bis zum Wanderweg, ab hier kamen sie gut voran. Er betrachtete Veena, die etwas missmutig mit ihren Schuhen in den Händen vor ihm herlief. Es stimmte schon, dachte er schmunzelnd, sie war wirklich ein echtes Mädchen geworden, früher war sie viel mehr wie ein Junge gewesen.
Aber er war wirklich froh, sie dabeizuhaben, denn abgesehen davon, dass er sich neuerdings an ihrer anmutigen Gestalt nicht sattsehen konnte, war Veena vor allem das, was sie eigentlich schon immer gewesen war: ein echter Kumpel. Und beim nächsten Mal würden sie beide darauf achten, dass sie abenteuergerechte Kleidung trüge. Ist eben kein Film, das alles, kam ihm wieder in den Sinn.
Nicht lange danach erreichten sie die Stelle, wo der Waldling bereits wartete. Hier ging ein schmaler Trampelpfad zwischen dem Unterholz leicht bergab, rechts vom Turm weg. Veena konnte so relativ problemlos dem Skogsrå folgen, der sich aber auch immer wieder aufmerksam nach den beiden umsah. Jolan ging am Schluss, so war er in der Lage, alles zu übersehen, zumal es weiterhin ein wenig abwärts ging. Sie waren bereits eine gute halbe Stunde schweigend unterwegs, inzwischen ging es wieder bergauf, als der Pfad immer schmaler wurde und sich dann gänzlich im Dickicht verlor. Veena verweigerte Jolans erneutes Huckepackangebot und versuchte, den geschmeidigen Gang des vor ihr laufenden Waldlings nachzuahmen, es sah aber eher nach einem auf spitzen Füßen ausgeführten Balanceakt aus.
Kurze Zeit später kamen sie an eine größere Lichtung, in deren Mitte sich ein länglicher Hügel befand, der auf jeden Fall künstlich angelegt worden war, denn auf der ihnen zugewandten schmalen Seite, war ganz klar eine Öffnung zu erkennen.
Langsam betraten sie die Lichtung, vor dem Hügel lag eine schon fast zugewachsene, rechteckige Steinplatte im Gras. Sie war offensichtlich die Tür zu dem Eingang gewesen. Der Waldling hockte sich hin, er sah sich zu den beiden um und sagte: „Dort in dem Grabhügel, der Regin ist …“
Jolan war mit Veena hinter ihm, er beugte sich herab, ohne den Eingang aus den Augen zu verlieren. „Was macht er da drin, warst du bei ihm?“, raunte er.
„Nein, nein …, da hinein geht ein Skogsrå nur zusammen mit seinem Blutgeber“, wisperte seine melodische Stimme.
„Dann lasst uns hineingehen“, sagte Jolan entschlossen. Vorsichtig stiegen sie über die Steinplatte und betraten gebückt die niedrige Höhle. In dem diffusen Licht, welches hinter ihnen durch die Öffnung fiel, erkannten sie Regin, der regungslos vor einem steinernen Sarkophag kniete.
Schnell war Jolan bei ihm und wollte den wie erstarrt wirkenden Zwerg an der Schulter rütteln, aber die Hand des Waldlings griff mit der ihm eigenen, lautlosen Geschwindigkeit nach seinem Handgelenk. „Nicht Jolaan! Berühren darfst du ihn nicht.“, der Skogsrå hielt weiterhin seine Hand zurück, während er Regins wie versteinert wirkendes Gesicht betrachtete.
„Warum denn nicht?“, fragte Jolan.
„Weil seinen Körper verlassen er hat …“, die dunkelgrünen Augen des Wesens schimmerten im fahlem Licht, „… wenn abreißt die Verbindung, für immer ist er dann verloren.“ Veena war auf die andere Seite Regins gekrochen, sie sah den Zwerg ja zum ersten Mal. „Aber,… er sieht aus wie tot!“, wisperte sie entsetzt.
