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Kapitel 1.

Jolan saß ganz vorne im Bus; in der ersten Sitzreihe rechts, schräg hinter dem Fahrer. Er hatte es schon immer gemocht, weit vorne im Bus zu sitzen, so konnte er direkt durch die riesige Frontscheibe in die Landschaft gucken.

Außer ihm befanden sich gerade mal zehn weitere Mitreisende in dem Fahrzeug und daher hatte er seinen vollgepackten Trekkingrucksack auf den freien Platz neben sich abgestellt.

Der Bus bog jetzt in die Straße ein, die zur Endstation der Linie, dem Zentrum der kleinen Stadt Reiherberg führte, als Jolan der mittelalterliche Markt, kurz vor dem eigentlichen Ortseingang, auffiel. Er sprang auf und bat den Fahrer, ihn rauszulassen.

Der Mann brummte ein wenig ungehalten vor sich hin und stoppte den Bus an der rechten Straßenseite. Jolan wuchtete sich den schweren Rucksack über die linke Schulter, bedankte sich und stieg aus. Er wartete, bis der Bus weiterfuhr und sah sich um; sein Blick fiel auf den ehemaligen Schnellimbiss 'Reiherberger Grill', welcher sich in den vergangenen Jahren offensichtlich zu einem richtigen kleinen Restaurant gemausert hatte. Es war bestimmt über drei Jahre her, seitdem Jolan das letzte Mal in diesem Imbiss gewesen war. Da war er noch elf Jahre alt gewesen … ein kleiner Junge, der sich seine Pommes rot – weiß holte.

Er wandte sich ab, blickte die Straße zurück und sah in vielleicht dreihundert Metern Entfernung den Mittelaltermarkt, schräg gegenüber auf einem freien Feld, hinter dem sogenannten 'Hohenhorster Graben', liegen. Jolan blinzelte in den wolkenlosen Himmel, ärgerte sich darüber, dass er seine Sonnenbrille vergessen hatte und machte sich die Straße überquerend auf den Weg. Er griff in die Oberschenkeltasche seiner altmodischen, weiten Cargohose und holte sein Handy hervor; trotz der etwas komplizierten Anreise mit Bahn und Bus von seiner Heimatstadt Hamburg aus, war er tatsächlich eine gute halbe Stunde eher als erwartet in Reiherberg angekommen. Hier sollte Jolan die ersten drei Wochen der Sommerferien bei seiner Großmutter Ella und ihrem Lebensgefährten Chris verbringen.

Bis zu seinem elften Lebensjahr war er jeden Sommer hier gewesen, doch die letzten drei Jahre waren seine Eltern während der Ferien mit ihm zusammen in den Urlaub geflogen und so hatte Jolan seine Großmutter nur noch zu Weihnachten oder Ostern gesehen. Aber vor zwei Wochen hatten ihm seine Eltern überraschend offenbart, dass sie darüber nachdachten, sich trennen zu wollen. Daher waren sie auf die Idee gekommen dieses Jahr nicht zusammen in den Urlaub zu fahren, um die ganze Sache nochmal in Ruhe zu überdenken, jeder für sich alleine.

Jolan dachte aufseufzend zum wiederholten Male darüber nach, wie plötzlich und unerwartet das gekommen war. Ihm war überhaupt nicht aufgefallen, dass seine Eltern irgendwelche ernsthaften Probleme miteinander gehabt hatten. Sie hatten ihm nur erklärt, dass sie sich irgendwie 'auseinander gelebt' hätten.

Wie auch immer …, er hoffte jedenfalls sehr, sie würden sich wieder einkriegen und am Ende doch zusammenbleiben.

Inzwischen war Jolan am Eingang des Marktes angekommen. Um ihn zu betreten, musste er durch ein rustikal anmutendes Tor aus naturbelassenen Birkenstämmen gehen. An Ketten befestigt, hing an dem oberen Querstamm ein langes Brett auf dem mit eingebrannten Buchstaben: > MITTELALTERLICH – SPEKTAKULUM <

in einer verschnörkelten Schrift geschrieben stand. Jolan zückte erneut sein Handy und schrieb seiner Großmutter, dass er bereits angekommen sei und sie ihn beim Feld am Hohenhorster Graben in einer halben Stunde abholen könne, da er sich nur noch eben den Markt angucken wolle.

Er schaute sich um, trat an den kleinen Kassentisch unter einen Sonnenschirm und bezahlte drei Euro Eintritt. „Drei Taler“, klärte ihn der in einer mittelalterlichen Bauerntracht gekleidete Mann an der Kasse, lächelnd auf. Langsam betrat Jolan das Gelände. Das ist ja richtig cool, dachte er und betrachtete dabei die verschiedenen Buden, Zelte und Pavillons. Das alles wirkte wie die Kulisse für einen historischen Film und die Verkäufer an den Ständen waren alle dementsprechend gekleidet. Einige von ihnen trugen sogar große Dolche in Lederscheiden an ihren Gürteln.

Geschichte war, auch wenn es viel zu oft ausfiel, sein absolutes Lieblingsfach und so einen Markt wollte er schon lange Mal besucht haben. Irgendwo hatte er letztes Jahr ein Plakat gesehen, das genau so eine Veranstaltung bewarb und nun ergab sich eine ganz unverhoffte Gelegenheit für ihn.

Sein Handy summte kurz: Okay Jo’, lass dir Zeit, schrieb ihm seine Oma mit einigen herzlichen Emojis, ich hole dich in circa einer Stunde ab.

Jolan lächelte, Ella war schon immer eine tolle Großmutter gewesen, mit ihr konnte man über alles reden. Sie machte einem keine Vorschriften und ließ den Dingen ihren Lauf. Sie war eben eine recht moderne Oma, meistens lustig und sogar ein wenig verrückt. Jedenfalls würde er sich bestimmt nicht so sehr langweilen, wie man es vielleicht annehmen könnte, wenn ein fast fünfzehnjähriger Junge drei Wochen seiner Sommerferien bei seiner Großmutter verbringt. Außerdem war ihm eigentlich nur danach, abgelenkt zu werden; über die eventuell bevorstehende Trennung seiner Eltern, sowie den daraus resultierenden Folgen, wollte er nicht mehr länger nachdenken.

Jolan lenkte seine Aufmerksamkeit wieder auf die unterschiedlichen Marktstände; da wurde allerlei historische Handwerkskunst gezeigt und natürlich auch zum Verkauf angeboten. Kleidung, Schuhe und Lederwaren jeglicher Art, Schmuck und Musikinstrumente, aber auch allerlei Bücher zum Thema Mittelalter. Dazu gab es noch verschiedene Gaukler: Jongleure, gekleidet wie Hofnarren, bunt gewandete Tänzer und eine Truppe von Musikanten, die auf ihren altertümlichen Instrumenten lustige sowie auch seltsam klingende Melodien spielten.

Und es gab jede Menge zu essen; die dargebotenen Speisen sahen zwar sehr köstlich aus und dufteten auch genauso, aber Jolan war bei dem ganzen Trubel noch heißer geworden als ihm eh schon war. Es war ein wirklich warmer Sommertag und sein Rucksack wurde auch nicht gerade leichter, so war er überhaupt nicht hungrig, sondern vielmehr durstig.

Er nahm sein Gepäck ab, wischte sich mit dem Unterarm den Schweiß von der Stirn und schaute eine Weile einem abenteuerlich aussehenden Schwertschlucker bei seiner haarsträubenden Tätigkeit zu. Der versenkte gerade eine lange Klinge fast bis zum Heft in seinen weit geöffneten Mund.

„Ach,… was der da treibt, ist gar nicht so gefährlich wie es aussieht, junger Herr …“, hörte Jolan jemanden mit tiefer Stimme hinter sich sagen. Er drehte sich nach dem Sprecher um und erblickte einen zwergenhaft aussehenden Händler.

„Weißt du, er benutzt eine stumpfe Waffe mit abgerundeten Kanten“, fuhr dieser fort, „wenn er das mit meinen Schwertern versuchen würde, hätte er freilich seinen letzten Auftritt gehabt.“

Der untersetzte Mann, etwas kleiner als Jolan, hatte unglaublich breite Schultern und einen großen Kopf. Seine dicken, verfilzt aussehenden Haare waren zu Zöpfen geflochten, ebenso wie seine Bartenden.

„Es sei denn, er kriegt jetzt einen Krampf, dann erstickt er natürlich“, schloss der Händler lakonisch.