Regin kniete in leicht vorgebeugter Haltung, die Hände auf seinen Oberschenkeln ruhend, vor dem steinernen Sarg. Er war völlig eingestaubt, tiefe Falten und Runzeln hatten sich in sein aschfahles Gesicht eingegraben. Die Augen waren geschlossen, aber er wirkte tatsächlich eher tot, als schlafend. Jolan befeuchte seinen Zeigefinger und hielt ihn dem erstarrten Zwerg vorsichtig unter die Nase. „Er atmet …“, flüsterte er erleichtert, „… er lebt wirklich noch!“
Veena stieß den angehaltenen Atem aus. „Wie ist das möglich …, er sieht aus, als hätte er seit seinem Verschwinden hier gehockt.“
„Jaa, jaa …“, sagte die singende Stimme des Waldlings, „viele Tage verharrt der Regin jetzt so. Dies ist ein altes Grab, ein Horgwih, heilig ist dieser Ort.“ Er hatte sich auf seinen Fersen hockend, mit den Händen auf den Knien, niedergelassen. „Vorbereitet hat der Regin einen Übergang zwischen den Welten“, er deutete mit seinem Gesicht zu beiden Seiten der Grabkammer, „seht die Runenreihen an den Wänden und dort auf dem Sargrand die Gefäße …, öffnen wollte er das Tor“, erklärte er weiter.
„Und …? Was ist passiert?“, fragten Jolan und Veena fast gleichzeitig. „Gelungen ist es ihm nicht …, schiefgelaufen etwas ist“, sagte der Skogsrå bedächtig nickend. Sie sahen den Waldling betroffen an. „Und was machen wir jetzt? Wir können ihn doch hier nicht hocken lassen!“
„Nein, nein …, kaum noch Leben ist in ihm, sterben würde er schon bald“, erwiderte das Wesen.
„Aber es muss doch einen Weg geben, ihn zu retten!“, meinte Veena aufgeregt.
„Skogsrå, er darf auf keinen Fall sterben!“, sagte Jolan eindringlich. Der Waldling wiegte sich eine Weile langsam vor und zurück. „Jolaan, hast du den magischen Dolch mitgebracht?“, fragte er abrupt innehaltend. „Ja klar, hier“, Jolan reichte ihm das kleine Messer mit der Fellscheide. Der Skogsrå zog den Dolch langsam heraus und sagte: „Zurückholen werde ich jetzt den Regin.“ Ohne zu zögern, stach er sich mit der Klingenspitze in eine Fingerkuppe seiner rechten Hand.
Die feinen Runen auf dem Dolch glühten im selben Moment auf, als grünes Blut aus der Wunde quoll. Nun legte er die andere Hand vorsichtig auf die Stirn des Zwerges, genau auf die seltsame Tätowierung, jenes Doppelzeichen, gebildet aus einem Winkel nebst aufrechtem Pfeil. Dann drückte das Wesen Regins Kopf langsam in den Nacken, dabei öffnete sich dessen Mund, und Veena entfuhr ein angespanntes: „Oh, Gott!“ Der Waldling presste ein paar Tropfen seines grünen Blutes aus dem Finger in den geöffneten Mund des Zwerges, dabei sprach er mit seiner singenden Stimme: „Thurisaz – Naudhiz – Isa.“ Anschließend ließ er den Kopf Regins auf dessen Brust zurücksinken. Der Skogsrå hockte sich wieder auf seine Fersen. „Mein Grün, heilende Kräfte es hat. Aber nur mit Hilfe des Dolches von Asgard die rettenden Horg-Runen wahrhaft wirken können.“
„Horg-Runen?“, fragte Jolan.
„Heilige Runen, große Kraft ihnen innewohnt“, fügte das Wesen erklärend hinzu, „… aber nun gebt acht, der Regin kommt zurück.“
Im selben Augenblick ging ein Ruck durch den Körper des Zwerges, seine Augen plötzlich aufreißend, entfuhr ihm, tief aus seiner Brust kommend, ein grollendes und gleichsam gequältes, langanhaltendes Stöhnen. Jolan und Veena krochen erschrocken rückwärts an die Steinwände der Grabkammer. Das Stöhnen kam jetzt rasselnd aus der Kehle des aus seiner Erstarrung erwachenden Regin, bevor er hustend und zuckend auf die Seite kippte.