Jolan schaute erschrocken nach dem Schwertschlucker, aber dieser zog sich soeben unbeschadet das Schwert aus dem Hals. Der Zwerg lachte dröhnend. „Komm näher Junge, du bist bestimmt durstig!“ Er füllte einen Holzbecher aus einem großen, irdenen Krug und hielt ihn Jolan hin. Herantretend nahm er das Gefäß entgegen und schnüffelte vorsichtig an dem Getränk. Wieder lachte der Zwerg. „Ich werde dich schon nicht vergiften, nur gute Kräuter und reines Wasser, erfrischender als alles, was du je getrunken hast!“, sagte er aufmunternd. Jolan trank erst zögerlich und leerte dann den ganzen Becher. „Gut was?“, grinste der Zwerg und entblößte dabei überraschend kräftige und weiße Zähne, während er den Becher wieder füllte. „Frische Minze und ein wenig Waldhonig“, erklärte er, „sowie ein paar weitere Kräuter, die mein Geheimrezept sind.“

Jolan bemerkte, dass der sonderbare Mann im Gegensatz zu seinen Zähnen, irgendwie schmutzig wirkte. Schwarzer Dreck hatte sich tief in die Falten seines Gesichts gegraben. Auf seiner Stirn trug er eine seltsame Tätowierung: einen mit der Spitze nach links zeigenden Winkel und dicht daneben, einen aufrecht stehenden Pfeil.

Sein Stand war eigentlich nur ein mit Stricken zusammengebundenes Gerüst aus Holzstangen, über die ein sackleinenartiges großes Tuch drapiert war. Er selbst stand hinter einem Tresen aus einer groben Holzplatte, die über zwei Klappböcke gelegt war. Hinter ihm an dem Gerüst hingen verschiedene Schwerter und Dolche, Streitäxte und Schilde, aber auch Lanzen mit unterschiedlichen Spitzen. Dazu Bögen und Köcher mit Pfeilen sowie eine Armbrust. Jolan machte große Augen, das war ja eine richtige mittelalterliche Waffenkammer!

„Ich sehe, du interessierst dich für wahre Schmiedekunst“, sagte der Zwerg. Er nahm eins der Schwerter herunter und legte es auf den Tresen. „Teste es, junger Herr! Ein Schwert wie geschaffen für dich; eine Waffe, die eines wahrhaften Helden würdig ist!“, sprach er mit gewichtiger Miene.

„Ich …, ich darf wirklich?“, stotterte Jolan unsicher, während sich seine rechte Hand langsam um den lederumwickelten Griff schloss. Der Zwerg nickte bedächtig und musterte ihn dabei aufmerksam.

„Nur zu!“, sagte er.

Einen Schritt zurücktretend, zog Jolan das Schwert aus der Hülle und schwenkte es ein paarmal hin und her. Es war bestimmt einen Meter lang und hatte eine breite schimmernde Klinge, dennoch war es erstaunlich leicht. Und obwohl er es nur langsam bewegte, fühlte es sich so an, als würde er die Luft damit zerschneiden. „Das ist großartig …“, hauchte Jolan überwältigt, während er die Waffe vorsichtig auf den Tresen zurücklegte.

„Jaaa …“, kam es von dem Zwerg gedehnt, „… schau her, siehst du hier die Runen auf der Klinge?“, er nickte kurz, „nur wer die geheimen Runen kennt und ihre Magie anzuwenden versteht, kann eine echte Zwergenklinge schmieden; denn nur die Zwerge kennen die alten Geheimnisse der wahren Schmiedekunst … und ich Regin, bin der Letzte von ihnen!“ Und mit dieser imponierenden Rede reichte er Jolan die Hand. Sie war hart und schwielig, es war zu erahnen, dass diese Hand eine eiserne Kraft besaß.

„Ich heiße Jolan“, erwiderte er beeindruckt.

„Der Name eines Helden, fürwahr! Ein Name so klangvoll und selten, zeichnet schon seit allen Zeiten das Heldengeschlecht unter den Menschen aus“, fuhr Regin in seiner überschwänglichen Redensart fort.

Dass er seinen Namen gar nicht heldenhaft, sondern einfach nach dem Geschmack seiner Mutter und vor allem seiner Großmutter bekommen hatte, konnte und brauchte der Zwerg ja nicht zu wissen. Von der Tatsache, dass sein Vater sich bei seiner Namensfindung dezent zurückgehalten hatte, ganz zu schweigen.