Der Waldling beugte sich vor und strich mit seinen Händen über Gesicht und Kopf des jetzt leise ächzenden Zwerges. Sodann betastete er den Körper und murmelte dabei bestätigend vor sich hin; er sah Jolan an. „Schnell ihn rausholen wir müssen, er ist nun wieder mit sich vereint.“
Jolan und Veena drehten den Zwerg auf den Rücken und schleiften ihn kurzerhand an den Füßen aus dem Grabhügel. Im hellen Sonnenlicht konnten sie dann sehen, wie erschreckend mitgenommen und bleich Regin aussah, er schien um mindestens zehn Jahre gealtert zu sein! Jolan holte rasch eine Flasche aus dem Beutel und hielt sie ihm an die vertrockneten Lippen, während die kniende Veena den Kopf des Zwerges vorsichtig auf ihre Beine gebettet hatte. Stöhnend versuchte Regin die Flüssigkeit aufzunehmen, dass meiste lief ihm allerdings aus den Mundwinkeln heraus in den verfilzten Bart.
„Das ist Minztee“, kommentierte Jolan, „… guter selbst angebauter“, fügte er beruhigend hinzu.
Regin lächelte gequält und versuchte zu lachen. „Keine Cola?… Bin ein echter Glückspilz, was …?“, krächzte er angestrengt, bevor ihn ein Hustenanfall schüttelte. Nach einer Weile gelang es ihnen, ihm etwas mehr von dem Getränk einzuflößen. „Das reicht vorerst, er darf nicht so viel auf einmal trinken, er ist total ausgetrocknet“, behauptete Jolan bestimmt, er hatte zum Glück genügend Abenteuerromane gelesen, um so was zu wissen. „Stimmt, natürlich …“, pflichtete Veena ihm bei, „… aber, es ist unglaublich, wie konnte er das nur überleben?“ Der Waldling hockte die ganze Zeit auf seinen Fersen und beobachtete ihre Bemühungen. „Oh …, wenn wieder vereint, so schnell kein Zwerg stirbt“, er deutete mit dem Kinn auf Regin, „dieser hier noch einiges zu erleben hat“, schloss er nickend.
Etwas später war es ihnen gelungen, den sich nur langsam erholenden Regin, an einen Baum zu lehnen und ihn behutsam abklopfend, vom Staub zu befreien. Regin sah sie mit müden Augen an. „Ich danke euch …“, sagte er leise, „ihr habt mir das Leben gerettet, ich … ich danke euch von Herzen.“ Sein Kopf sank erschöpft auf die Brust.
Jolan sah sich nach dem Waldling um. „Du sagst zwar, so schnell stirbt kein Zwerg, aber diesem hier geht’s gar nicht gut … er ist, glaub’ ich, ohnmächtig geworden.“
„Jaa, jaa …, Regin viele Tage seinen Körper zurückgelassen hatte“, antwortete der Skogsrå, „ebenso viele Tage erholen wird er sich müssen.“ Jolan dachte nach. Es schien offensichtlich, dass Regin, trotz des heilenden Blutes des Waldlings, einige Zeit brauchen würde, sich von der dreiwöchigen Strapaze der Erstarrung, ohne Essen und Trinken, zu erholen. Nach einem Augenblick weiteren Überlegens bestimmte er: „Wir bringen Regin zu mir nach Hause, also zu Ella und Chris. Sie wissen ja bereits, dass ich Regin kenne und wir ihn die ganze Zeit vermissen.“
„Und du glaubst, dass Ella einfach so mitmacht, ich meine einen halbtoten Zwerg bei sich aufzunehmen, ohne Fragen zu stellen?“, meinte Veena zweifelnd.
„Was sollen wir sonst machen …?“, sagte Jolan, „ihn ins Krankenhaus bringen? Und dort erklären: Hey, Leute. Wir haben hier einen Typen, der hat versucht ein Tor zwischen den Welten zu öffnen und ist dabei in eine dreiwöchige Starre verfallen …?“, er sah Veena fragend an.