„Hören Sie …“, begann Jolan nach einer kurzen Pause unangenehm berührt, „dieses Schwert ist einfach toll, aber ich kann es mir gewiss nicht leisten, tut mir leid …“

„Aber natürlich kannst du das nicht …“, entgegnete Regin, während er das herrliche Schwert wieder zurück an seinen Platz hängte, „so eine Waffe können sich nur wohlhabende Sammler leisten.“

Jolan sagte nichts. Regin hatte angefangen, ihn beunruhigend aufmerksam zu mustern. Er wurde das Gefühl nicht los, dass dieser seltsame Mann etwas Besonderes von ihm wollte.

„Ich werde dieses Schwert für dich zurücklegen, du wirst es schon bald brauchen …, denke ich“, meinte Regin dann geheimnisvoll.

Jolan zog fragend die Augenbrauen in die Höhe. „Warum sollte ich denn …“, fing er an, als der Zwerg ihn unterbrach: „Sag, wo willst du denn hin, mit all’ dem Gepäck?“, fragte er jäh.

„Zu meiner Oma, ich meine, ich verbringe einen Teil meiner Sommerferien bei ihr.“

„Deine Großmutter lebt hier im schönen Flecken Reiherberg,… stimmt’s?“, hakte Regin nach.

„Nicht direkt, sie lebt oben auf dem Berg …“, Jolan deutete mit der Hand auf den bewaldeten Berg, dem der Ort seinen Namen verdankte, „… in der Lebensgemeinde“, fügte er hinzu.

Die 'Lebensgemeinde Reiherberg' war eine alternative Landkommune, eigentlich ein in sich geschlossenes, kleines Dorf. Dort lebten Menschen, die einen naturnahen, gesunden und freiheitlichen Lebensstil verfolgten. Von den Bewohnern im Ort Reiherberg wurden sie im allgemeinen als 'Ökos' tituliert oder gern auch als etwas verrückte 'Späthippies' abgetan.

„Ah, ja … richtig, sehr gut …“, erwiderte Regin und ließ bedächtig einen seiner Bartzöpfe durch die schwieligen Finger gleiten, „… ich kenne diese Leute ein wenig“, sagte er dann, „ohne es zu wissen, folgen sie den alten Gesetzen eher als all’ die anderen Dummköpfe …“, er hielt einen Augenblick inne, „… aber viele von ihnen mögen meine Waffen nicht!“, schloss er abrupt.

„Wie lange bleibst du bei deiner Großmutter?“, nahm er dann die Befragung Jolans wieder auf.

„Na ja,… mindestens drei Wochen,… aber warum fragen Sie mich das alles?“, Jolan war diese Fragerei nicht ganz geheuer … wer weiß, dachte er, was dieser eigenartige Mensch eigentlich von ihm wollte.

„Entschuldige bitte …“, begann Regin mit beschwichtigender Miene, „… es liegt mir fern, dich zu verunsichern, du bist mir sehr sympathisch, Jolan … und ich möchte dir gerne ein Geschenk machen.“ Um seine Worte zu bekräftigen, legte er dabei seine Handflächen auf die breite Brust. „Nur eine Frage hätte ich noch …“, fuhr er fort, „… bist du alleine zu Besuch bei deiner Oma? Ich meine, kommen da noch andere Kinder … oder so?“, er lächelte jovial und zog fragend seinerseits die buschigen Augenbrauen hoch.

„Äh … ,nein …“, erwiderte Jolan zögernd, „… ich bin allein dort, nur der Freund,… also der Lebensgefährte meiner Großmutter ist auch da.“ Er schalt sich innerlich einen naiven Idioten, warum beantwortete er weiterhin so arglos einem wildfremden Menschen all diese Fragen? Zwerg und Wunderschmied hin oder her! „Hören Sie, ich weiß wirklich nicht …“, fing er daher abwehrend an, aber erneut wurde er von Regin unterbrochen: „Sei ohne Sorge, ich bin mir jetzt sicher, dass du der richtige Empfänger für mein Geschenk bist. Auf dich Jolan, habe ich gewartet.“

Währenddessen hatte der Zwerg eine kleine Truhe aus schwarzem Holz, nicht größer als eine Zigarrenkiste, vor sich auf den Tresen gestellt. Wie Jolan bei genauerer Betrachtung feststellte, war sie komplett mit sehr feinen eingeritzten Runen verziert. Es waren solche Zeichen, wie er sie eben noch auf der Schwertklinge gesehen hatte. Nur waren diese hier nicht so präzise angeordnet; seltsam schräg und ineinander überlaufend, als hätte ein Blinder sie eingeritzt, bedeckten sie das kleine Kästchen. Es schien auf jeden Fall sehr alt zu sein.