„Du hast recht“, antwortete sie, „die würden ihn in die Psychiatrie verfrachten und gleich für immer da behalten …“
Jolan nickte. „Eben,… und uns gleich mit!“ Er kniete erneut neben dem Zwerg nieder. „Regin! Regin, du musst aufwachen!“, er rüttelte ihn sanft an der Schulter. Der Zwerg hob den Kopf und öffnete langsam die Augen. „Komm schon!“, bemühte sich Jolan weiter, „du musst versuchen aufzustehen, wir bringen dich zu mir nach Hause.“
„Ja, ja …, na … natürlich“, stammelte Regin, „… muss noch ein,… ein wenig trinken.“
Veena gab ihm noch etwas von dem Pfefferminztee und zwang ihn behutsam, eine halbe Banane zu essen. Er kaute langsam mit geschlossenen Augen, dann rappelte er sich mühsam auf und lehnte sich an den Baum. Sie sammelten ihre herumliegenden Sachen ein, dann setzte sich Jolan nochmal ins Gras und zog seine Sneaker, Hose und Shirt aus. Er nahm den magischen Dolch, schnitt damit das Shirt an und zerriss es in zwei Hälften. Dann bat er Veena, sich zu ihm zu setzten und wickelte mit den so entstandenen Stofffetzen ihre Füße ein. „Zieh' meine Hose an“, sagte er zwischendurch. Sie entledigte sich rasch ihrer Shorts und tat wie empfohlen. Danach zog er ihr seine Sneaker über. „So, das müsste gehen …“, meinte er zufrieden, „ich denke jetzt dürften dir meine Schuhe einigermaßen passen.“
Veena sah ihn überrascht und sprachlos an, während sie die weite Cargohose am Hosenbund und dann an den Beinen umkrempelte. „Aber was ist mit dir, du kannst doch nicht so loslaufen?“ Jolan stand in Socken und Unterhose, samt umgehängtem Beutel, vor ihr. „Da ist was dran …, sieht total bescheuert aus!“, entgegnete er und zog sich grinsend die Strümpfe aus. Er schnappte sich noch Veenas Flipflops samt Shorts und packte sie zusammen mit seinen Socken in den Beutel. Dann nahmen sie den Zwerg in die Mitte, so dass er sich auf ihre Schultern stützen konnte und marschierten mühsam dem vorauseilenden Waldling hinterher.
Auf dem schmalen Pfad erwies sich das Vorwärtskommen mit dem halb ohnmächtigen Regin als äußerst mühselige Angelegenheit, immer wieder stolperten Jolan und Veena mit ihrer Last seitwärts ins Gestrüpp. Besonders für Jolan war das eine recht schmerzhafte Erfahrung. Obwohl er schon bald aus unzähligen Kratzern und Schürfwunden blutete, war er froh, dass wenigstens Veena einigermaßen heil durchs Unterholz kam. Daher biss er die Zähne zusammen und marschierte unbeirrt weiter.
Sie brauchten über eine Stunde, um endlich in die Nähe des Aussichtsturmes zu gelangen, dort ließen sie sich erschöpft in das Dickicht sinken. Jolan war total aus der Puste, sein Brustkorb hob und senkte sich wie ein Blasebalg. Der Zwerg war zwar einen halben Kopf kleiner als er, aber fast einen ganzen Kopf größer als die zierliche Veena. Regins kräftiger, stämmiger Körper hing wie ein Mehlsack zwischen ihnen, daher hatte Jolan die Hauptlast des halbwegs Bewusstlosen auf sich genommen. „Oh, mein Gott, Jolan …, du siehst ganz fürchterlich aus …“, sagte Veena mit kummervoller Stimme, „… wir können unmöglich so weiterlaufen, wir brauchen Hilfe!“
„Lasst …, lasst mich hier liegen, Kinder“, meldete sich der nach wie vor völlig erschöpfte Regin zu Wort, „ich werde mir schon irgendwie selbst weiterhelfen …“, ein trockenes Husten begleitete seine Worte.
„Ja, klar …“, Jolan leckte sich die trockenen Lippen und sah den Zwerg kopfschüttelnd an, „glaub mir, du siehst noch beschissener aus als ich …, also negativ … kommt überhaupt nicht in Frage!“ Dann mühte er sich zu Veena hinüber; sie küsste ihn vorsichtig, mochte ihn aber kaum berühren. Jolan zeigte zum Turm hinüber. „Seht ihr, auf der Plattform, alles voller Leute inzwischen. Und auf dem Weg zurück sieht’s bestimmt nicht besser aus.“
Der Waldling tauchte zwischen den Sträuchern auf, er hatte die Umgebung erkundet.