„Ja, es ist uralt …“, sagte Regin, als hätte er seine Gedanken gelesen, „und sein Inhalt ist noch viel älter.“

Er öffnete langsam den Deckel der hölzernen Schatulle und nahm vorsichtig einen, ebenfalls schwarzen, ledernen Beutel heraus. „Echte Drachenhaut …“, kommentierte der Zwerg mit ernster Miene. Aus diesem Beutel ließ er nun behutsam etwas in die geöffnete Kiste gleiten.

Jolan beugte sich vor und sah eine Art ovalen Kern, etwas größer als ein Mangokern. Dunkelbraun und von einer Struktur, die wie Gehirnwindungen aussah.

Ihre Köpfe berührten sich fast über dem Tresen und Regin begann mit gesenkter Stimme: „Was ich dir jetzt erzähle, solltest du geheim halten, denn es ist nur für dich bestimmt!“, und fuhr dann erklärend fort: „Dies ist der Samen einer Frucht der Weltenesche Yggdrasil, ihre Äste und Wurzeln halten die vergessenen Welten zusammen. Dieser Kern hier ist der wahrscheinlich einzige in der Menschenwelt noch vorhandene Keimling einer Frucht Yggdrasils.“

Er hielt inne und sah Jolan tief in die Augen. Der wusste zwar nicht mal ansatzweise, wovon der Zwerg da sprach, aber eine kribbelnde Spannung hatte ihn jäh erfasst. Er liebte Fantasygeschichten über alles und was ihm der Zwerg da erzählte, hörte sich nach einer echten Fantasygeschichte an! Jolan schluckte laut. „Und was soll ich damit machen?“, fragte er ein wenig heiser.

„Mit diesem Geschenk ist eine Aufgabe verbunden …“, Regins blassgraue Augen bannten förmlich Jolans Blick, „… du sollst aus diesen Samen einen Schössling Yggdrasils ziehen - hör zu! Wenn du genau den Anweisungen folgst …“, und mit diesen beschwörenden Worten legte er Jolan seine kräftige linke Hand auf die Schulter, „… wirst du schon bald ein Wunder ernten!“, schloss er dann langsam nickend.

„Wa-was …, was für eine Art Wunder soll das denn sein?“, stammelte Jolan irritiert.

Regins Augen weiteten sich und blickten ihn noch eindringlicher an, als er antwortete: „Die Weltenesche Yggdrasil steht für die Urkraft der Natur, für die erste Schöpfung Wodans: 'Den Ewigen Wäldern'. Besondere, heilende Kräfte besaßen diese Wälder. Mensch und Natur waren durch ihre mystische Macht untrennbar miteinander verbunden. Du Jolan, könntest der Auserwählte sein, um diese heilende Urkraft wieder zurück nach Midgard zu holen, hierher … in die Welt der Menschen und somit vielleicht die anhaltende Klima- und Umweltzerstörung aufhalten.“ Der Blick des Zwerges hielt Jolan jetzt nahezu fest und die Geräusche des Marktes um ihn herum klangen plötzlich dumpf und weit weg, während Regins Stimme ihn laut durchdrang: „Pflanze den Samen, Jolan … und du wirst wahre Wunder bewirken können!“ Jolan wurde schwindelig, die Worte hallten in seinem Kopf wie ein Echo nach und ihm schien der Boden unter den Füßen zu schwanken. Völlige Stille umgab ihn und seine Blicke blieben verwirrt an der eigenartigen Tätowierung auf Regins Stirn haften. Nach einigen Augenblicken die so verstrichen, riss Jolan seinen Blick von der Zeichnung, schüttelte den Kopf und mit einem Schlag kamen die Geräusche des Markttrubels zurück. Irgendwas muss doch in diesem Getränk gewesen sein, kam ihm plötzlich in den Sinn. Er schluckte ein paarmal. „Äh …, eine tolle Geschichte,… echt“, begann er etwas krächzend, räusperte sich und fuhr dann mit festerer Stimme fort: „… Aber Sie wissen selbst, dass es so etwas nicht geben kann, so toll es auch wäre … ich meine, wenn es so etwas tatsächlich geben würde,… die Umweltzerstörung, den Klimawandel aufzuhalten mit dieser,… dieser heilenden Macht der 'Ewigen Wälder'.“