„Wahr sind Jolaans Worte …“, säuselte seine wunderliche Stimme, „viele Menschenkinder, To … toristen, wie ihr sie nennt, auf dem Weg sind zum Wandern.“ Jolan erklärte, dass es völlig unmöglich war, jemanden um Hilfe zu bitten. Ganz im Gegenteil, sie müssten aufpassen, von niemandem gesehen zu werden. Die Leute würden wahrscheinlich die Polizei rufen,… den Notdienst. Was das bedeutete, konnten sie sich wohl ausmalen. Es würde schon schwer genug sein, Ella und Chris davon abzuhalten, etwas in dieselbe Richtung zu unternehmen.
Sie mussten einen weiten, beschwerlichen Umweg in Kauf nehmen, um nicht von dem Turm aus gesehen zu werden. Danach schleppten sie den weiterhin ermatteten Zwerg quer durch den Wald bis zu ihrer Lichtung in der unmittelbaren Nähe des Gartens. Völlig ausgelaugt saßen sie auf dem umgestürzten Baumstamm. Jolan spürte schon längst nichts mehr von den vielen Kratzern oder seinen mitgenommenen Füßen. Aber er ahnte, wie es ihm spätestens am nächsten Tag ergehen würde.
„Ich werde mich mit Regin zusammen erholen müssen …“, stöhnte er und stieß den Atem mit aufgeblasenen Wangen aus.
„… Ich leg mich zwischen euch!“, ächzte Veena. Sie sah natürlich nicht so übel wie Jolan aus, war aber ebenfalls total erledigt und durchgeschwitzt.
Der Waldling kam zu ihnen. „Kommt her ihr Armen, heilen werde ich euch von den Anstrengungen“, er nickte auffordernd, seine großen Augen glänzten. Die beiden rutschten lethargisch von dem Baumstamm und der Skogsrå legte seine Hände auf ihre Köpfe. „Viele von diesen kleinen blutsaugenden Tieren auf euch sich niedergelassen haben …, verdrängen diese Plagegeister, werde ich nun .“ Jolan und Veena wären eh viel zu erschöpft gewesen, um überhaupt irgendetwas von den Zecken welche sie befallen hatten, zu bemerken. Kurz darauf ging ein warmer Strom, wie eine Welle von ihren Köpfen herab durch ihre Körper und die widerlichen Insekten fielen einfach von ihnen ab. „Zu viele von diesen Tieren im Wald sind, gestört auch ihr Gleichgewicht ist …“, der Waldling nahm die Hände von ihren Köpfen, und erklärte weiter: „Ihr Gift und das der Brennnesseln, auch die Wunden von Brombeerranken und Gestrüpp von euch bannen werde ich.“ Er bat Jolan erneut um den magischen Dolch, dann stach sich das Wesen, wie vorher bereits, in den Finger und die Runen auf der Klinge leuchteten wieder kurz auf, als seine Stimme abermals die heiligen Worte aussprach: „Thurisaz – Naudhiz – Isa“.
Der Zauber bewirkte, dass sie bereitwillig ihre Münder öffneten und der Waldling je einen Tropfen seines grünen Blutes auf ihre Zungen fallen lassen konnte. Es schmeckte nach etwas Unbestimmbaren, pflanzlichen. Augenblicklich durchströmte sie ein ungeheuer wohltuendes Gefühl, alles Brennen, alle Schmerzen, selbst die Erschöpfung waren wie weggeblasen.
Jolan seufzte zufrieden mit geschlossenen Augen auf, dann blickte er herab und erkannte fassungslos, dass seine Verletzungen verschwunden waren.
„Oh, schau doch!“, rief Veena, „… sieh nur, selbst deine Füße sind wieder okay! Und ich bin auch ganz …“, sie stockte, „… wieder ganz toll okay!“, meinte sie dann lachend und erhob sich aus ihrer hockenden Stellung auf die Knie, um den Skogsrå stürmisch zu umarmen.
Regin hatte das alles mit angesehen. „Seit Jahrhunderten ist so etwas nicht mehr geschehen …“, sagte er mit ruhiger Stimme, „… ein Waldhüter Wodans ist erweckt worden und ein Zwerg sowie zwei Menschenkinder sind an einem Tag mit seinem grünen Blut geheilt worden. Das ist mehr als ich zu hoffen gewagt habe, den Göttern sei gedankt!“
Sie sahen sich schweigend an, in diesem Moment wurde ihnen bewusst, dass sie von nun an etwas Besonderes miteinander vereinte.