Regin steckte den Samen achtsam wieder in den Beutel, legte diesen zurück in das Kästchen und schloss sorgfältig dessen Deckel. Dann sah er Jolan etwas traurig an. „Schade …, schade dass du es so siehst“, sagte er resigniert, „ich hatte gehofft und eigentlich glaube ich es noch immer, dass du der richtige Empfänger für das Geschenk Wodans bist.“

Nun taten Jolan seine eigenen Worte leid. „Entschuldigen Sie …“, hob er daher an, „… ich wollte Sie nicht kränken, aber,… aber im Ernst, die ganze Geschichte klingt einfach zu fantastisch, um wahr zu sein und …“

„Und deshalb hältst du es lieber für Blödsinn, richtig?“, unterbrach Regin ihn. Jolan nickte betrübt. „Ja,… nein, so nun wieder auch nicht“, begann er zögernd, „… aber es hört sich schon recht märchenhaft an,… oder?“

Der Zwerg lächelte ihn vorsichtig an. „Was schadet es dir, einfach an ein Märchen zu glauben, du hast doch nichts zu verlieren, entweder du erntest das von mir versprochene Wunder oder eben nicht, dann kannst du mich immer noch als einen alten Spinner abtun.“

Da war allerdings was dran, dachte Jolan, überlegte noch ein wenig und sagte dann bestimmt: „Okay!… ich habe wirklich nichts zu verlieren, ich …“, er richtete sich etwas auf und nahm eine gespielt würdevolle Haltung an, „… ich bin bereit, das Geschenk Wodans anzunehmen!“, endete er mit feierlicher Miene.

Der Zwerg sah ihn lange und prüfend an. „Das ist gut …“, erwiderte er dann, nickte und schob Jolan die geheimnisvolle Schatulle entgegen, „… es obliegt jetzt deiner Verantwortung, das Erbe Yggdrasils zu erwecken … und nun zu den Anweisungen.“

Mit dem Jolan nun bereits bekannten überschwänglichen Gehabe, überreichte er ihm einen profanen Umschlag. Darin befände sich, erklärte er weiter, die Übersetzung einer lange verschollenen Runentafel. Diese beinhalte die genaue Beschreibung, wie man den Keimling der Weltenesche zum Leben erwecken könne.

„Denke daran Jolan …“, begann Regin erneut, „… ich vertraue dir, befolge genau die Anweisungen und erzähle keinem davon. Es ist bestimmt der letzte in dieser Welt existierende Samen Yggdrasils,… in ihm ist die ganze Macht der Ewigen Wälder gebunden!“, er hielt kurz inne, „… darum bitte ich dich, enttäusche mich nicht!“, beschwor er nochmals eindringlich.

Der Zwerg hatte jetzt beide Hände auf seine Schultern gelegt und drückte sie schmerzhaft fest. Wieder bemerkte Jolan, welch beängstigend stählerne Kraft diesen Händen innewohnte.

„Ja, d-das werde ich ganz sicher tun …“, stotterte er, „… und vielen Dank dafür“, fügte er noch hinzu, als er die kleine Truhe samt dem Umschlag an sich nahm und Regin ihn endlich losließ.

Jolan taumelte ein paar Schritte zurück und nun war ihm wirklich, als trete er aus einem Bannkreis.

„Jetzt geh!“, sagte Regin plötzlich fast abweisend, „… deine Großmutter erwartet dich bereits.“

Jolan sah erschrocken auf sein Handy. Verdammt, das stimmte sogar! Die Stunde war fast genau vorbei, er hatte die Zeit und wie er zugeben musste, auch alles andere um sich herum, vergessen.

Er wandte sich ohne ein weiteres Wort ab und rannte schwerfällig mit seinem Rucksack auf den Schultern sowie dem Kästchen in den Händen auf den Ausgang des Marktes zu.

Der Einäugige erwacht

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